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       # taz.de -- Opfer des Algerienkriegs in Frankreich: Auch Algerier werden entschädigt
       
       > Es ist nicht rechtens, dass nur französische zivile Opfer des
       > Algerienkriegs entschädigt werden. Das hat das oberste Gericht
       > entschieden.
       
   IMG Bild: Emmanuel Macron zu Besuch in Algerien im Dezember 2017, um die Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien zu kitten
       
       Paris taz | Französische und algerische Staatsangehörige haben jetzt
       dieselben Ansprüche beim Anrecht auf eine Entschädigung, wenn sie als
       Zivilisten Opfer bei Anschlägen und Kriegshandlungen während des
       Algerienkriegs wurden. Das hat Frankreichs höchste Instanz, der Conseil
       constitutionnel, aufgrund der Verfassungsklage eines in Bordeaux wohnhaften
       Algeriers entschieden. Die französische Justiz muss ihre Rechtspraxis bei
       der Entschädigung dieser Kriegsopfer ändern.
       
       Schätzungsweise 15.000 Personen, die heute die algerische
       Staatsbürgerschaft besitzen, könnten dank dieser späten Korrektur
       finanzielle Forderungen stellen. Algerische Medien möchten in diesem
       Entscheid vor allem die späte moralische Anerkennung einer alten Schuld der
       Exkolonialmacht sehen.
       
       Der Kläger Abdelkader K. war gerade acht Jahre alt, als er 1958 im
       algerischen Dorf Mascara bei Oran bei einem Attentat durch einen
       Bauchschuss verletzt wurde. Algerien war damals ein französisches
       Departement, der blutige Unabhängigkeitskrieg hatte gerade erst begonnen.
       Bis heute leidet K. unter den Folgen der Verletzung.
       
       Ein Gesetz von 1963 sah zwar eine Wiedergutmachung für zivile Opfer vor,
       die Ansprüche aber blieben französischen Staatsbürgerinnen und -bürgern
       vorbehalten. Damit konnte sich K. nicht abfinden. Mit seiner Anwältin
       Jennifer Cambla reichte er eine individuelle Verfassungsklage ein. Mit
       Erfolg: Die Klausel, die Entschädigungen nur für Französinnen und Franzosen
       reserviert, wurde nun gestrichen.
       
       Anwältin Cambla sagte, sie sei keineswegs überrascht, denn der Entscheid
       sei nur „logisch“. Die ursprüngliche Unterscheidung der
       Entschädigungsgesetze von 1963 für zivile Opfer in der Zeit von Oktober
       1954 bis September 1962 habe nämlich übersehen, dass vor der Unabhängigkeit
       alle Einwohner Algeriens französische Staatsangehörige waren. Das Urteil
       habe das „bloß korrigiert“, sagt Jennifer Cambla. Sie erhält nun täglich
       Anrufe von neuen Klienten „sowohl aus Frankreich wie aus Algerien“, die
       sich für Rentenansprüche auf die neue Rechtsprechung berufen wollen. Den
       meisten geht es nicht allein ums Geld (in vergleichbaren Fällen war von 150
       Euro pro Monat die Rede), als vielmehr um die Anerkennung als unschuldige
       Opfer des Kolonialkonflikts, ist Cambla überzeugt.
       
       ## Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit
       
       Als solche Opfer sind Zivilpersonen definiert, die bei Attentaten oder
       Kriegshandlungen beider Seiten in Mitleidenschaft gezogen wurden.
       Ausgeschlossen sind dabei alle, die in irgendeiner Form an der Organisation
       oder Ausführung dieser Aktionen beteiligt waren oder dazu aufgerufen
       hatten. Aus der Sicht der Historiker ist dieses Urteil des
       Verfassungsgerichts ein wichtiger Schritt in Frankreichs Aufarbeitung der
       kolonialen Vergangenheit.
       
       Über die finanzielle Tragweite des Gerichtsentscheids kann nur spekuliert
       werden. Der Algerienspezialist Benjamin Stora erklärte dazu in der
       Tageszeitung Le Monde: „Der Begriff des Opfers bleibt hier zu abstrakt.
       Nehmen Sie als Beispiel die zwei Millionen einheimischen Bauern, die von
       der französischen Armee (zwischen 1956 und 1961) zwangsumgesiedelt wurden.
       Sind sie als Opfer einzustufen?“
       
       In der Regel zieht die französische Staatsführung symbolische Gesten der
       Reue vor: Der frühere Präsident François Hollande hatte in Algier den
       Kolonialismus als „zutiefst ungerechtes und brutales System“ verurteilt.
       Sein Nachfolger Emmanuel Macron hatte die 130 Jahre dauernde Besetzung
       Algeriens als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet.
       
       Bezeichnenderweise betrifft die verfassungsrechtliche Korrektur nur die
       Periode des Unabhängigkeitskriegs. Das kritisiert etwa der algerische
       Journalist Kamel Beniaiche: „Die Kolonialisierung kann nicht auf ein paar
       Jahre verkürzt werden. Damit schafft die französische Justiz verschiedenen
       Kategorien von Opfern.“
       
       28 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Balmer
       
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