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       # taz.de -- Essay Identitätspolitik: Das Wir-Gefühl
       
       > Warum es verhängnisvoll ist, soziale Fragen mit nationalen und
       > antieuropäischen Wendungen zu verknüpfen. Über allerlei Identitäten.
       
   IMG Bild: Wer sind wir?
       
       Kaum eine öffentliche Debatte kommt in letzter Zeit ohne die Bezugswörter
       „wir“ oder „uns“ aus. Unser Diesel, wir als offene Gesellschaft, unsere
       Heimat sowieso. Aber welches Wir meinen wir denn eigentlich im Jahr 2018,
       wenn wir WIR sagen?
       
       Gehen wir es zunächst gemütlich an. Wir als Familie, als Gruppe, als
       Nachbarschaft, als Firma, als Mitglieder von Parteien, Gewerkschaften oder
       Kirchen, Wir als Demokraten, Wir als Deutsche, Wir als Europäer, Wir als
       Weltbürger, ein wohliges und kuscheliges Gefühl, so unter seinesgleichen zu
       sein.
       
       Ein erstes Umkreisen macht deutlich, dass das WIR schon recht ungemütlich
       sein kann. Und eine echte Zumutung. Das demonstrative WIR stellt nämlich
       die Frage nach unserer Identität. Wer sind wir?
       
       Viele Jahrzehnte haben wir gedacht, die Erfolgsgeschichte Deutschlands nach
       45 und vor allem nach 89 sei als Begründung unseres Gemeinwesens
       überzeugend und attraktiv genug. Unsere Verfassung und ihre Auslegung, die
       emanzipatorischen Fortschritte, die starke Wirtschaft, die große Freiheit,
       die reiche Kultur.
       
       Dann kam das Jahr 2017. Zu seinen großen Zäsuren gehört das Geschehen in
       einem Dresdner Brauhaus im Januar. Der AfD-Politiker Björn Höcke hielt
       dort eine Rede und erhob selbstbewusst den Anspruch, für „unser liebes
       Volk“ zu sprechen: Das „einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der
       Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“.
       
       ## Nieder- und Untergangsfantasien
       
       Björn Höcke ist im direkten Gespräch ein zurückhaltender, fast scheuer
       Mensch, gebildet, eher leise als laut, ein guter Zuhörer. In Dresden und
       anderswo nutzt er mit überschnappender Stimme das Vokabular oder, wie der
       Historiker Martin Sabrow es nennt, „das Argumentationsarsenal der
       NS-Kampfzeit“. Die „verrotteten Altparteien“, die „erbärmlichen
       Apparatschiks“ und ihre Pfründen, die eigene Partei als Bewegung, „die
       letzte friedliche Chance für unser Vaterland“, „die furchtbare Lage dieses
       Volkes“, die Forderung nach den „Neuen Menschen“, die sich für den Dienst
       für die Sache verzehren auf dem „langen und entbehrungsreichen Weg“.
       
       Höcke hat eine Vorstellung vom WIR, die sehr konkret ist. Womöglich fiel
       der Startschuss für diese Form des Identitätsangebots für die Mitte der
       deutschen Gesellschaft schon 2010: mit der Kampfschrift des
       Sozialdemokraten – und Mitbürgers – Thilo Sarrazin, die bis heute eines der
       meistverkauften Bücher der letzten zehn Jahre ist.
       
       Sarrazin rührte mit großer Akribie Nieder- und Untergangsfantasien,
       Geburtenraten, Rassen, Fremdes und Bedrohliches zu einem Konvolut zusammen,
       das den zentralen Vorwurf „WIR sind fremd im eigenen Land“ zu rechtfertigen
       schien. Danach waren die Dämme gebrochen. Viele in der sogenannten
       gesellschaftlichen Mitte sahen sich befreit von den Zumutungen eines
       linksliberalen, antirassistischen und global orientierten und im Übrigen
       auch christlich beeinflussten Wertekanons.
       
       2017 markierte das Ende dessen, was die Historikerin Cornelia Siebeck die
       „nationale Läuterungserzählung“ genannt hat, ohne die kaum eine Rede zum
       Tag der Deutschen Einheit auskommt. Mit Mühen und Rückschlägen in den 50er
       und 60er Jahren, mit Macht dann nach 1968: die Verarbeitung und Überwindung
       der NS-Vergangenheit, die Lehren aus der Geschichte, der „antitotalitäre
       Konsens“ und die „demokratische Erinnerungskultur“.
       
       ## Sie sind mitten unter uns
       
       Wir hatten gehofft, so wäre er unumkehrbar, der gesellschaftliche
       Fortschritt. Nie gab es mehr historisches Wissen über die Funktionsweise
       und die Bedingungen von totalitären, rassistischen, antisemitischen und
       letzten Endes gewalttätigen Bewegungen, Jahr für Jahr wurden neue
       Erkenntnisse und Forschungsergebnisse gesammelt, publiziert, nie hatten
       wir bessere Möglichkeiten, uns zu informieren. Und dann das. Es glaube
       keiner, die AfD wäre trotz Höcke gewählt worden – von jedem Zehnten unserer
       Mitbürger. Sie wurde auch seinetwegen gewählt.
       
       Während viele Dämme gebrochen sind, Antisemitismus, Rassismus und
       totalitäre Ideen in den Parlamenten und bürgerlichen Diskursen unverhohlen
       präsent sind, glauben gerade wir Medien, aber auch Kirchen, Gewerkschaften
       und Parteien unverdrossen, dass unsere alten Entlarvungsstrategien noch
       Früchte tragen können. Dass wir die neue radikale Rechte noch zu Outlaws
       machen können, die nicht zum gemütlichen WIR gehören.
       
       Spätestens das Wahlergebnis der AfD hat gezeigt: Sie sind mitten unter uns,
       sie gehören zu uns. Auch Mitbürger Höcke ist Teil des WIR. Wie sollten wir
       nun darauf reagieren?
       
       Da ist einerseits die therapeutisch-volkspädagogische Fraktion, die in den
       Wählern und Sympathisanten bemitleidenswerte Opfer der widrigen
       Verhältnisse im Allgemeinen und von Angela Merkel im Besonderen sieht. Die
       Globalisierung, die Flüchtlinge, das Internet, die Geschwindigkeit des
       Wandels, die Säkularisierung, das alles macht Angst, sagt die These. Hinzu
       kommt das Gefühl der Verlorenheit, da kommen die rechten Rattenfänger mit
       ihren Identitätsangeboten gerade recht.
       
       Doch warum greifen die, die sich entwurzelt, benachteiligt, zu kurz
       gekommen, überfordert und desillusioniert fühlen, ausgerechnet in die
       rechte Schublade? Was ist denn so attraktiv und vital und wegweisend am
       Mitbürger Gauland oder an der Mitbürgerin von Storch? Und was im Übrigen
       wäre in unserem Lande los, wer wären WIR, wenn die Wirtschaft in einer
       Krise, und Arbeitslosigkeit und Armut groß wären, wenn wir beispielsweise
       portugiesische oder spanische Verhältnisse hätten?
       
       Die andere Fraktion ist die der liberalen Identitätspolitik, die vor allem
       der amerikanische Politologe Mark Lilla nach dem großen Trump-Schock so
       vehement kritisiert hat. Ein Staat, der nur für die Spielregeln zuständig
       ist, und eine liberale Bürgergesellschaft, die sich um die freie Entfaltung
       der einzelnen Identitäten bemüht. Die Identitäten der Hautfarben,
       Geschlechter, sexuellen Orientierungen; das WIR ist entweder in der Gruppe
       ähnlicher Ausrichtung zu suchen oder in einem gesamtgesellschaftlichen WIR,
       das vor allem als die Summe aller Einzelidentitäten betrachtet werden kann,
       allerhöchstens noch als gemeinsame Idee des Multikulturellen. Lillas
       Vorwurf, die narzisstische Fixierung auf die unterschiedlichen Identitäten
       habe weite Teile der Gesellschaft aus dem Fokus des politischen Diskurses
       gerückt und in dieses Vakuum sei ein Trump mit seinen Identitätsangeboten
       hineingestoßen, hat viel für sich.
       
       Unabhängig davon, ob diese amerikanischen Debatten unsere Situation präzise
       treffen, ist die Frage nicht beantwortet, warum die legitime und gut
       gemeinte Klientelpolitik der demokratischen Parteien hierzulande vom
       Elterngeld bis zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare nicht als
       Ergebnis einer liberalen Fortschrittsidee- und -erzählung bewertet wird.
       Kurz: Warum begründen positive Veränderungen kein WIR?
       
       ## Wahlen gewinnen, Minderheiten verteidigen
       
       Es braucht eine neue bürgerliche Aneignung des Politischen. Das sollte
       zunächst das Verlassen der lieb gewordenen und bequemen Zuschauerposition
       sein. Die modische Verachtung der komplizierten und zähen
       Entscheidungsabläufe ist ein Luxus, den sich eine liberale
       Bürgergesellschaft nicht leisten kann. Die Rechte pflegt eine ähnliche
       Verachtung, bietet mit einer autoritären Lösung wie Putin eine Antwort.
       Lassen wir also das „Glotzen“ sein, es braucht konkretes Engagement im
       öffentlichen, auch im parteipolitischen Sinne, demokratischen Streit,
       Zuspitzung, Mehrheitsentscheidungen.
       
       Letzteres beispielsweise auch mit Blick auf die Flüchtlinge.
       „Minderheitenschutz gibt es nur dort, wo Mehrheiten gezählt werden“,
       schreibt Christoph Möllers in seinem fulminanten Merkur-Essay „Wir, die
       Bürger(lichen)“. Um diese Mehrheiten für den Weg zu einer Gesellschaft, die
       Zuwanderung, Asylrecht und Schutz von Flüchtlingen respektiert und
       akzeptiert, zu schaffen, reicht es nicht, auf die Verfassung, das
       Verfassungsgericht oder die Erfahrungen der düsteren Vergangenheit zu
       verweisen. Mark Lilla setzt da noch einen drauf: „In der Demokratie besteht
       der einzige Weg, Minderheiten zu verteidigen, darin, Wahlen zu gewinnen.“
       
       Wie halten wir es nun mit der nationalen Identität? Es ist wenig
       überraschend, festzustellen, dass wir derzeit kein charismatisches,
       aufregendes, bewegendes und mobilisierendes politisches Angebot im
       demokratischen Spektrum haben, das es mit den frivolen und tabulosen
       Verlockungen der radikalen Flügel aufnehmen kann. Wir sind geschockt, wir
       sind ideenlos, wir sind pragmatisch, wir sind uns selbst genug, wir sind
       das, was wir sind.
       
       ## Nicht ohne Risiko
       
       Den Kampf um unsere Identität über unsere Communities hinaus haben wir
       bisher vermieden, aus Ignoranz oder auch aus Ängstlichkeit. Wir haben uns
       aus Bequemlichkeit damit zufriedengegeben, die nationalistischen und
       fremdenfeindlichen Attacken mit der Frage nach der politischen Identität
       und, noch schlimmer, mit Fragen der Gerechtigkeit und der wirtschaftlichen
       Verteilungskämpfe verschlungen zu lassen. Das Raunen, das Rassismus,
       Sozialpolitik, Heimatgefühl und Partizipationsansprüche in einen
       gemeinsamen Argumentationsstrom zusammenfließen lässt, kommt von ganz
       rechts wie von ganz links. Der verhängnisvolle Kurzschluss, die soziale
       Frage mit der nationalen, mit antieuropäischen und antiglobalen Wendungen
       zu verkoppeln, ist seit einiger Zeit auch in linken Diskursen unüberhörbar.
       
       Was uns offenbar so schwerfällt, ist die gleichzeitige Auseinandersetzung
       an mindestens zwei Fronten: die Mobilisierung des eigenen politischen
       Willens als bürgerliches WIR – und die harte und geduldige
       Auseinandersetzung mit den Identitätsangeboten der Neuen Nationalisten.
       
       Nehmen wir also diesen Kampf auf mit unseren Mitbürgern Gauland, Höcke oder
       Wagenknecht. Doch den gibt es freilich nicht ohne Risiko. „Die, die das
       Identitätsspiel spielen“, schreibt Mark Lilla, „sollten darauf vorbereitet
       sein, dass sie dieses Spiel auch verlieren können.“ Wir müssen uns schon
       sicher sein, dass unsere Vorstellungen vom WIR über unsere Communities
       hinaus attraktiv und faszinierend sind. Und wir werden eine Menge damit zu
       tun haben, aus der reinen Abwehr der neuen rechten Krieger zu einer
       politischen Vision unserer modernen Gesellschaft zu kommen, die mehr ist
       als ein „Ja, aber“. Unterschätzen sollten wir diese Debatte über das
       künftige „Wir“ niemals und nirgendwo.
       
       12 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Raue
       
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