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       # taz.de -- Inklusives Bandprojekt: Auf Station 17
       
       > Ein Besuch im Hamburger Proberaum der neunköpfigen Krautrock-Truppe zeigt
       > eine gar nicht mal so ungewöhnliche Rockband.
       
   IMG Bild: Station 17 ist eine Band, die sich stets im Wandel befindet – hier in der Besetzung von 2014
       
       Silvano scheint bloß auf jemanden gewartet zu haben, dem er seine
       Geschichte erzählen kann. Hier, im Eingangsbereich eines zweistöckigen
       Hauses in einem Hamburger Hinterhof. „Ich bin Sinti, ich hab’ne Psychose.“
       Silvano grinst.
       
       In einem Atemzug wird er es schaffen, sein persönliches Schicksal
       auszubreiten und gleichzeitig vom bevorstehenden HSV-Spiel zu berichten. Es
       sprudelt aus dem kleinen Mann mit Cap und Schnauzbart heraus: Er sei
       Musiker, würde singen und Gitarre spielen. Am liebsten Elvis. Silvano
       lacht. Er ist angestellter Künstler bei dem inklusiven Netzwerk Barner 16.
       
       Im Stadtteil Altona produzieren 80 feste und freie Mitarbeiter mit und ohne
       Handicaps Musik, entwickeln Tanzperformances und Kurzfilme, fertigen
       Textildrucke an und digitalisieren alte Schallplatten und VHS-Kassetten.
       Das hauseigene Musiklabel 17records ist Heimat von Bands wie The Living
       Music Box und Turiazz. Und dann ist da noch das Aushängeschild: Station 17.
       Gerade ist das neue Album „Blick“ erschienen. Silvano ist nicht darauf zu
       hören, auch wenn er es dem Besucher glaubhaft machen will.
       
       Station 17 ist ein mehr oder weniger festes Kollektiv, seit drei Jahren
       spielt die aktuelle Besetzung zusammen. Fünf Musiker mit Handicap, vier
       ohne. Es ist Freitagmittag, Probetag in Altona. Durch die Dachfenster des
       Atriums der Barner 16 scheint die Sonne. „Stop – Hier wird gearbeitet“,
       steht handgepinselt auf der Tür des mit Instrumenten zugestellten
       Proberaums.
       
       Gegenteil von gönnerisch 
       
       Christian Fleck drückt einen Schalter und taucht das Studio in
       dunkellilafarbenes Licht. Fleck, seit 13 Jahren bei Station 17, startet
       einen Beat mit einem alten Sequencer. Ernesto Schnettler setzt mit einer
       betörend glimmenden E-Gitarre ein, weitere Keyboards kommen dazu.
       „Sternenteleskop“ spielen Station 17 sonst anders; auf dem Album ist
       Elektronik-Produzent Ulrich Schnauss als Gast dabei, seit einigen Jahren
       Mitglied von Tangerine Dream.
       
       Ähnlich wie bei den besten Tracks der deutschen New-Age-Pioniere öffnet
       sich in dem Song eine entrückte Ambient-Welt voller sanft pluckernder
       Sounds. Zwar fehlt die Hälfte von Station 17 an diesem Freitag
       grippebedingt, dennoch ist es beeindruckend, mit welcher Gelassenheit
       Fleck, Schnettler, Sebastian Stuber und Hauke Röh ihre psychedelisch
       verträumte Jamsession durchziehen. „Wir sind eigentlich eine unfassbar
       laute Band“, sagt Bassist und Produzent Röh.
       
       Station 17 ging 1988 aus der Wohngruppe 17 der Evangelischen Stiftung
       Alsterdorf hervor. Nach sieben Alben hat das Kollektiv zwar noch nicht die
       Charts erobert, doch auf seine Art die obere deutsche Pop-Liga erreicht: Es
       gab Kooperationen mit Fettes Brot, Stereo Total und DJ Koze und Auftritte
       bei großen Rock-Festivals wie dem Hurricane; Joachim Gauck lud sie für ein
       Konzert ins Schloss Bellevue.
       
       „Jenseits von gönnerischem Gutmenschentum und vorführender Freakshow müssen
       Station 17 ihre eigene künstlerische Sprache finden“, forderte Mark Chung,
       Förderer der Band und einstmals Bassist bei den Einstürzenden Neubauten,
       Anfang der 1990er Jahre. Anno 2017 hat die Band Haltung und stabile
       Besetzung längst gefunden. „Das sind alles richtig gute Musiker“, sagt
       Produzent Christian Fleck. Bestes Beispiel: „Le Coeur Léger, Le Sentiment
       d’un Travail Bien Fait“, der siebenminütige Opener des neuen Albums
       „Blick“.
       
       „Geil verspult“ 
       
       Ein repetitiver Bass, das Wabern monotoner Synthesizer, die Trompete spielt
       eine Melodie, die vage an das James-Bond-Thema erinnert, dazu
       tribalistische Trommeln. So weit, so spacig, aber was Marc Huntenburg, ein
       Künstler mit Down-Syndrom, darüber legt, ist schlicht sensationell. Ein
       dunkel gemurmelter, gesäuselter Sprechgesang voller Fantasieworte, mal
       nasal, mal abgründig und basslastig.
       
       Wie es sonst nur frühe Songs der deutschen Rocklegende Can mit Sänger Damo
       Suzuki vermochten, beschwört der Track eine surreale Voodoo-Atmosphäre
       herauf – eingefangen im Klassenzimmer einer ehemaligen Schule in der
       900-Einwohner-Gemeinde Emmelsbüll-Horsbüll. Nur einen Maraca-Wurf von der
       Nordsee entfernt haben Station 17 „Blick“ im Sommer 2017 aufgenommen.
       
       „Es gab keinen Handyempfang und der Aufenthaltsraum war gleichzeitig
       Aufnahmestudio“, erzählt Hauke Röh, der ausgebildeter Erzieher ist und
       soziale Arbeit studiert. „Wir konnten uns ganz intensiv auf die Songs
       einlassen. Alles, was uns abgelenkt hat, waren die Gäste.“
       
       Das „geil verspulte“ (O-Ton Röh) achte Album der Band ist auch das erste
       bei Bureau B. Die Gästeliste auf „Blick“ liest sich wie ein Who is Who des
       auf Elektronik und Avantgarde spezialisierten Labels: Pyrolator, Harald
       Grosskopf, Jean-Hervé Péron und Zappi Diermaier von Faust und als Produzent
       Schneider TM. Auf jedem der neun Songs ein anderer Gast, bekannte Figuren
       der deutschen Krautrock-Szene, dazu NDW-Größe Andreas Dorau.
       
       Inklusion heißt, nicht zwischen Kategorien zu unterscheiden 
       
       „Wir haben nicht viel abgesprochen, einfach aufeinander gehört“, sagt
       Sebastian Stuber, mit 17 Jahren Bandzugehörigkeit der Dienstälteste bei
       Station 17. Der Mann am Synthesizer ist seh- und lernbehindert und verfügt
       über ein absolutes Gehör. Bassist Röh wundert sich noch immer über die
       Fähigkeit des Keyboarders, eine Tonart in Sekundenschnelle herauszuhören:
       „Als ich Sebastian kennenlernte, sagte er mir, dass ich in F-Dur und G-Moll
       spreche.“
       
       Das Wort „Inklusion“ fällt erst nach einer Stunde Gespräch. Während im
       Proberaum aufgeräumt wird, sitzt Hauke Röh in der Literaturwerkstatt.
       „Inklusion heißt: Menschen mit Behinderung nehmen teil. Aber es bedeutet
       auch, nicht zwischen Kategorien wie Mann oder Frau, hetero- oder
       homosexuell zu unterscheiden. In dem Moment, in dem wir Musik machen, ist
       so ein Status total unerheblich.“
       
       Und was ist mit dem unseligen Begriff „behindert“? Röh: „Ich spreche lieber
       von Menschen mit Behinderung. Das lässt offen, ob der Mensch behindert ist
       oder behindert wird. Diesen Status sucht man sich ja nicht selber aus.“
       
       Was die Barner 16 in Europa einmalig macht: Alle sind als Künstler in einer
       Vier-Tage-Woche angestellt und können frei ihrer Kunst nachgehen. Für
       Stuber, Schnettler und die anderen Angestellten bedeutet das: Sie haben den
       Proberaum an mehreren Tagen in der Woche für sich. „Ein absoluter Luxus“,
       sagt Hauke Röh und scheint noch immer zu staunen. Als Mitglied der
       Punkrockband Schrottgrenze ist er andere Verhältnisse gewohnt.
       
       18 Stunden Musik hat die Band aufgenommen 
       
       Allerdings muss die Einrichtung die Löhne ihrer Beschäftigten selbst
       erwirtschaften. Deshalb gehen Station 17 auf Reisen. Neun plus x werden sie
       auf der bevorstehenden Tournee sein, als Gäste beim Gig am 6. April im
       Hamburger Kampnagel werden Jean-Hervé Péron, Zappi Diermaier und Andreas
       Spechtl von Ja, Panik erwartet.
       
       Noch mehr von solchen Avantgarde-Fummlern, deren Experimentierfreude sich
       so prächtig mit der Verspieltheit der neun Altonaer Musiker zusammenfügt,
       gibt es dann im Herbst: Das nächste Station-17-Album, mit weiteren Songs
       aus den letztjährigen Sessions, ist bereits fertig. Material gab es mehr
       als genug: 18 Stunden Musik hatte man an der Nordsee aufgenommen.
       
       Nach der Verabschiedung von den vier Bandmitgliedern wartet Silvano am
       Ausgang. Noch einmal erzählt er seine Lebensgeschichte im Eiltempo, grinst
       wieder, als er von seiner Krankheit berichtet. Erneut erwähnt er Elvis und
       macht mit den Händen eine Bewegung, als würde er einen Gitarrenakkord
       anschlagen.
       
       Ein eigenes Musikvideo, in dem Silvano zu melancholisch-jazzigen Klängen
       von den gewalttriefenden Meldungen der Tagespresse sprechsingt, gibt es
       schon: „Mörder“. Vielleicht wird Silvano ja tatsächlich auf dem
       übernächsten Station-17-Album zu hören sein. Doch in der Gegenwart zählen
       andere Dinge: Morgen spielt der HSV.
       
       15 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Paersch
       
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