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       # taz.de -- Wiederentdeckung eines irischen Autors: Streit unter Toten
       
       > Bei Máirtín Ó Cadhain sind die Toten genauso gehässig, wie zu Lebzeiten.
       > Beim „Grabgeflüster“ geht es dem Autor um die Sprache.
       
   IMG Bild: Der Autor Máirtín Ó Cadhain hat dem unterirdischen Geschwätz auf dem Friedhof zugehört
       
       Mein Schwiegervater John Lyons hatte mir von ihm schon Ende der siebziger
       Jahre erzählt: Keiner schreibe so gute Geschichten auf Irisch wie Máirtín Ó
       Cadhain, mit Ausnahme von Flann O’Brien vielleicht. Beide haben einen
       ähnlichen Humor, hatte er gesagt. Ich fragte ihn, woher er ihn kenne.
       „Erstens stammen wir beide aus der Grafschaft Galway“, antwortete er, „und
       zweitens saßen wir beide im Gefängnis.“
       
       Mein Schwiegervater war verurteilt worden, weil er 1940 mit anderen
       Mitgliedern der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) den größten Waffen- und
       Munitionsraub der irischen Geschichte begangen hatte. Ó Cadhain hatte man
       während des Zweiten Weltkriegs wegen IRA-Mitgliedschaft vorsichtshalber
       interniert, denn die Republik Irland war neutral, und man wollte
       verhindern, dass die IRA die Situation ausnutzte und eine Offensive gegen
       England startete.
       
       Leider war Ó Cadhain bereits 1970 verstorben, so dass ich ihn nicht mehr
       kennenlernte. Ich konnte damals nicht nachprüfen, ob er tatsächlich ein
       solch großartiger Schriftsteller war, wie John behauptete, denn seine
       Bücher gab es weder in englischer und schon gar nicht in deutscher
       Übersetzung.
       
       Dieses Versäumnis ist endlich behoben, auf Englisch liegen sogar zwei
       Übersetzungen vor. Die deutsche Übersetzung hat Gabriele Haefs besorgt, und
       das ist gut so: Sie musste nämlich nicht den Umweg über das Englische
       nehmen, sondern konnte direkt aus dem Irischen übersetzen.
       
       Mein Schwiegervater hatte recht. Der erste Satz von Máirtín Ó Cadhain
       kurzem Roman lässt bereits erahnen, dass „Der Schlüssel“ eins der
       lustigsten Bücher ist, die in letzter Zeit erschienen sind: „J. war
       Papierbeauftragter.“
       
       ## Gefangen im Büro
       
       Es ist mehr als eine absurde Komödie, es ist im Grunde ein politisches
       Buch, denn es macht kleingeistige Politiker und Bürokraten lächerlich – vor
       allem die im öffentlichen Dienst. Wir erfahren J.s Namen nicht, er bleibt
       ein Initial, aber wir kennen seine Funktion, nämlich die
       „verantwortungsvollste und schwierigste im gesamten öffentlichen Dienst“.
       Denn der öffentliche Dienst ist Papier, weiß J., und das ist sein Metier.
       Als sein Boss zwei Wochen Urlaub auf der Isle of Man macht, wird J.
       vorübergehend zum Chef.
       
       Er schließt sein Büro stets von innen ab, doch dann bricht ihm der
       Schlüssel in der Bürotür ab. Es ist kein gewöhnlicher Schlüssel, sondern
       ein Schlüssel des öffentlichen Dienstes. Die Tür ist auch eine Tür des
       öffentlichen Dienstes und darf nicht beschädigt werden. So ist er in seinem
       Büro gefangen. Die Nachricht von seinem Dilemma verbreitet sich zwar, aber
       es kommt ihm niemand zu Hilfe, denn es gibt keinen Präzedenzfall. Politiker
       erscheinen vor seiner Tür und nutzen die Lage aus, um sich gegenseitig die
       Schuld an J.s Lage zu geben. Ó Cadhain entfacht ein sprachliches Feuerwerk
       bis zum tragischen Finale.
       
       Haefs hat auch das Hauptwerk von Ó Cadhain übersetzt: „Grabgeflüster“ ist
       fast noch absurder als „Der Schlüssel“. Es gibt keine Handlung, denn
       sämtliche Protagonisten sind tot. Deshalb spielt sich alles unter der
       Friedhofserde ab, wo die Toten unaufhörlich plappern. Dabei geht es
       keinesfalls gesittet oder gar philosophisch zu. Die Toten sind genauso
       gehässig, wie sie es zu Lebzeiten waren.
       
       ## Unterirdische Streitereien
       
       Sie fluchen recht derb, so dass Ó Cadhains Manuskript 1948 von einem
       Verleger als zu „joyceanisch“ abgelehnt worden war. Seitdem wird Ó Cadhain
       oft mit Joyce verglichen, und das zu Recht, denn auch beim „Grabgeflüster“
       steht die Sprache im Mittelpunkt.
       
       Es geht aber nicht nur um unterirdische Streitereien, sondern Ó Cadhain
       lässt auch Weltliches einfließen, zum Beispiel die Auswanderung, die in
       Irland schon immer eine große Rolle spielte. Ó Cadhain, 1906 in Spiddal im
       Westen Irlands in einer irischsprachigen Gegend geboren, greift dabei auf
       seine Erfahrungen mit der bitteren Armut in seiner Heimatgemeinde zurück.
       
       Ó Cadhain arbeitete ursprünglich als Lehrer, wurde jedoch 1936 wegen seiner
       IRA-Mitgliedschaft entlassen. Im April 1940 wurde er dann fast bis zum
       Kriegsende im Curragh-Militärlager westlich von Dublin eingesperrt, mein
       Schwiegervater musste noch bis 1948 auf seine Entlassung warten. „Er
       beschäftigte sich im Lager intensiv mit Sprachen und zeitgenössischer
       europäischer Literatur“, erzählte John. „Das war die Grundlage dafür, dass
       er zum wichtigsten irischsprachigen Schriftsteller der 20. Jahrhunderts
       wurde.“
       
       2 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Sotscheck
       
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