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       # taz.de -- Festival für Avantgardemusik: Neue musikalische Kleiderordnungen
       
       > Neue Musik oder aktuelle Musik oder doch lieber zeitgenössische Musik?
       > Gibt es alles bei MaerzMusik, dem am Freitag startenden „Festival für
       > Zeitfragen“.
       
   IMG Bild: Kennt Musik für den Club und kann auch konzertant: der Laptopmusik-Pionier Terre Thaemlitz
       
       Wenn in wenigen Tagen die aktuelle Ausgabe des Festivals MaerzMusik
       beginnt, stößt man wieder einmal in verschärfter Form auf die alte Frage
       mit der Neuen Musik: Wie soll man die Sache jetzt eigentlich nennen?
       
       Bei Musik klassifiziert man ansonsten ja oft nach Genre, wenn man etwas
       allgemeiner beschreiben möchte, was man so hört: „Das hier ist ein
       Weird-Folk-Album“, „Ich gehe heute in ein Konzert einer
       Post-Black-Metal-Band“, manchmal tun es auch so einfache Kategorien wie
       Blues oder HipHop.
       
       Bei Musik von noch lebenden Komponisten aus dem sogenannten ernsten Fach
       bekommt man hingegen ständig Probleme, ein Wort zu finden, das nicht
       abgegriffen, anmaßend oder ideologisch aufgeladen ist. Aber irgendwie muss
       man die Sache ja nennen. Klassik ist es eher nicht, Pop schon gar nicht.
       „Neue Musik“ nannte der Musikkritiker Paul Bekker im Jahr 1919 das, was ihm
       Komponisten wie Arnold Schönberg oder Gustav Mahler boten. Und damals war
       das eben vor allem: neu. Atonal hatte man zuvor nicht komponiert,
       Dissonanzen waren nur nach strengen Regeln erlaubt. Und dann das: unerhörte
       Stilvermischungen bei Mahler und die Emanzipation der Dissonanz bei
       Schönberg.
       
       So etwas gibt es aber, knapp hundert Jahre später, nun schon eine Weile.
       Ganz so neu ist das alles daher nicht mehr, auch die musikalischen
       Erfindungen, die folgen sollten, haben mehrheitlich ihren Status des noch
       nie Dagewesenen verloren. Wie nennt man bitte das, was in der Tradition der
       Moderne steht, auf ihr aufbaut, sie verwirft oder mit anderen Akzenten noch
       einmal wiederholt?
       
       ## Musik für Zeitgenossen
       
       „Zeitgenössische Musik“ ist noch so ein Begriff, der vor allem den Verweis
       auf die Gegenwart in sich trägt. Zeitgenossen sind eben die, mit denen man
       die eigene Zeit verbringt. Was aber auch ein bisschen eine ideologische
       Festlegung ist. Was ist mit denen, die sich für den Zauber der Tonsetzer
       ihrer Zeit nicht erwärmen können? Gehören die einfach nicht dazu? Sind das
       Ewiggestrige? Und wird da nicht eine Gemeinschaft postuliert, die es im
       Zweifel so gar nicht gibt?
       
       Bliebe noch die „aktuelle Musik“. Bei der ersten Ausgabe 2002 war die
       MaerzMusik höchstselbst noch ein „Festival für aktuelle Musik“. Bis 2014,
       als Berno Odo Polzer die Nachfolge von Matthias Osterwold als
       künstlerischer Leiter antrat und den Namen in „Festival für Zeitfragen“
       änderte. Bei der aktuellen Musik, die man bis dahin im Angebot hatte, gibt
       es jedoch unterschiedliche Möglichkeiten, die Sache zu lesen. Es kann zum
       einen die Musik meinen, die im Augenblick besonders dringlich oder relevant
       ist, was allemal ein hoher Anspruch ist. Es kann andererseits eine
       Beliebigkeit zum Ausdruck bringen – aktuell ist das, was eben gerade so da
       ist.
       
       Insofern ist das „Festival für Zeitfragen“ ein bisschen gemogelt, die Musik
       bleibt unqualifiziert, abgesehen vom „Maerz“, mit dem sie weiter liiert
       ist. Andererseits ist diese Mogelei aber höchst elegant. Denn eine
       zeitbasierte Kunst ist Musik immer, und die „Zeitfragen“ sind
       selbstverständlich auch lesbar als Fragen, die an der Zeit sind.
       
       ## Eine Wiederentdeckung
       
       Definitiv an der Zeit ist die Musik des US-amerikanischen
       Minimal-Music-Vertreters Julius Eastman. Seit einigen Jahren wird der 1990
       im Alter von 49 Jahren unter elenden Bedingungen gestorbene und lange Zeit
       verschollene Komponist wiederentdeckt. Verloren geglaubte Partituren sind
       wiederaufgetaucht, ebenso Aufnahmen seiner Werke. Eastman nahm als schwuler
       Afroamerikaner seinerzeit eine Ausnahmestellung in der Avantgarde-Musik der
       USA ein.
       
       Im vergangenen Jahr hatte MaerzMusik mit dessen Klavierwerken „Evil
       Nigger“, „Crazy Nigger“ und „Gay Guerilla“ eröffnet. Dieses Jahr stehen bei
       der Eröffnung am 16. März Eastmans Ensemblewerke wie „Femenine“ oder „Holy
       Presence of Joan d’Arc“ im Vordergrund. Die verstärkte Öffentlichkeit, die
       sein Werk inzwischen bekommt – auch das CTM-Festival jüngst eröffnete
       dieses Jahr mit einem Eastman-Abend –, ist in jedem Fall zu begrüßen. Unter
       der Überschrift „Eastman Invocations“ gibt es zudem ein Symposium mit
       Performances.
       
       Zu erleben bei MaerzMusik ist auch, weniger Komponist im herkömmlichen Sinn
       denn polyaktiver wie hochpolitischer Laptopmusik-Pionier, der US-Musiker
       Terre Thaemlitz. Klassisch Avantgardistisches wie Iannis Xenakis gibt es im
       Programm ebenfalls. Die Auswahl kann ihr Neusein, ihre Zeitgenossenschaft
       oder Aktualität in der Rezeption des Publikums unter Beweis stellen.
       
       Dazu passend hat der künstlerische Leiter Berno Odo Polzer dem Festival
       diesmal einen Satz des Schriftstellers und Kunstkritikers John Berger
       vorangestellt: „Musik bietet der Zeit einen Mittelpunkt.“ Was Polzer selbst
       ergänzt um den Hinweis: „Dies ist eine Zeit des Zuhörens.“ Und das Zuhören
       als solches kann dann höchst gegenwärtig geraten. Auch wieder als
       Angelegenheit der großen Dauer: Zum Ende von MaerzMusik gibt es erneut
       einen 30-Stunden-Konzertmarathon unter dem Titel „The Long Now“.
       
       13 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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