URI: 
       # taz.de -- Kurz vor dem Tod: Was am Ende zählt
       
       > Menschen, die im Hospiz die Zeit bis zu ihrem Tod verbringen: Sie sehen
       > mit anderen Augen, was wichtig ist. Fünf Protokolle.
       
   IMG Bild: „Ich denke nicht darüber nach, was nach dem Tod kommt“, sagt Luzi Brand
       
       Nicht besser sein müssen 
       
       Ich habe alles gearbeitet. In Fabriken. Alles. Bei Siemens war ich viel.
       Akkord, ne? Es hat angefangen mit Halsschmerzen, so einen dicken Hals hatte
       ich. Dann bin ich in die Klinik, und sie haben festgestellt: Krebs, hat
       schon gestreut, also zu spät. Was für ein Krebs, weiß ich nicht, also von
       Kopf bis Fuß. Das ist jetzt erst anderthalb Jahre her. Ich konnte nicht
       mehr allein leben, bin paarmal zusammengefallen, fast tot. Ach, ich weiß
       nicht, ich hab mich so damit abgefunden. Ich habe einfach überlegt: Und
       nun? Was machst du jetzt? Was kann passieren? Ja, nix. Außer dass du die
       Augen zutust, viele Schmerzen hast, kann nix passieren. Oder aber ich gehe
       da hin, wo man mir hilft, wo ich keine Schmerzen habe und ich friedlich
       einschlafen kann. In ein Heim wollte ich nicht. Da gammelt man vor sich
       hin. Hier ist das noch würdemäßig, hier ist alles sauber, das ist wie meine
       kleine Wohnung, finde ich. Ein Vierteljahr bin ich jetzt hier.
       
       Ich denke nicht darüber nach, was nach dem Tod kommt. Ich stelle mir das so
       vor: Ich schlafe ein. Ich schlafe einfach ein. Das war’s. Mehr kann auch
       nicht sein. Ich habe über mein Leben nachgedacht. Ich fand es in Ordnung.
       Mit allen Höhen und Tiefen, ich bin 53 Jahre verheiratet. Und somit, denke
       ich, kann ich friedlich weggehen. Am wichtigsten ist Gesundheit. Und
       Zufriedenheit.
       
       Zufrieden ist man, wenn man nicht alles haben will. Ich muss keine zwei,
       drei Autos haben, ich muss kein Haus haben, wissen Sie? Ich muss haben:
       eine gesunde Familie, selber gesund sein – mehr brauch ich nicht. Mehr hab
       ich nie gebraucht. Wir waren immer sehr bescheiden. Andere wollten immer
       alles. Große Urlaube, alles. Wir waren zufrieden.
       
       Ich war auch nie krank in meinem Leben, nie. Ich habe zwei Kinder, die
       leben auch hier in Berlin. Aber ich möchte nicht, dass die sehen, wie das
       Ende kommt. Ich möchte nicht, dass meine Kinder sehen, dass irgendwann das
       Ende kommt. Das wird man ja sehen. Die Kinder kommen nicht. Ich rufe an,
       das reicht. Einmal waren sie da, haben geguckt, ob alles in Ordnung ist.
       Und das reicht. Mein Mann ist in einer Demenz-WG, viele, viele Jahre. Der
       lebt in seiner Welt, der weiß von nichts. Ich habe meinen Kindern gesagt,
       dass sie nicht kommen sollen, damit sie nicht sehen, wie Mutter stirbt. Ich
       habe gesehen, wie meine Mutter gestorben ist.
       
       Ich möchte in Ruhe und Frieden einfach von der Welt gehen. Das habe ich
       verdient. Nein, ich hatte sonst ein schönes Leben. Kleine Urlaube, kleine
       Feste. Italien, Spanien, Kurzreisen. Da ist nichts Großes passiert wie bei
       vielen anderen. Bei mir ist nichts Großes passiert. Einfach nur kleine
       Sachen. Und doch war ich zufrieden und bin auch jetzt zufrieden, ruhig und
       zufrieden. Als ich die Diagnose bekommen habe, war ich gefühllos. Ich habe
       nicht geweint. Ich habe bis heute noch nicht geweint. Ich weiß nicht,
       warum.
       
       Nehmt euch Zeit, wenn ihr Kinder habt. Nehmt euch Zeit für die Eltern. Die
       jungen Leute leben heute so larifari, einfach so. Nein, Zeit müsst ihr euch
       nehmen. Mal eine Stunde länger Kaffee trinken mit der Mutter, so was. Genau
       wie Geschenke – was nützt das teuerste Geschenk für die Mutter, die eh
       schon alles hat, wenn ich aber keine Zeit habe, mit ihr mal Kaffee trinken
       zu gehen? Erfolgreich sein ist nicht so wichtig; anerkannt zu sein ist
       wichtig. Ich muss nicht besser sein als andere. Ich will einfach
       dazugehören, dass man akzeptiert ist. Dass man das so hinnimmt, dass ich so
       bin, wie ich bin.
       
       Luzi Brand ist 72, sie kommt aus dem Rheinland, hat aber den größten Teil
       ihres Lebens in Berlin verbracht. Nur etwa zwanzig Minuten dauert das
       Gespräch mit ihr, dann ist sie erschöpft. 
       
       Wissen, was man will 
       
       Mein erster Mann wollte mich nicht arbeiten lassen, keine Ahnung, was der
       für ein Problem hatte. Zwanzig Jahre lang war ich Mutter und Hausfrau,
       Meinen zweiten Lebensgefährten habe ich gepflegt, bis er starb. Ab 2012
       habe ich in einem Sozialwarenhaus gearbeitet. Die bekommen Spenden und
       verkaufen sie. Meine Abteilung war Porzellan und Deko. Ich habe mich darum
       gekümmert, dass das Geschirr sauber und intakt ist. Die Leute spenden
       unterschiedliche Teller und Tassen und so, trotzdem soll es im Regal nach
       was aussehen. Das war ein schönes Gefühl, gebraucht zu werden. Und dann
       kommt so ein Dreck.
       
       Vier Jahre war ich im Warenhaus. Kurz nachdem ich angefangen habe, ging es
       mit der Krankheit los. Ich musste Pausen machen – mal Wochen, mal Monate.
       Es hat mir sehr wehgetan, wenn ich wieder gehen musste. Als es schlimmer
       wurde, wollte ich nur für zwei Stunden kommen. Dreimal haben wir es
       versucht. Dann sagte mein Chef: Werde erst mal gesund. Seit Dezember 2016
       bin ich krankgeschrieben. Die ganze Zeit haben sie mir meinen Arbeitsplatz
       freigehalten, erst vor ein paar Wochen habe ich den Aufhebungsbescheid
       unterschrieben. Der Arbeitsvertrag war mein Beleg, dass ich lebe.
       
       Die Ärzte wissen, was ich habe, aber sie wissen nicht, warum. Wenn ich
       verstehen würde, warum ich so brutale Schmerzen im Bauch habe, dann wäre es
       vielleicht leichter.
       
       Jetzt warte ich nur noch auf den Tod, und vom Warten habe ich die Schnauze
       so voll. Seit August 2017 bin ich im Hospiz, vorher war ich ein Jahr fast
       nur im Krankenhaus. Um zwei Uhr kehrt hier Ruhe ein, nur wenige laufen noch
       über die Gänge, die meisten sind im Zimmer. Für mich fühlt es sich an, als
       hätte jemand die Tür zugemacht und den Schlüssel weggeworfen. Deutschland
       sollte die Sterbehilfe einführen, so wie die Schweiz. Ich kann nicht mehr,
       ich will nicht mehr, und ich muss hier warten, bis ich abgeholt werde. Das
       ist grausam.
       
       Mit der Einsamkeit und dem Alleinsein ist es seltsam. Mein aktueller Freund
       kommt meistens jeden Tag und wenn es mir nicht gut geht, schlafe ich ein.
       Ist er dann aber gegangen, fühle ich mich allein. Anders kann es im Knast
       auch nicht sein. Ich hätte gerne einen Knopf. Einmal drücken, dann sind
       Menschen um mich herum. Noch einmal drücken, und ich bin allein. Natürlich
       ist es schön, zu wissen: Da kümmert sich jemand um dich. Aber die
       Aufmerksamkeit anderer Menschen kann sehr anstrengend sein.
       
       Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich nur mein altes Leben
       wiederhaben wollen. Mit allem Mist und allem Schönen. Ob ich etwas anders
       machen würde, weiß ich nicht. Ich habe mich lange gefragt, was ich getan
       habe, dass ich so bestraft werde. Dabei bin ich nicht mal gläubig.
       
       Viele schütteln den Kopf, weil ich so jung Mutter wurde. Mit meinem ersten
       Mann war ich zusammen, seit ich 14 war. Einen Monat vor meinem 17.
       Geburtstag habe ich meine Tochter bekommen. Später noch zwei Söhne. Gott
       sei Dank sind die drei heute groß. Mir geht das Herz auf, wenn ich sie
       sehe.
       
       Als ich ein Kind war, hat mir das Leben als Familie gefehlt. Meine Mutter
       wollte mich nicht, also bin ich bei meiner Oma aufgewachsen. Ich wollte so
       sehr bei meiner Mutter sein, ich bin sogar in ein Heim gegangen, das in der
       Nähe ihrer Wohnung lag. Als ich dann meine Tochter gesehen habe, hatte ich
       dieses heilige Gefühl: Das ist meins.
       
       Meine Oma hat damals gesagt: Nix hier, Baby, ich kümmere mich, du machst
       deine Ausbildung. Also bin ich wieder ins Heim gegangen, ins
       Mutter-Kind-Heim. Wichtig im Leben ist, zu wissen, was man will, und das
       durchzusetzen. Auf Biegen und Brechen.
       
       Zu meinem Mann hatte ich jahrelang keinen Kontakt. Meine Tochter hat ihn
       angerufen, weil sie überfordert war. Die Chance, dass ich meine erste
       Operation überlebe, lag bei 30 Prozent. Er ist sofort gekommen. Er sagt
       übrigens, wenn er es damals besser gewusst hätte, hätte er vieles anders
       gemacht. Dann hätte er mich arbeiten lassen.
       
       Es ist gut, dass meine Tochter ihren Vater angerufen hat. Wenn man so krank
       ist wie ich, und man sitzt in dieser Glaskugel und alle anderen davor, dann
       ist das zwar ein Scheißgefühl, aber ich weiß, wenn ich gehe, dann halten
       die zusammen.
       
       Manuela Fahl, 47, leidet an Angina abdominalis. Ihre Adern verschließen
       sich, und ihr Darm stirbt ab. Eine Pumpe führt ihr ständig Schmerzmittel
       zu. Beim ersten Gespräch redet sie leise und stockend, so sei das in ihren
       Tiefphasen, sagt sie. Beim zweiten Treffen ist sie lebhafter. 
       
       Freunde sind wichtig 
       
       Als die Ärzte mir die Diagnose gesagt haben, dachte ich: Na gut, in
       Ordnung. Ich habe das nicht als tragisch empfunden. Es ist nur so, dass
       meine Kinder darunter leiden, und das macht mir zu schaffen. Meine drei
       Töchter machen es mir ein bisschen schwer, weil sie so, so … sie kümmern
       sich übermäßig um mich. Wenn sie ein-, zweimal die Woche kämen, wär’s ganz
       schön. Sie könnten sich auch abwechseln. Aber nach Möglichkeit möchten
       beide Töchter, die hier in Berlin leben, jeden Tag kommen. Wenn ich dann
       was sage, sind sie beleidigt und behaupten: Du willst uns nicht sehen. Das
       stimmt aber nicht.
       
       Ich denke nicht darüber nach, wie es sein wird, wenn ich mal nicht mehr
       hier bin. Manchmal denke ich: Schade, dass es so lange dauert. Wer weiß,
       wie lange noch. Am 21. Dezember 2016 wurde ich operiert, am 24. haben die
       Ärzte zu meinen Kindern gesagt: Nehmen Sie Ihre Mutter mit, machen Sie ein
       schönes Weihnachtsfest. Wir haben also gar nicht erwartet, dass es noch ein
       Jahr lang geht. Der Sommer war noch schön, da bin ich viel gereist: An die
       Ostsee, zu meiner Tochter nach Hamburg und hier so ins Umland. Ich wär’
       gerne noch mal nach Dresden gefahren, da war ich schon häufiger. Na ja, und
       an die Nordsee.
       
       Ich glaube, der Tod ist ein Schlussstrich. Da kommt nichts. Über die
       Vergangenheit denke ich nicht viel nach. Ich bin zufrieden, so wie es war.
       Man kann’s sowieso nicht ändern. Mein Mann ist 1980 gestorben, wir waren
       aber schon getrennt. Er hat irgendwann festgestellt, dass er noch zu jung
       ist für Kinder und mal lieber geht. Ich habe die drei Töchter allein
       großgezogen. Für einen Mann hätte ich nicht auf Kinder verzichtet. Ich
       hatte meine Arbeit, meine Kinder, die hatten eine Ausbildung.
       
       Worauf es ankommt im Leben? Dass man mit sich im Reinen ist und zufrieden
       ist. Arbeit ist wichtig. Ich hätte es nicht ausgehalten, arbeitslos zu
       sein. Eine gute Arbeit ist eine, von der man leben kann und die Spaß macht.
       Ich glaube, Menschen machen da viel zu viele Kompromisse, aus Angst, die
       Arbeit zu verlieren.
       
       Erfolg ist schon ganz schön, aber dass man alles um sich rum vergisst – ich
       glaube, das lohnt sich nicht. Geld ist so wichtig, dass man einigermaßen
       zurechtkommt. Ich merke hier im Hospiz, wie wenig man braucht, um zu leben.
       Tisch, Bett, Stuhl. Um in der Welt ein bisschen Bescheid zu wissen, auch
       entweder Zeitung, Radio oder Fernseher. Freunde sind wichtig, alles andere
       ist nicht so doll.
       
       Die jungen Leute verbringen ganz bestimmt zu viel Zeit im Internet. Wenn
       meine Töchter kommen, wird erst mal das Ding auf den Tisch gelegt. Und dann
       bimmelt das und sie gucken nach. Ständig ist da was.
       
       Eigentlich will ich mich vorbereiten auf den Tag X, es sind noch ein paar
       Sachen zu klären. Meine Enkeltochter hat mir ein Buch geschenkt, es heißt
       „Oma, erzähl mal“. Das ist furchtbar, oder? Da sind Fragen drin darüber,
       was man so gemacht hat. Ich hab meinen Namen schon eingetragen, toll. Das
       wollte ich noch fertig machen, aber eigentlich gefällt es mir nicht, dass
       ich das ausfüllen soll. Ich werde nicht alle Fragen beantworten.
       
       Wir haben vor Jahren mal über die Beerdigung gesprochen, und da habe ich
       einfach so dahergesagt: Ich möchte unter einer Buche beerdigt werden, die
       raschelt so schön. Und die Buche gibt es jetzt. Eigentlich war mir das
       nicht so wichtig, aber meine Kinder haben es wichtig genommen. Das ist oft
       so. Manchmal sage ich: Ihr macht aus einem Furz einen Donnerschlag. Die
       wollen immer alles ganz genau wissen und bohren nach. Auch bei Sachen, die
       man eigentlich nicht beantworten will. Und wenn eine mehr weiß als die
       andere, dann ist das auch ganz schlimm. Ach, na ja. Manchmal habe ich auch
       vergessen, wem ich was erzählt habe.
       
       Nicht zu wissen, wann es so weit ist, macht mich nicht nervös. So wie mir
       der Arzt das erklärt hat, kriegt man, wenn die Schmerzen so groß sind,
       entsprechende Schmerzmittel, und dann schläft man und schläft so hinüber.
       Das hoffe ich, dass das so passiert.
       
       Gabriele Müller, 75, kommt aus der Nähe von Hamburg, lebt aber schon seit
       mehr als 50 Jahren in Berlin. Zuletzt hat sie im Jungendamt von
       Berlin-Wilmersdorf gearbeitet. Auch bei ihr hat der Krebs sich im Körper
       ausgebreitet. Vor allem, wenn sie über ihre Töchter spricht, kommen ihr
       die Tränen. 
       
       Sich neu verlieben 
       
       Mein nächstes Ziel ist Ostern. Da kommen meine amerikanischen Verwandten
       nach Deutschland. Es geht mir im Augenblick so gut, das könnte ich
       schaffen. Wenn ich mir so kleine Strecken vornehme, gelingt es mir besser,
       mich von den großen Dingen zu lösen. Genug Ideen für ein neues Buch hätte
       ich, aber meine wissenschaftliche Arbeit ist abgeschlossen. Dazu bin ich
       kräftemäßig nicht mehr in der Lage.
       
       Einen großen Teil meines Lebens habe ich mich mit dem Reformator Thomas
       Müntzer befasst, dem Anführer der Bauernkriege im 16. Jahrhundert. In der
       DDR haben sie einen Sozialisten aus dem gemacht und in jedem Dorf Straßen
       und Plätze nach ihm benannt. Das ist Unsinn! Von meiner Forschung wird aber
       letztendlich nichts bleiben. Andere werden meine Ergebnisse überschreiben.
       Bücher bedeuten keine Unsterblichkeit und mein Eintrag bei Wikipedia auch
       nicht.
       
       Die Ärzte teilen das Sterben gerne in Phasen ein: Erst kommt der Schock,
       irgendwann die Trauer, gehen zu müssen, und am Ende Gelassenheit. Das ist
       viel zu statisch. Ich bin gelassener geworden, aber manchmal trauere ich
       mehrmals am Tag um mich.
       
       Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich noch einmal in mein Heimatdorf
       nach Sachsen fahren und über den Fluss hinüber nach Tschechien schauen. Ich
       bin 1930 geboren und habe die ganze NS-Zeit erlebt. Als es vorbei war,
       sagten die Kommunisten: Jetzt wird alles anders. Und nichts wurde anders.
       
       Erst kamen die Trommeln und die Fahnen und dann die Einladungen in ihre
       Organisationen, die aber schon halbe Erpressungen waren: Willst du dir
       deine Zukunft verbauen? Die Frage kam immer gleich mit. An den Kommunismus
       habe ich nicht fünf Minuten geglaubt. Und die Kommunisten auch nicht an
       mich. Als ich Pfarrer war, habe ich Gottesdienste mit Bands organisiert.
       Alle paar Wochen stand die Staatsmacht bei mir vor der Tür.
       
       Pfarrer waren in der DDR wichtige Menschen, manchmal die wichtigsten im
       Ort. Mit mir konnten die Leute über das reden, was sie im Sozialismus nicht
       offen besprechen durften: Unterschlagung, Mobbing, den Ärger über den
       Solidaritätsbeitrag für Vietnam, der den Leuten vom Konto abgebucht wurde,
       ohne sie zu fragen. Da waren dann sogar die hohen Parteigenossen bei mir.
       
       Es gab sehr gebildete Leute unter den Marxisten. 1980 bin ich Direktor der
       Evangelischen Verlagsanstalt geworden, und eine kluge und belesene Zensorin
       hat für das Ministerium die Bücher kontrolliert, die wir veröffentlicht
       haben. Heute duzen wir uns und sehen uns regelmäßig. Mich besuchen ohnehin
       viele alte Bekannte, nachher kommt eine Konfirmandin, die extra aus
       Hannover angereist ist.
       
       Ich maile mit vielen Menschen, weil ich wissen möchte, wie sie unsere
       gemeinsame Zeit erlebt haben. Theologie habe ich studiert, weil ein Pfarrer
       sagte, ich würde in der Jugendarbeit gebraucht. Er hat meinen Vater
       überzeugt. Der wollte mich eigentlich zum Kaufmann machen, und ich hätte
       gern Literaturwissenschaft studiert. In meinem Leben wurde ich mehr
       geschoben, als dass ich gegangen bin. Aber erst die Spannung zwischen dem,
       was das Leben an uns heranträgt, und dem, was wir selbst daraus machen, ist
       fruchtbar.
       
       Ich hätte gern mehr Zeit mit meiner Frau zum Spazierengehen gefunden. Wir
       wurden mit Arbeit und Anfragen überflutet. Wenn ich etwas wirklich bereue,
       dann dass ich nicht ab und zu die Reißleine gezogen habe.
       
       So kurz vor dem Tod werde ich noch einmal klüger, mit meiner Frau zusammen.
       Wir entdecken unser gemeinsames Leben neu. Wir ordnen unsere Briefe. Meine
       schriftliche Kommunikation hat meine Frau nicht gekannt. Sie hat in der
       Gemeinde gearbeitet, sie hat sich viel mehr als ich um unsere Kinder
       gekümmert. Vor allem um unsere schwerbehinderte Tochter, die mit 14 Jahren
       gestorben ist.
       
       Meine Frau sieht jetzt überhaupt erst, was ich alles gemacht habe. Wo ich
       überall war. Das wirft ein völlig neues Licht auf alles, worauf sie
       verzichtet hat, und es gibt allem mehr Sinn. Sie hat mich noch und noch
       abgesichert. Beim Übersetzen aus dem Latein habe ich oft sie gefragt. Sie
       ist bei den Sprachen ein Einsertyp. Unser Sprachlehrer im Studium hat mich
       „Herr Michael“ genannt, mich also mit ihrem Nachnamen angesprochen, denn
       sie war sein Star.
       
       Wenn ich irgendwo referieren musste, habe ich immer gesagt, wie wichtig
       meine Frau für meine Arbeit ist. Aber ich habe es nie in eines meiner
       Bücher geschrieben. Was hat mich da gehemmt? Vielleicht mein Horror vor den
       Amerikanern. Bei denen gehen die Dissertationen lattenweise mit diesem
       Klingeln los, die danken gleich der ganzen Verwandtschaft.
       
       Nach dem Tod unserer Tochter hat meine Frau ein kulturelles Eigenleben
       entwickelt, von dem ich überhaupt nichts wusste. Sie hat sich eine
       Jahreskarte für Museen gekauft und ist losgezogen. Sie hat sich zum
       Beispiel viel für die preußische Königin Luise interessiert. Das wiederum
       erfahre ich jetzt erst. Und ich habe mich noch einmal neu in sie verliebt.
       
       Siegfried Bräuer, 87, hat über sieben Jahre mit Nierenkrebs überlebt, aber
       vor ein paar Monaten zog er in ein Hospiz im Berliner Norden. 2016 hat er
       noch ein Buch über den Kirchenreformator Thomas Müntzer veröffentlicht.
       Bräuer hat in Leipzig Theologie studiert und als Pfarrer gearbeitet. Bei
       unseren Gesprächen redet er wie ein Prediger: unterhaltsame Anekdote –
       dozieren – und dann die nächste Anekdote. 
       
       Leben, leben, leben 
       
       Das ist hier einfach das Wegsterbehaus, ne? Aber ich gehöre hier eigentlich
       nicht her, ich gehe morgen nach Hause. Weil ich alleine lebe, hat der Arzt
       dieses Hospiz für mich rausgesucht. Er hat gesagt: Lassen Sie sich da mal
       aufpäppeln. Wenn meine Zeit dran wäre, würde ich bleiben. Hier ist ein
       guter Ort zum Sterben, ein ruhiger Ort.
       
       2015 war ich sehr erkältet, es war Winter, alle waren erkältet. Ich hatte
       Husten und Blut mit ausgespuckt. Da wusste ich eigentlich schon, was los
       war. Ich glaube, man weiß in sich drin: Okay, das ist jetzt schlimm für
       dich. Nur ist man leider viel zu schludrig mit seiner eigenen Gesundheit.
       Ich hab mein Leben lang geraucht, gerne geraucht. Kaffee und Zigarette
       waren immer so Tagesstarter. Was soll ich sagen? Selber schuld.
       
       Dann haben sie meine Lunge operiert, da, wo der Tumor saß. Aber der Krebs
       hatte natürlich schon gestreut. Metastasen in meinem Gehirn, in meinen
       Knochen, überall, überall. Für mich ist das so: Meine Erkrankung ist meine
       Erkrankung. Da gibt’s auch keine Jammerei. Was aber ganz schlimm für mich
       ist: Wenn meine Kinder vor mir stehen und weinen. Wegen mir. Ich habe zwei
       Mädchen und einen Jungen, die sind zwischen 24 und 30 Jahre. Für die
       Familie ist es schwer, das mit anzusehen. Ich hab eine Enkelin, die ist
       vier. Die sagt immer zu mir: Oma, ich will nicht, dass du gehst. Was sagt
       man da? Ich will auch nicht? Ich will ja auch nicht. Ich bleib gerne noch.
       Wobei das Leben an sich auch beschwerlich wird, wenn man vieles nicht mehr
       kann und andere bitten muss. Ich war immer sehr zügig und zackig. Aber das
       ist halt nicht mehr so.
       
       Die Wichtigkeit der Dinge im Leben hat sich jetzt für mich total verändert.
       Früher dachte ich, es ist wichtig, Geld ranzuschaffen und fleißig zu sein,
       damit ich meine Kinder groß kriege. Heute denke ich: Pfff, Geld. Geld
       brauchst du, um deine Rechnungen zu bezahlen, fertig.
       
       Ich würde mich nie wieder mit zwei oder drei Jobs rumschlagen. Es muss auch
       anders gehen. Als die Kinder klein waren, habe ich extrem viel gearbeitet.
       Und denke heute: Das hat eine Vernachlässigung mit sich gezogen. Diese Zeit
       kann ich nicht mehr zurückholen. Wie traurig es ist, dass man die Zeit
       nicht zurückdrehen und es besser machen kann. Das denke ich oft.
       
       Es ist wichtig, dass ich meinen Kindern sage, dass ich sie liebe. Es ist
       nicht wichtig, dass ich für sie shoppen gehen kann. Außerdem hätte ich gern
       weniger gestänkert, mit meiner Mutter zum Beispiel. Wir hatten kein so
       gutes Verhältnis. Ich glaube, dass ich mich da in vieles reingesteigert
       habe. Man muss auch mal sagen können: Okay, ich gehe einen Schritt zurück
       und komme auf dich zu und übergehe meinen eigenen Frust. Das sollte man
       einfach lernen und machen. Nichts aufschieben ist auch eine ganz wichtige
       Sache.
       
       Ich hab meine Mutter in den Tod begleitet. Die ist so gut gestorben, ruhig
       und nicht verzweifelt. Sie hat mir die Angst vor dem Sterben genommen. Es
       muss ja in der heutigen Zeit nichts mehr wehtun. Wir sind medikamentös so
       gut aufgestellt, ein Hoch aufs Morphium.
       
       Sterben gehört ja zum Leben, ne? Ich glaube, danach geht’s direkt nach
       oben, und da sind alle meine Leute: meine Eltern, meine Oma, Freunde. Ich
       bin so fest davon überzeugt, dass es so ist, vielleicht habe ich auch
       deswegen keine Angst.
       
       Ich hab alles gemacht, was ich machen wollte. Ich war mit meiner Schwester
       im Urlaub. Das waren wir noch nie, also so richtig. Wir waren in Punta
       Cana, in der Dominikanischen Republik. Da ist das Paradies: weißer Strand,
       türkis-hellblaues Meer. Ich war auch mit Delfinen schwimmen, das wollte ich
       unbedingt.
       
       Was ich den Leuten rate? Leben, leben, leben. Urlaub, verreisen, Länder
       angucken. Menschen kennenlernen. Das Leben besteht nicht nur aus Arbeiten.
       
       Ein paar Gedanken über meine Beerdigung haben wir uns schon gemacht. „Das
       Leben ist schön“ von Sarah Connor soll da laufen. Wie das in dem Lied ist,
       so sehe ich das auch: Das Leben ist trotzdem schön, auch wenn jemand
       stirbt. Der fehlt dann, klar, aber das Leben ist deswegen nicht kaputt für
       die, die zurückbleiben.
       
       Regina Engel ist 52, eine waschechte Berlinerin. Sie hat als Stationshilfe
       in einem Krankenhaus gearbeitet. Während des Gesprächs kommt ihre Tochter
       zu Besuch, bringt ihr Eis, Kakao und Zigaretten. Warum sollte sie jetzt
       noch auf etwas verzichten? Weil Regina Engel Medikamente sammelt, um sich
       im Notfall selbst das Leben nehmen zu können, will sie nicht, dass ihr
       richtiger Name hier steht.
       
       14 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Viktoria Morasch
   DIR Daniel Schulz
       
       ## TAGS
       
   DIR Sterben
   DIR Tod
   DIR Hospiz
   DIR Leben
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Hospiz
   DIR Sterbehilfe
   DIR Bundesministerium für Gesundheit
   DIR Sterbehilfe
   DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
   DIR Tod
   DIR Spielfilmdebüt
   DIR Sterbehilfe
   DIR Beerdigung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Sterben in Würde: Abschied ohne Kreuz
       
       Im Berliner Vorort Mahlow steht Deutschlands erstes kulturspezifisches
       Hospiz. Für Einwanderer und Menschen, die mit Religion nichts am Hut haben.
       
   DIR Anhörung am Bundesverfassungsgericht: Richter prüfen Sterbehilfeverbot
       
       Karlsruhe befasst sich mit dem Verbot organisierter Sterbehilfe. Sechs
       Beschwerden liegen gegen den Strafrechtsparagrafen 217 vor.
       
   DIR Gesundheitsminister unterläuft Urteil: Spahn verhindert Sterbehilfe
       
       Unheilbar Kranke, die sich mit einem Betäubungsmittel das Leben nehmen
       wollen, können es nicht bekommen – obwohl ein Gerichtsurteil das in
       Ausnahmefällen erlaubt.
       
   DIR Gastkommentar Missachtete Sterbehilfe: Der Staat lässt Anna nicht gehen
       
       Wer Sterbehilfe verweigert, missachtet bewusst die geltende Rechtslage –
       kritisiert die FDP-Abgeordnete Katrin Helling-Plahr.
       
   DIR Für den Leipziger Buchpreis nominiert: Orte der Lebenden, Orte der Toten
       
       Esther Kinskys Roman „Hain“ erzählt von einer Frau, die auf einer
       Italienreise den Verlust ihres Geliebten verarbeitet. Ein Treffen mit der
       Autorin.
       
   DIR Podcast und Blog über das Thema Tod: Den Tod verbalisieren
       
       Sterben muss jeder eines Tages, doch Trauer und Tod sind Tabuthemen. Eric
       Wrede und Silke Szymura versuchen, daran etwas zu ändern.
       
   DIR Spielfilm „Ein Tag wie kein anderer“: Wenn das Leben verrutscht
       
       Immer Ärger mit dem Trauern: Der israelische Film „Ein Tag wie kein
       anderer“ von Asaph Polonsky nimmt den Tod auf sehr ernste Weise nicht
       ernst.
       
   DIR Kommentar Sterbehilfe: Die Tücken der Selbstbestimmung
       
       Selbstbestimmter Wunsch zu sterben? Wenn Alte Angst haben, in ein Heim mit
       schlechter Betreuung zu kommen, gibt es den nicht.
       
   DIR Letzter Blick: Der schöne Tod
       
       Die Hamburgerin Ulrike Maenner-Hartung gibt Schmink-Kurse für Bestatter.
       Dabei wollen sich kaum noch Angehörige am offenen Sarg verabschieden.