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       # taz.de -- Debatte Political Correctness: Jede Menge Märchen
       
       > Alt-Linke, die Angst vor einer neuen Meinungsdiktatur haben, sollten
       > lieber den Jungen zuhören – und den wahren Feind erkennen.
       
   IMG Bild: Sitzt beleidigt in seinem Turm und kommt nicht runter: Saruman (Christopher Lee)
       
       Eines der erfolgreichsten modernen Märchen kann erstaunlich aktuell sein.
       In „Der Herr der Ringe“ geht es im Kampf zwischen Gut und Böse auch um
       Türme, in die man sich beleidigt zurückzieht. Nicht zuletzt auch um Verrat.
       Der einst gute, im Verlauf der Erzählung aber zur dunklen Seite
       überwechselnde Zauberer Saruman etwa identifiziert den gemeinsamen Feind
       nicht länger im schwarz-braunen Reich von Mordor, sondern in einer ihm
       zugleich lächerlich wie autoritär-bedrohlich erscheinenden Koalition der
       Minderheiten von „normalen“, weißen Menschen mit so seltsamen Wesen wie
       Hobbits, Ents und Zwergen. Auf die Aufforderung seines Widerparts, des
       guten Zauberers Gandalf, doch den Turm zu verlassen und zur großen, bunten
       Koalition zur Verteidigung aller Lebewesen herunterzukommen, reagiert er
       aber verstockt.
       
       An diese wundersame Wandlung erinnert mich ein Teil meiner Alterskohorte
       50+: Vom sich von allen Seiten bedroht fühlenden Turmbewohner Uwe Tellkamp
       über seine Schriftstellerkollegin Monika Maron [1][bis hin zu einem
       Beitrag, der in der taz erschien] und auf den zu erwidern ich eingeladen
       wurde.
       
       Auch die Kollegin Edith Kresta erzählt ein Märchen, von oben herab, ihre
       Kontrahenten auf eine anonyme Masse reduzierend. Ein Märchen voller
       rational nicht nachvollziehbarer Kränkungen und Mythen: Wenn die Autorin
       etwa die Ächtung und Stigmatisierung anderer Meinungen beklagt, wo sie doch
       gerade – genau wie der von ihr geschätzte und gerichtsfest als
       rechtsradikal bezeichenbare HU-Professor Jörg Baberowski – prominent und
       ausführlich zu Wort kommt. Wenn sie von einer „schwammigen Political
       Correctness“ schreibt und dabei offensichtlich nicht bereit ist, die
       entsprechende Theorie und Praxis der letzten 25 Jahre zu reflektieren.
       
       Aber betrachten wir diese Erzählung meiner Altersgenossen aus einer
       allgemeineren Perspektive. Ihr Märchen geht ungefähr so: Nachdem sie selbst
       sich im politischen Kampf für die Erniedrigten, für den Umweltschutz, die
       Emanzipation und den Frieden aufgerieben haben, reklamiert nun eine
       Generation von Unterstrich- und Sternchenschreiber*innen, von genderirren,
       totalitär toilettenfragenfixierten, identitätspolitischen, „umgekehrten“
       Rassisten und Kopftuchlovern die Bühne und zerstört damit die Linke, die
       Meinungsfreiheit und die Arbeiterklasse. Und – das ist der ultimative Clou
       des Märchens – diese autoritäre Bewegungen ist eigentlich schuld am
       Aufstieg der völkischen Banden in Europa, den USA und sonst wo.
       
       Dank der Jugend ist das Private politisch 
       
       Nun genügt ein Blick auf eine beliebige Nachrichtenwebsite, um zu erkennen:
       Die Generation, die sich da so aufregt und die gewiss stets engagiert war,
       hat politisch ein Riesendesaster hinterlassen: einen verheerten Planeten,
       eine Welt, die „ein Spielball der international agierenden Konzerne, der
       smarten Oligarchen und nationalistischen Autokraten“ geworden ist – so
       sagte es Durs Grünbein am vergangen Mittwoch in der SZ. Ich könnte gar
       nicht anders, als die heutige Jugend zu verstehen, wenn sie den so
       wortreichen wie durchsetzungsschwachen Älteren kurz angebunden
       entgegenzischte: Shut the fuck up.
       
       Aber das tut sie nicht. Die Jungen leben im Gegenteil ihr eigenes Märchen.
       Wie von Zauberhand scheint alles, was sie anfassen, zu gelingen: Ob sie nun
       ein von Patina etwas angelaufenes Gedicht auf dem Weg zu ihrer
       Ausbildungsstätte nicht mehr täglich im Blick haben wollen; ob sie
       erfolgreich MeToo-, Anti-Brüderle-, Anti-Gender-Paygap- und
       Anti-Rassismus-Kampagnen betreiben; ob sie gegen Naziabtreibungsparagrafen
       kämpfen, Inklusion durchsetzen und Barrieren abbauen – also konkret
       Freiheit für alle schaffen: Sie sind smart, gebildet, auf der Höhe des
       Diskurses.
       
       Sie setzen um, dass das Private politisch ist: Während viele Frauen und
       Männer in den 1980er bis 2010er Jahren, den sozialstaatlich, rechtlich und
       partnerschaftlich patriarchalischen Verhältnissen geschuldet, sich –
       Kinderwunsch überhaupt vorausgesetzt – nur ein oder gar kein Kind leisten
       konnten, haben die Jungen in Deutschland endlich für alle, also auch für
       Nichtheterosexuelle rechtssichere und zumindest stark verbesserte
       Verhältnisse fürs Kinderkriegen und mit Kindern zu leben durchgesetzt.
       
       Wer so erfolgreich ist, wird geschmäht – und was würde sich da besser
       eignen als die Erinnerung an die Ideale von 1968 sowie das Argument, die
       modernen Revolutionäre würden ja nur wie die Fische im Wasser des
       neoliberalen Mainstreams schwimmen. Diese Kritik unterschlägt, dass von
       1968 nur geblieben ist, was ohnehin auf der Agenda des Kapitalismus stand:
       die Liberalisierung, Individualisierung, Flexibilisierung,
       Kommerzialisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche. Das ist
       keineswegs gering zu schätzen; denn wie sagt der alte Neoliberale Bertolt
       Brecht: „Es setzt sich nur soviel Wahrheit durch, wie wir durchsetzen.“
       
       Schluß mit der Verstocktheit 
       
       Umgekehrt gilt freilich: Eine nörgelnde Alt-Linke, die nicht mal das
       Hartz-IV-Regime hat verhindern können, muss sich an die eigene Nase fassen,
       wenn NSDAP-Nachfolgeorganisationen wie die AfD die liegengelassenen Themen
       aufgreifen. Dies den Nachgeborenen anzulasten, die sich in den verheerten
       Verhältnissen zurechtfinden müssen – dazu gehört schon eine gehörige
       Portion Verstocktheit.
       
       Womit wir wieder bei Saruman und Gandalf sind: Wollt ihr, werte
       selbsternannte Verteidiger der Meinungsfreiheit, nicht ausnahmsweise mal
       zuhören? Wollt ihr nicht gegen das mörderische Neonazi-Mordor kämpfen,
       gegen die Höckes und Zschäpes wie gegen die neoliberalen
       Radikalopportunisten, die sich derzeit zynisch als Freunde des einfachen
       weißen Mannes geben? Wollt ihr tatsächlich lieber sitzen bleiben in eurem
       Turm? Und euch selbst dabei zuhören, wie euer Gejammer sich mehr und mehr
       wie das der rechtsradikalen Angstbeißer anhört?
       
       Wollt ihr nicht lieber herunterkommen?
       
       16 Mar 2018
       
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