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       # taz.de -- Verdi-Chef Frank Bsirske über Amazon: „Wir erleben einen Kulturkampf“
       
       > Trotz des Protests von Amazon-Beschäftigten will Springer
       > Unternehmenschef Bezos auszeichnen. Verdi wirft ihm vor, Arbeit in
       > Deutschland amerikanisieren zu wollen.
       
   IMG Bild: Bei Amazon muss immer alles schnell gehen – selbst die Belegschaft soll laufen, nicht stehen
       
       Der Axel-Springer-Verlag will an diesem Dienstagabend Amazon-Chef Jeff
       Bezos für sein „visionäres Unternehmertum“ auszeichnen. Bei den
       Beschäftigten des Onlineversandhändlers stößt das allerdings auf wenig
       Begeisterung. Ob in Leipzig, Werne, Bad Hersfeld oder Rheinberg: An
       mehreren deutschen Amazon-Standorten sind sie deshalb in dieser Woche in
       den Streik getreten. Mal wieder. Auch vor dem Springer-Verlagshaus in
       Berlin werden am Abend mehrere hundert Amazon-Mitarbeiter zum Protest gegen
       die Verleihung des „Axel Springer Awards“ an Multimilliardär Bezos
       erwartet. Im taz-Interview begründet der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske,
       warum der Arbeitskampf bei Amazon so langwierig ist, was ihn von anderen
       unterscheidet – und warum er für die Gewerkschaft von zentraler Bedeutung
       ist. 
       
       taz: Herr Bsirske, seit fünf Jahren versucht Verdi, Amazon mittels
       temporärer Streiks und Protestaktionen zum Abschluss eines Tarifvertrags zu
       zwingen. Bislang ohne Erfolg. Inzwischen fordern Sie auch noch einen
       Gesundheitstarifvertrag. Welchen Sinn macht das? 
       
       Frank Bsirske: Es stimmt, dass wir den Gegenstand der Auseinandersetzung
       ausgeweitet haben. Wir fordern jetzt auch einen Gesundheitstarifvertrag mit
       Regelungen zu Erholungs- und Pausenzeiten und eine paritätische Kommission,
       die bestimmte Fragen der Arbeitsbelastung beeinflussen kann. Wie wichtig
       ein Gesundheitstarifvertrag für viele Amazonbeschäftigte angesichts der
       enormen Arbeitsbelastung ist, lässt sich schon an der Krankheitsquote
       ablesen. Die offiziellen Zahlen von 20 Prozent sind zwar mittlerweile
       gesenkt worden, das aber vor allem, weil die Langzeiterkrankten nun nicht
       mehr mitgezählt werden. Parallel dazu wurde der Druck auf die Kranken
       massiv erhöht.
       
       Trotz der von Ihnen erwähnten Bereinigung liegt der Krankenstand bei Amazon
       weit über dem bundesweiten Durchschnitt. Wie erklären Sie sich das? 
       
       Die Arbeitsbelastung ist sehr, sehr hoch. Amazon arbeitet mit
       Inaktivitätsprotokollen. Die Beschäftigten sind alle über Scanner vernetzt,
       komplett transparent. Der Arbeitsprozess wird in Echtzeit abgebildet. Und
       die Belegschaft soll laufen, nicht stehen. Auf einer Betriebsversammlung in
       Leipzig kam kürzlich ein Kollege auf mich zu und zeigte mir eine Abmahnung,
       die er bekommen hat – wegen, so wörtlich, „zweimaliger Inaktivität
       innerhalb von fünf Minuten“. Wir sind damit vors Arbeitsgericht gegangen,
       und das hat das Ding kassiert. Eine Abmahnung, also eine
       Kündigungsandrohung im Wiederholungsfall, wegen zweimaliger Inaktivität
       innerhalb von fünf Minuten! Das spricht Bände.
       
       Bisher haben Sie es bei Ihrem Arbeitskampf nicht mal geschafft, Amazon auch
       nur zur Aufnahme von Gesprächen zu bewegen. Haben Sie Ihren Gegner
       unterschätzt? 
       
       Nein, definitiv nicht. Sie haben ja in einem [1][Hintergrundartikel in der
       taz] Amazon „manchesterkapitalistischen Dogmatismus“ bescheinigt. Das
       trifft die Sache ganz gut. Wir haben es mit einem Konzern zu tun, der auf
       dem Wege zu einem globalen Monopol ist. Dabei verlangt die Konzernspitze
       aus Seattle kategorisch von ihren europäischen Filialen die Orientierung
       auf die Amerikanisierung der Arbeitsbeziehungen. Das heißt: Gewerkschaften?
       No. Kollektive Vertragsstrukturen? No. Der Arbeitgeber will einseitig die
       Entlohnungsbedingungen und die Arbeitsbedingungen festlegen. Was sich da
       abspielt, ist eine Kampfansage an die kollektiven Arbeitsbeziehungen, wie
       sie sich unter sozialpartnerschaftlichen Vorzeichen in der Bundesrepublik
       herausgebildet haben. Wir erleben einen Kulturkampf um die Frage, wie
       eigentlich die künftige Arbeitswelt gestaltet werden soll. Insofern handelt
       es sich um eine grundsätzliche Auseinandersetzung, die in ihrer Bedeutung
       weit über Amazon hinausreicht und gewiss nicht unterschätzt werden darf.
       
       Das erklärt zwar die Notwendigkeit des Arbeitskampfes. Aber es reicht
       nicht, berechtigte Ansprüche zu haben, um sie auch durchsetzen zu können. 
       
       Dass es sich hier nicht um eine Auseinandersetzung handelt, die mal eben
       schnell gewonnen werden kann, sondern um einen harten und lang anhaltenden
       Konflikt, war uns von Anfang an bewusst. Wir haben es hier mit einem
       Konzern zu tun, der seine Läger bevorzugt in strukturschwachen Regionen mit
       überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit ansiedelt und systematisch von
       der Möglichkeit Gebrauch macht, Arbeitsverträge zeitlich zu befristen.
       Amazon ist gerade dabei, den Anteil der befristet Beschäftigten auf 40
       Prozent hochzuschrauben. Dass das kein einfaches Umfeld für
       gewerkschaftliche Organisierung ist, ist doch keine Frage. Als wir
       anfingen, hatten wir in einem einzigen Lager Gewerkschaftsmitglieder.
       Inzwischen sind wir in den großen Lagern durchgängig bei knapp 40 Prozent
       Organisationsgrad, in einem sogar bei 60 Prozent und fast überall gibt es
       gewählte Betriebsräte.
       
       Gibt es denn Anzeichen dafür, dass Verdi dadurch dem selbstgesteckten Ziel,
       tarifvertraglich geschützte Einkommens- und Arbeitsbedingungen bei Amazon
       durchzusetzen, nähergekommen ist? 
       
       Wer nur auf darauf schaut, dass Amazon immer noch nicht bereit ist,
       Tarifverhandlungen aufzunehmen, springt zu kurz. Als die ersten Streiks
       stattfanden, hatte es bei Amazon vier Jahre lang keine Lohnerhöhung
       gegeben. Dass es sie dann gab, war ein Reflex der Unternehmensführung auf
       die beginnende Auseinandersetzung. Als wir mit Streiks begannen, gab es
       kein Weihnachtsgeld. Das gibt es inzwischen – auch wenn es immer noch auf
       nur einem Drittel des Niveaus des Einzelhandelstarifvertrags liegt. Aber da
       können wir uns sicher sein: Ohne die Bereitschaft der Beschäftigten, sich
       für die eigenen Interessen einzusetzen, hätte es diese Zugeständnisse nicht
       gegeben. Der Arbeitskampf ist alles andere als wirkungslos.
       
       Der Konzern bestreitet diesen Zusammenhang. 
       
       Das ändert nichts daran, dass es genauso ist. Ich will noch einen zweiten
       Punkt nennen, wo unser Arbeitskampf Wirkung zeigt: Man darf nämlich unter
       keinen Umständen unterschätzen, dass im Zuge dieser Streiks das
       Selbstbewusstsein der Belegschaft enorm gewachsen ist. Die Aktiven arbeiten
       zum Teil mit Verdi-Westen im Betrieb und haben den Mut, zu sagen: Ich bin
       Gewerkschaftsmitglied. Das Selbstbewusstsein, nicht alles mit sich machen
       zu lassen und das dabei gewonnene Selbstwertgefühl sind enorm wichtig.
       
       Aber so richtig weh scheint das dem Konzern nicht zu tun, oder? 
       
       Wir sind mittlerweile in einigen Lägern zu Rein-Raus-Streiks in der Lage.
       Das gehört mit zum Anspruchsvollsten, was es überhaupt gibt: aus dem
       laufenden Arbeitsprozess in den Streik zu gehen, dann wieder rein und am
       selben Tag drei Stunden später wieder raus. Und wir sind dabei, diese
       Fähigkeit auf noch mehr Lager zu übertragen. Das ist eine extrem wirksame
       Form des Streiks.
       
       Gleichzeitig scheint aber die Anzahl der Logistikzentren, in denen die
       Beschäftigten zum Streik bereit sind, abgenommen zu haben. In manchen
       Logistikzentren wurde bis heute noch an keinem einzigen Tag gestreikt. 
       
       Amazon gründet ja auch immer wieder neue, zum Beispiel Winsen an der Luhe.
       
       Das Logistikzentrum im brandenburgischen Brieselang gibt es schon länger,
       trotzdem wurde es noch nie bestreikt. 
       
       In Brieselang gibt es zwei große Läger, eins gehört zu Amazon, das andere
       zu Zalando. In beiden haben wir es geschafft, mit den Beschäftigten
       Betriebsräte zu gründen. Bei Zalando hat es erste Arbeitsniederlegungen
       gegeben. Amazon in Brieselang liegt nebenan. Der Aufbau von
       betriebsrätlichen Strukturen sollte in jedem Fall nicht als unbedeutend
       abgetan werden. Auch das ist ein Ausdruck des gewachsenen
       Selbstbewusstseins der Beschäftigten.
       
       Klingt nach Zweckoptimismus. 
       
       Überhaupt nicht. Wir lassen uns das bislang Erreichte nur nicht kleinreden.
       Natürlich müssen wir weiter daran arbeiten, unsere Handlungsfähigkeit zu
       verbreitern und den Organisationsgrad zu erhöhen. Und natürlich müssen wir
       in noch mehr Lägern zu Rein-Raus-Taktiken fähig werden. Das ist eine harte
       Arbeit, gerade weil wir es mit einem potenten und überhaupt nicht zu
       unterschätzenden Gegenüber zu tun haben. Aber wir haben einen langen Atem.
       Und wir haben Kolleginnen und Kollegen in den verschiedensten europäischen
       Standorten und den USA, die sich miteinander vernetzen.
       
       24 Apr 2018
       
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