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       # taz.de -- Soziologe über Gewalt unter Jugendlichen: „Messer sorgen für Respekt“
       
       > Nach Lünen und Berlin nun Flensburg: Wieder wurde ein Jugendlicher Opfer
       > einer Attacke. Soziologe Dirk Baier zu der Frage, warum Teenager sich
       > bewaffnen.
       
   IMG Bild: Polizei und Jugendliche hinter einer Polizeiabsperrung auf einem Schulhof in Lünen (NRW) nach einer Messerattacke im Januar 2018
       
       taz: Nach der Messerattacke von Berlin Anfang März ereignete sich jetzt in
       Flensburg wieder ein Fall, bei dem eine Minderjährige von einem
       Jugendlichen getötet wurde. Gibt es eine Zunahme solcher Angriffe? 
       
       Dirk Baier: Wenn man die nackten Zahlen der Fälle von schwerer Gewalt bei
       Jugendlichen betrachtet, so kann man in den letzten Jahre keinen Anstieg
       beobachten. Die Zahlen sind stabil oder sogar rückläufig, es handelt sich
       momentan eher um eine zufällige Häufung.
       
       Woher kommt der Eindruck, solche Attacken nähmen zu? 
       
       Das liegt meines Erachtens an der medialen Fokussierung auf das Thema, denn
       innerhalb kurzer Zeit wurde viel über diese Fälle berichtet. Menschen
       versuchen immer einen Sinn zu finden und Dinge miteinander in Beziehung zu
       setzen – auch wenn diese eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben.
       
       Die Tatbeschreibungen ähneln sich. Handelt es sich eventuell um
       Nachahmungstäter? 
       
       Aus der Forschung über schwere Gewalt wissen wir, dass es einen Effekt hat,
       wenn Jugendliche sehen, wie andere Jugendliche ihre Probleme lösen. Die
       Berichterstattung ist zweifellos gerechtfertigt, gleichzeitig kann dies
       aber auch Jugendliche ansprechen, die in ähnlichen Situationen stecken. Ich
       habe die Sorge, dass es sich negativ auswirkt, wenn einzelne Ereignisse
       eine so intensive Berichterstattung erfahren. Nicht umsonst gibt es die
       Selbstverpflichtung der Medien, über Selbstmorde nicht explizit zu
       berichten.
       
       Warum trugen die Jugendlichen Waffen? 
       
       Wir beobachten bei männlichen Jugendlichen einen Trend, Messer mit sich zu
       führen. Das hat zweierlei Gründe. Erstens gibt ihnen das ein gewisses
       Gefühl von Sicherheit – dahinter steckt die Idee, sich bei Gefahr schützen
       zu können. Außerdem sorgt es für Respekt und Anerkennung im Freundeskreis,
       wenn man ein Messer mit sich trägt. Das hat viel mit dem Ideal der
       Männlichkeit zu tun.
       
       In einem großen Teil der Fälle hatten die Täter einen
       Migrationshintergrund. Sind solche Jugendliche besonders gefährdet, zum
       Täter zu werden? 
       
       Bei Jugendlichen mit türkischem oder arabischem Hintergrund stellen wir
       eine starke Orientierung an sogenannten Männlichkeitsnormen fest. Diese
       beinhalten, dass man als Mann auf die eigene Ehre und die der Familie
       achten muss, dass man hierfür auch Gewalt einsetzen darf. Aber zweifelsohne
       gibt es auch sozial schwache deutsche Milieus, in denen ein ähnliches Ideal
       der Männlichkeit vermittelt wird.
       
       Das heißt, es kommt mehr darauf an, welche Vorstellungen von Männlichkeit
       bei den Jugendlichen vorherrschen? 
       
       Ja, denn eine starke Orientierung an Männlichkeit geht auch mit einer
       stärkeren Affinität zu Waffen einher. Das Tragen von Messern ist daher in
       einigen kulturellen Milieus weiter verbreitet. In emotional stressigen
       Situationen ist dann die Wahrscheinlichkeit höher, dass Messer eingesetzt
       werden und die Beteiligten schwer verletzt oder gar getötet werden.
       Männlichkeitsorientierungen und Waffenverfügbarkeit gehen in diesen Fällen
       eine unheilvolle Allianz ein.
       
       Der verurteilte Täter aus Hamburg-Barmbek wird viele Jahre im Gefängnis
       sitzen. Was passiert mit Jugendlichen, die schon so früh in ihrem Leben
       eine Gewalttat verübt haben? Besteht dort eine hohe Gefahr, dass sie als
       Erwachsene rückfällig werden? 
       
       Jugendliche befinden sich auch neurologisch gesehen in einer Phase des
       Wandels. Wenn sie in jüngeren Jahren eine Gewalttat begehen, können sie als
       Erwachsene ohne Weiteres ein normkonformes Verhalten an den Tag legen. Eine
       frühe Auffälligkeit bedeutet noch keine lebenslange Auffälligkeit. Aber
       daran muss intensiv gearbeitet werden. Haftstrafen machen in diesen
       Situationen tatsächlich Sinn – wenn die Täter dabei eng psychologisch
       begleitet werden.
       
       Welche Präventionsmaßnahmen gibt es und was scheint Ihnen speziell an
       Schulen ein geeigneter Ansatz, um solche Taten zu verhindern? 
       
       Die Schulen beschäftigen sich bereits seit vielen Jahren mit
       Gewaltprävention. Das Thema Waffen hat dabei in den letzten Jahren
       allerdings keine Rolle gespielt. Hier müssen wir in den Dialog gehen und
       fragen: Warum tragen Jugendliche Waffen? Was hat das mit Männlichkeit zu
       tun? Es tut zwar weh, den Schulen auch noch diese Aufgabe aufzutragen. Aber
       gerade dort passiert so viel, an den Schulen können wir Jugendliche aus
       allen Milieus erreichen. Wir müssen darüber reden, wie Jugendliche
       Anerkennung erhalten. Und was es heißt, ein Mann zu sein ohne dafür Waffen
       tragen zu müssen.
       
       17 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Kränzle
       
       ## TAGS
       
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