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       # taz.de -- Homepage gegen Fakenews: Raus aus der Echokammer
       
       > Die Plattform teyit.org sucht in sozialen Medien nach Fakenews, um sie zu
       > enttarnen. Ein Gespräch mit den Machern der Seite
       
   IMG Bild: Das Team der türkischen Seite teyit.org versucht, den Durchblick im Netz zu erhalten
       
       Tuba Çameli: Postfaktisch bzw. post-truth wurde 2016 vom Oxford
       Dictionaryzum Wort des Jahres gekürt. Im selben Jahr wurde in der Türkei
       teyit.org gegründet, eine Plattform, die Fakenews im Netz aufdeckt. Wie
       entstand die Idee für eine solche Website?
       
       Mehmet Atakan Foça: Was uns bei der Gründung von teyit.org triggerte, waren
       die einander jagenden Krisen im Jahr 2015 in der Türkei. Es war die Zeit
       der Anschläge, Explosionen und Massaker. Unschuldige Menschen gerieten ins
       Visier, Fakenews verbreiteten sich rasant. Da die Leute sich von den
       Mainstreammedien nicht richtig informiert fühlen, wenden sie sich sozialen
       Medien zu. Dort aber richtige Informationen zu bekommen, ist sehr schwer.
       Gerade in Zeiten wie diesen, werden dort emotional motivierte Inhalte
       geteilt, ohne sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
       
       Können Sie ein Beispiel nennen? 
       
       Ich erinnere mich beispielsweise an folgenden Vorfall: Nach der Explosion
       am 13. März 2016 im Güvenpark geisterte ein Foto durchs Internet. Die Frau,
       die auf dem Foto zu sehen war, sollte eine Selbstmordattentäterin sein, die
       jemand an einer Bushaltestelle mit einer Bombe gesehen haben wollte. Die
       fotografierte Frau meldete sich bei der Polizei und erstattete Anzeige
       wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte. Sie sei Lehrerin und keine
       Selbstmordattentäterin. Doch die Polizei machte ein Foto ihr, stellte es
       ins Netz und versah es mit dem Kommentar: „Selbstmordattentäterin gefasst.
       Sie befindet sich jetzt auf der Wache in Etlik“. Das war der Anlass für
       mich, etwas zu tun. Anfangs waren wir zu viert. Mittlerweile sind wir 10
       Leute. Wir arbeiten anders als normale Medien. Wir wollen ein Bewusstsein
       dafür schaffen, echte Nachrichten einzufordern.
       
       Gibt es Fakenews bei der Sie denken, dass die nun wirklich niemand glauben
       kann? 
       
       Wir haben seit geraumer Zeit aufgehört, „unmöglich“ zu sagen. Mir fällt
       sofort die Meldung aus dem vergangenen Jahr ein: „Am 23. Dezember wird ein
       Virus die Welt vernichten“ ein. Den Quatsch hat quasi jeder im Netz
       geteilt. Schlimmer aber sind die gegen SyrerInnen gerichteten Meldungen:
       Sie stünden Schlange, um die türkische Staatsangehörigkeit zu bekommen,
       erhielten staatliche Leistungen oder könnten ohne jede Vorbedingung
       studieren. Wir erfuhren, dass ein Mann Internetseiten eingerichtet hatte,
       um bewusst falsche Nachrichten zu generieren: Halk Medya und Halk Arena.
       Auf diesen Seiten sind die gleichen Meldungen wie auf anderen
       Nachrichtenportalen. Dazwischen aber sind bewusst falsche Nachrichten
       gesetzt. Diese Seiten sind durch Werbung finanziert. Es geht also auch um
       ökonomischen Profit. Dieselbe Person betreibt auch die Seite
       nytimes.com.tr. Das ist leicht als „New York Times Türkei“ zu lesen.
       Angemeldet wurde diese Seite aber als Nergiz Yüksel Times.
       
       Soziale Medien verbreiten noch während der laufenden Verifizierung
       Meldungen. Wenn sich herausstellt, dass sie falsch sind, werden sie
       gelöscht. Was halten Sie davon? 
       
       Dafür haben wir ein Instrument entwickelt. Eine verdächtige Information auf
       einer Netzseite kommt bei uns ins Archiv, bevor sie gelöscht wird. Selbst
       wenn die Seite gelöscht wird, bleibt sie in unserem Datenspeicher. Digitale
       Medien haben allerdings ein Speicherproblem. Derzeit sind etwa einige
       Meldungen der Zeitungen Taraf und Zaman von vor zehn Jahren nicht mehr
       zugänglich. Auch die Informationen von verbotenen Nachrichtenplattformen
       sind nicht erreichbar. Auch für dieses Problem sind Internetarchive ein
       gutes Instrument. Beispielsweise gibt es das Web Archive Tool einer
       kanadischen NGO. Unter dem Namen teyit.link verfügen auch wir über ein
       solches Instrument.
       
       Wie genau arbeitet teyit.org? 
       
       Gülin Çavuş: Unsere User melden etwas, per WhatsApp, Facebook, Twitter oder
       Mail. Der Redakteur für soziale Medien leitet das dann an die Redakteure
       weiter. Wir haben ein Programm, das unsere Abläufe organisiert, Dubito.
       Damit untersuchen wir die betreffende Nachricht. Vor allem schauen wir nach
       der Quelle der Information. Finden wir etwas Verdächtiges, geht die
       Untersuchung in die Tiefe. Anschließend erstellen wir eine Analyse mit den
       nötigen Beweisen. Zwei Redakteure kontrollieren die Analyse, dann wird sie
       veröffentlicht.
       
       Atakan: Wir bemühen uns, täglich mindestens eine Analyse herauszugeben. In
       Krisen erhöht sich die Zahl, unser Arbeitstempo ändert sich. Darüber hinaus
       gehen die Informationen durch mindestens zwei, oft drei Verifizierungen,
       manchmal wird auch Verifizierung durch Experten nötig.
       
       Wie hat teyit.org sich seit seiner Gründung entwickelt? 
       
       Atakan: Innerhalb eines Jahres folgten uns 200.000 Leute auf Twitter. Auf
       Facebook haben wir rund 40.000 Abonnenten. Bisher haben wir fast 400
       Analysen veröffentlicht. Unsere Seite wird täglich durchschnittlich 20.000
       mal aufgerufen. Wir sind Teil eines [1][Netzwerks, zu dem rund 40 seriöse
       Medieneinrichtungen] gehören. Die Zahlen allein reichen natürlich nicht.
       Wir wollen Wirkung erzielen. Unsere Arbeit soll den Menschen nützen. Und
       wen wir etwas dazu beitragen können, dass die Vorurteile gegenüber den
       SyrerInnen nicht weiter eskalieren oder gar zurückgehen, dann haben wir
       etwas erreicht.
       
       Gülin: Größere Medienhäuser haben eigene Teams zur Verifizierung von
       Nachrichten. In der Türkei ist das nicht so. Hier wird aus wirtschaftlichen
       Gründen in erster Linie Wert darauf gelegt, Nachrichten zu verbreiten und
       nicht nicht die Wahrheit. Die Medienhäuser stehen unter Kontrolle der
       Medienbosse. Für uns hingegen ist die Kontrolle der User und Leser wichtig.
       Unsere Analysen sind stets offen für Rückmeldungen und Kritik.
       
       Ein Vorwurf an regierungskritische Nachrichtenportale lautet, ähnlich wie
       regierungsnahe Medien, falsche Nachrichten zu verbreiten, nur um der
       Gegenseite zu schaden. Was halten Sie davon? 
       
       Atakan: Auch in der Linken gibt es Menschen, denen nichts an wahren
       Meldungen und Realitäten liegt, die nicht offen für kritisches Denken sind.
       Wenn Parteilichkeit ins Spiel kommt, werden Vernunft und Verstand beiseite
       geschoben und emotional gehandelt.
       
       Gülin: Auf internationaler Ebene gibt es den „Hostile Media Effect“, die
       verzerrte Wahrnehmung durch den Rezipienten. In einem psychologischen
       Experiment in den USA wurde ein und dieselbe Nachricht Studenten mit dem
       Logo von zwei verschiedenen TV-Sendern vorgeführt, einmal von
       CNN-International, einmal von Al-Jazeera. In dem Video ging es um die
       Taliban. Bei Al-Jazeera gingen die Probanden davon aus, dass die Sprache
       parteiisch sei. Bei CNN dagegen glaubten sie an Neutralität. An genau
       diesem Punkt stehen wir, wenn es um die Beurteilung von Nachrichten und
       Informationen geht.
       
       Ist das nicht genau die Situation, die einen Nachbarschaftseffekt, eine
       Filterblase bzw. Echokammer schafft? 
       
       Atakan: Zuerst einmal müssen wir zugeben, dass wir uns in den sozialen
       Medien in einer Filterblase befinden, wenn es um Nachrichtenbeschaffung
       geht. Das ist nicht allein hinsichtlich der gesellschaftlichen
       Polarisierung eine willentliche Wahl. Auch die Technologie sorgt dafür. Die
       Google-Algorithmen tun das und Facebook. Sie bemühen sich auch mittels
       personalisierter Werbung, uns in eine Echokammer zu sperren, um zu wissen,
       wer wir sind und uns entsprechend zu behandeln. Man muss Ohren und Augen
       offenhalten, allerdings gibt es technologisch schwer überwindbare Mauern.
       
       Sind soziale Medien in der Türkei nach wie vor die populärste
       Informationsquelle? 
       
       Gülin: Nach einer aktuellen Reuters-Studie beziehen 78 Prozent der
       Gesellschaft ihre Nachrichten aus Online-Medien. Gleichzeitig führt nach
       dieser Studie die Türkei gemeinsam mit Griechenland die Liste der Länder
       an, in denen die meisten Leute aussagen, gar keine Nachrichten mehr
       konsumieren zu wollen. So paradox wie interessant.
       
       Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe 
       
       Das Interview ist eine gekürzte Version und erschien zuerst in der
       Februarausgabe der türkischen Zeitschrift [2][express]
       
       28 Feb 2018
       
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