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       # taz.de -- Junge Russen vor der Wahl: Der Zar und die Jugend
       
       > Am Sonntag wird Wladimir Putin wohl erneut zum Präsidenten gewählt. Seit
       > 18 Jahren ist er an der Macht. Was halten junge Russen davon?
       
   IMG Bild: Will er nur spielen? Putin als Püppchen
       
       ## „Das System wird zusammenbrechen“
       
       Er ist einer der hartnäckigen Demonstranten, die kaum eine Gelegenheit
       auslassen, Unzufriedenheit mit dem System Putin zu zeigen. „Ich klettere
       aber nicht auf Laternenmasten, das wäre die nächste Stufe der
       Radikalisierung“, sagt der 27-jährige Marketingexperte und lacht. Er ist
       Vater eines fünfjährigen Sohnes, lebt aber von seiner Frau getrennt.
       Fortunkov hat in London studiert, kehrte nach dem Studium aber gleich nach
       Moskau zurück. „Ich fühle mich in Russland sehr wohl – solange ich keine
       Nachrichten schaue.“ Das Abschalten fällt Fortunkov jedoch schwer. Er ist
       ein Kosmopolit, spricht mehrere Sprachen, hat auch schon in den USA gelebt.
       
       Die Korruption im Land und die außenpolitische Isolation treiben ihn um.
       Putin wolle diese Probleme nicht angehen, sagt er. Fortunkov kommt aus
       einer Familie, in der es mehrere erfolgreiche Unternehmer gibt. In der
       Wirtschaft laufe es insgesamt aber schlecht, sagt er. Mit großen
       Innovationen sei nicht zu rechnen.
       
       Fortunkov glaubt, dass das System Putin bald zusammenbricht. „Der Kreml
       schiebt den Untergang nur hinaus“, sagt er. Je später das System
       zusammenfalle, desto schlimmer werde es für Russland. Putin und seine
       Entourage wüssten nicht mehr, woher sie das Geld nehmen sollten. Überlegt
       werde sogar, den Nachhilfeunterricht für Schüler zu besteuern.
       
       Zurzeit besucht Fortunkov eine Schauspielschule. Das war immer sein Wunsch.
       „Unter den Mitschülern bin ich der Einzige, der gegen Putin wettert. Meine
       Schulkollegen haben sich aber schon daran gewöhnt.“ In Russland sei es
       nicht üblich, einen Politiker so schroff anzugreifen. Seine Schulkollegen
       ließen ihn aber gewähren, auch weil es sie nicht interessiere. Keiner
       seiner Mitschüler sei ein Putin-Verehrer. Doch sie sagten: „Wir können
       nicht ohne Zaren.“ Natürlich wüssten alle, dass auch der Präsident korrupt
       sei und kräftig zulange, sagt Fortunkov.
       
       Er selbst wird nicht zur Wahl gehen. So wie es der Oppositionspolitiker
       Alexei Nawalny, der selber nicht kandidieren darf, empfohlen hat.
       
       ***
       
       ## „Kein selbstständiges Denken erwünscht“
       
       „Russland braucht ein neues Gesicht“, sagt Anja Orlowa. „Einen anderen
       Präsidenten.“ Orlowa ringt dem Unvermeidlichen, der Wiederwahl Wladimir
       Putins, aber auch etwas Positives ab. „Dass dies nun die letzten sechs
       Jahre des Präsidenten sein müssten, dieser Gedanke wärmt mir das Herz“,
       sagt sie.
       
       Orlowa heiratete als sehr junges Mädchen, ließ sich aber wieder scheiden
       und lebt heute mit ihrem Freund zusammen, von dem sie ein Kind erwartet.
       Dass irgendwann nach Putin ein anderer die Bühne betreten werde, diese
       Hoffnung helfe ihr, durchzuhalten.
       
       Orlowa ist in Krasnoarmejsk geboren, einer Rüstungsindustriestadt bei
       Moskau. Heute entwickelt sie neue Lernmethoden für private Schulen. Die
       staatlichen Schulen seien nicht interessiert an Innovationen, sagt sie. Der
       Bildungsbereich sei auf dem Stand der 60er Jahre. Abfragbares Wissen werde
       gefordert. Vorbild ist noch der Industriearbeiter, der für die Produktion
       trainiert wird. „Selbstständig denkende Personen haben in diesem System
       kaum eine Chance.“
       
       Es sei blauäugig, anzunehmen, Putin werde in seiner letzten Amtsperiode nun
       alles nachholen, was in den vergangenen 18 Jahren versäumt worden sei, sagt
       sie. Dabei denkt Orlowa nicht nur an das Bildungswesen. Auch das
       Gesundheitswesen sei reformbedürftig. „Wenn hier gespart wird, läuft das
       aber unter Reform.“
       
       Orlowa weiß noch nicht, wen sie am 18. März wählen wird. Dürfte der
       Antikorruptionskämpfer Nawalny antreten, hätte sie ihm gegenüber trotzdem
       Vorbehalte. Sie ist nicht sicher, ob er sich im Amt an demokratische
       Spielregeln halten würde. Sie könnte sich vorstellen, der
       Fernsehjournalistin Xenia Sobtschak ihre Stimme zu geben. Sobtschak ist
       umstritten, ihr wird vorgeworfen, vom Kreml selbst ins Rennen geschickt
       worden zu sein, um den Wahlen etwas Farbe zu verleihen. „Das könnte sein“,
       sagt Orlowa. „Sie ist aber mutig und greift Tabuthemen auf.“ Alle anderen
       Kandidaten sind Männer und seit 20 Jahren eingeführte Sparringspartner des
       Kremlchefs.
       
       ***
       
       ## „Früher glaubte ich, dass ich etwas verändern kann“
       
       „Ich erinnere mich noch, wie erleichtert die Erwachsenen waren, als
       Wladimir Putin im Jahr 2000 zum Präsidenten gewählt wurde“, sagt Katja
       Nekrasowa. Sie war damals 15 Jahre alt und lebte in Jekaterinburg, fast
       2.000 Kilometer östlich von Moskau. Politik interessierte sie nicht. Doch
       auch sie verspürte in ihrem Umfeld damals eine Art Aufschwung. Mit dem
       jungen energischen Präsidenten ging es bergauf im Land. Nekrasowa zog nach
       Moskau, studierte Textildesign, ein Traum ging für sie in Erfüllung.
       
       Für Politik begann sie sich erst 2011 zu interessieren. Damals kam heraus,
       dass die Kremlpartei „Einiges Russland“ bei den Dumawahlen betrogen hatte.
       Es kam zu Massenprotesten. Der Kreml wurde nervös. Er versprach Reformen im
       Wahlrecht für mehr Mitbestimmung. „Damals glaubte ich, dass sich etwas
       verändert. Dass ich sogar mit meinem Stimmzettel etwas verändern kann“,
       sagt Nekrasowa. Doch sie wurde enttäuscht, wie so viele Russen. Die
       Repression habe seither zugenommen, sagt sie.
       
       An Demonstrationen nimmt die selbstständige Textilingenieurin und
       Designerin heute nicht mehr teil. Sie will nicht verhaftet werden. Ohnehin
       hätten die Proteste wenig eingebracht. Auch Verurteilungen wegen kritischer
       Posts im Internet nehmen seit Jahren zu. Die Behörden gingen selektiv vor,
       gerade das verunsichere, sagt sie.
       
       Natürlich werde Putin wiedergewählt, sagt Nekrasowa. Aber es gehe nicht
       bloß um die Person Putin. Es gehe um die verkrusteten Machtstrukturen.
       Solange sich daran nichts ändere, werde am Ende immer irgendein Putin
       herauskommen.
       
       Die Aussicht auf mindestens sechs weitere Jahre Putin hätte viele kreative
       Menschen in eine Apathie versetzt, erzählt sie. Die Menschen seien lustlos
       und hätten nur noch einen Wunsch: Lasst uns bitte in Ruhe! „Hier herrscht
       Stillstand, politisch, wirtschaftlich und technologisch.“ Nekrasowa hat die
       Hoffnung auf Veränderung aber nicht verloren. „Ich spüre, dass irgendetwas
       passieren muss“, sagt sie. So könne es doch nicht ewig weitergehen.
       
       Sollte die Atmosphäre noch bleierner werden und die Repressionen zunehmen,
       überlegt sie, ins Ausland zu gehen. Beruflich komme sie in Russland nicht
       weiter, der Textilbereich sei unterentwickelt. „Wenn ich im Ausland Arbeit
       finde und dazulernen kann, bleib ich auch gerne dort.“
       
       ***
       
       ## „Putin ist für mich so etwas wie ein zweiter Vater“
       
       Er sei mit Präsident Wladimir Putin aufgewachsen, sagt Wladislaw Murajew.
       „Putin ist für mich so etwas wie ein zweiter Vater. Ich kann mir gar nicht
       vorstellen, dass jemand anders Russland regieren könnte“, sagt Murajew.
       „Was sollte ich dann machen?“
       
       Die Verstörung ist weder gespielt noch Koketterie. Wann immer er Zeit hat,
       verfolgt er im Fernsehen oder im Internet, was der Präsident macht. „Dann
       schaue ich mir alles an“, sagt Murajew. Und die Korruptionsvorwürfe an die
       Adresse des Präsidenten? „Alles nur Gerüchte“, sagt Murajew. Wladimir
       Wladimirowitsch sei ein anständiger Mensch, beteuert er. Murajew freut sich
       auf die Wahl. Er ist 18 und darf zum ersten Mal wählen gehen. Im Sommer
       wird er Abitur machen.
       
       Murajews Vater dient in der Rosgwardija, der russischen Nationalgarde. Sie
       wurde vor zwei Jahren vor allem zum Schutz des Präsidenten und der inneren
       Sicherheit aus Truppen des Innenministeriums gegründet. Auch sein Vater
       hält den Kremlchef für einen ausgezeichneten Präsidenten, sagt der Sohn.
       
       Die Familie zog 2012 von Sankt Petersburg nach Moskau. Der Vater wurde
       damals versetzt. Auch die Mutter und der ältere Bruder dienen im Militär.
       Murajew hofft ebenfalls auf eine Karriere bei den Streitkräften. „Die
       Plätze sind begehrt“, sagt er. Sollte es nicht klappen, wolle er
       stattdessen vielleicht Geschichte auf Lehramt studieren. Das wisse er noch
       nicht so genau.
       
       Er arbeitet fünfmal in der Woche nach der Schule von 17 bis 22 Uhr bei
       McDonald’s in der Küche. Von den Eltern möchte er unabhängiger sein, vor
       allem materiell. Stört ihn als großer Patriot nicht, dass er mit dem
       Burgerbraten bei einem US-Konzern Geld verdient? „Nein, McDonald’s gibt es
       schon so lange bei uns.“ Eigentlich sei die Kette in Russland auch schon
       russisch, sagt er und muss lachen. „Schauen Sie auf die Speisekarte, wie
       viele russische Spezialitäten da draufstehen.“ Und auch der Kapitalismus
       habe ja schon längst Einzug gehalten in Russland.
       
       Mit Politik hat Wladislaw Murajew sich bisher wenig befasst. Doch Russland
       müsse sich ständig gegen Angriffe auf seine Souveränität zur Wehr setzen,
       ist er überzeugt. Das sei in der Geschichte schon immer so gewesen. Die
       Bedrohung durch die Nato, deren Vorrücken auf Russland nach dem Ende des
       Kalten Kriegs und den US-Raketenabwehrschirm, der sich laut Murajew auch
       gegen Moskau richte, nennt er als Beweise.
       
       Vor den Wahlen wird sich Murajew noch zusammen mit seinem Vater den
       Dokumentarfilm „The Putin Interviews“ von US-Regisseur Oliver Stone zu Ende
       anschauen. „Der erste Teil des Films gefiel mir sehr gut“, sagt Murajew.
       Zeige der Film nicht unkritische Interviews, in denen Putin einfach nur
       Propaganda-Sätze sagen dürfe? „Nein“, sagt der junge Mann. Es klingt sehr
       entschieden.
       
       17 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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