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       # taz.de -- Özdemir-Rede zu Deniz Yücel: Eine Lektion im Deutschsein
       
       > Die AfD hat versucht, den Bundestag über Nationalismus diskutieren zu
       > lassen. Der Grüne Cem Özdemir schlug sie dabei auf ihrem eigenen Gebiet.
       
   IMG Bild: „Sie verachten dieses Land“: Cem Özdemir wettert gegen die AfD
       
       Eigentlich war die Partie bereits verloren, bevor sie begonnen hatte. Die
       AfD-Fraktion im Bundestag hatte einen Antrag eingebracht. Das Parlament
       sollte von der Bundesregierung verlangen, zwei Texte des gerade aus
       türkischer Haft freigekommenen Journalisten Deniz Yücel zu „missbilligen“ –
       zwei alte Kolumnen aus der taz, in denen Yücel unter anderem [1][das
       Aussterben des deutschen Volkes begrüßt]. In einer Polemik. Muss man wohl
       dazusagen.
       
       Es wäre beinahe gleichgültig, was in der Bundestagsdebatte am
       Donnerstagabend dazu gesagt worden ist: Dass eine rechtspopulistische
       Partei den Deutschen Bundestag mit parlamentarischen Mitteln dazu zwingen
       kann, über Zeitungstexte zu urteilen, ist ein Erfolg für die AfD.
       
       Und doch hat das „Hohe Haus“ es geschafft, das Spiel in letzter Minute
       herumzureißen. Entscheidend dabei ist aber nicht, [2][dass der Antrag mit
       552 zu 77 Stimmen abgeschmettert wurde]. Entscheidend war die Rede des
       Grünen-Abgeordneten Cem Özdemir, der sich auf das Terrain der
       rechtspopulistischen Partei wagte und eine Antwort auf die Frage anbot, die
       eigentlich die Rechten gerne stellen: Was ist Deutschsein?
       
       Denn in der Debatte am Donnerstagabend ging es nie wirklich um
       Pressefreiheit oder Zensur, sondern es war Folge
       dreitausendsiebenhundertundvier einer laufenden Identitätsdebatte zwischen
       links, Mitte und rechts. Es ging der AfD darum, ihren Nationalismus im
       Parlament auszubreiten. Auf ein medial präsentes Thema aufzuspringen und
       dieses in ihrem Sinne zu drehen: Deutschland-Hass von einem Deutschtürken
       versus völkisch-romantische Vaterlandsliebe. AfD-Fraktionschefin Alice
       Weidel hatte so auch gleich nach Yücels Freilassung vor einer Woche die
       Chance ergriffen zu behaupten, Yücel sei „kein Deutscher“. Um damit wieder
       ein AfD-Thema zu platzieren: die doppelte Staatsbürgerschaft.
       
       ## Cem Özdemir hat vor allem gewettert
       
       Eine Situation, in der man als Abgeordnete oder Abgeordneter in der Klemme
       sitzt: Ignorieren kann man den Antrag einer Fraktion nicht, der Bundestag
       muss qua Geschäftsordnung solche Anträge auf die Tagesordnung setzen und
       beraten.
       
       Man hätte sich nun entscheiden können, vor allem das fragwürdige
       Verständnis von Presse- und Meinungsfreiheit der AfD-Abgeordneten
       herauszustreichen. Die meisten RednerInnen taten auch genau das, der Grüne
       Özdemir hingegen probierte etwas Anderes: Er ließ sich auf das Thema
       „Deutschsein“ ein.
       
       Man muss voranstellen, dass das kein sachlich-theoretischer Vortrag war.
       Özdemir hat gewettert. Er hat der AfD autoritäre Fantasien unterstellt, sie
       allesamt Rassisten genannt, sie als Handlanger Erdogans und Russlands
       dargestellt, und viel, viel geschrien.
       
       Aber Özdemir hat noch etwas anderes getan. Er hat einen Gegenentwurf zur
       nationalistischen Vorstellung von „Deutschsein“ beworben. „Wie kann jemand,
       der unsere gemeinsame Heimat so verachtet wie Sie, bestimmen, wer Deutscher
       ist?“, sagte Özdemir, an die AfD-Abgeordneten gerichtet.
       
       Da ist es. Heimat. Dieser Begriff, der seit einiger Zeit im Raum steht und
       von dem alle wissen, woher er kommt. Von dem klar ist, dass er ein
       rechtspopulistisches Diskursangebot ist, bei dem nicht alle zugreifen
       mögen. Weil er völkisch besetzt und unheilbar verkitscht ist. Den man aber
       nicht wieder loswird.
       
       ## Ein gewöhnungsbedürftiges Gefühl
       
       Cem Özdemir hat den Begriff am Donnerstagabend mit republikanischen Ideen
       aufgeladen. „Sie verachten dieses Land für alles, für das es respektiert
       wird“, so Özdemir an die AfD. Und listet auf: Erinnerungskultur, Vielfalt –
       und „die Nationalmannschaft“. Und schließlich endet der türkischdeutsche
       Abgeordnete seinen Beitrag mit seiner eigenen „Heimat“: Bad Urach, in
       Schwaben, ganz am Ende der Stuttgarter S-Bahn.
       
       Und so sprach Özdemir auch nie von dem „Stolz, Deutscher zu sein“, sondern
       von dem „Stolz, Bürger dieses Landes zu sein“. Ein Bürger, eine Bürgerin zu
       sein, das ist kein Blut- und auch kein Bodenrecht – es ist die
       republikanische Idee von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, weil man sich
       mit ihren Regeln identifiziert. Etwas, das die AfD-Abgeordneten laut
       Özdemir nicht tun.
       
       Kann das funktionieren? Heimat, Deutschsein, diese Begriffe nicht zu
       ignorieren, sondern sie rhetorisch so zu wenden, dass sie antirassistisch
       werden – und sie so den Rechten zu entziehen? Eins ist klar: Die
       Özdemir-Rede war mitreißend, manch ein Linker wird, so wie der Autor dieses
       Textes, für eine Millisekunde stolz gewesen sein, Bürger dieses Landes zu
       sein. Zugegeben, das Gefühl ist gewöhnungsbedürftig.
       
       23 Feb 2018
       
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