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       # taz.de -- Werkausgabe von Laurence Sterne: Es itzt und dünkt sich allenthalben
       
       > Großmeister der Abschweifung: Vor 250 Jahren starb Laurence Sterne,
       > Verfasser des „Tristram Shandy“. Zum Jubiläum ist eine Werkausgabe
       > erschienen.
       
   IMG Bild: Für Frauen galt die Lektüre des „Tristram Shandy“ seinerzeit als „unschicklich“: ein Gravourporträt von Laurence Sterne aus dem 18. Jahrhundert
       
       „Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle
       beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen beiden zu gleichen
       Teilen, hätten bedacht, was sie taten, als sie mich zeugten ; hätten sie
       gebührend in Betracht gezogen, wie viel von dem abhing, was sie da gerade
       trieben ; …“
       
       Dieses erste Drittel des einleitenden Satzes von Laurence Sternes Roman
       „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“, in neun Teilen
       zwischen 1759 und 1767 erschienen, lässt Leser*innen ahnen, was die
       folgenden 744 Seiten für sie bereithalten: eine ausufernde Erzählung, die,
       anstatt über das Leben des Titelhelden zu informieren, sich in lustvollen
       Abschweifungen verliert, die sprachverliebt ist, die jede Gelegenheit
       nutzt, sexuelle Zweideutigkeiten „an den Mann“ zu bringen – für Frauen galt
       die Lektüre des Romans als unschicklich.
       
       Geschrieben von einem Landpfarrer, dessen Steckenpferd eher Aufsehen
       erregende Predigten als die stille Seelsorge waren, [1][der in seinem Werk]
       kaum verschlüsselt die Eitelkeiten der Gesellschaft von York aufs Korn nahm
       – der nordenglischen Stadt, in deren Nähe Sterne (1713–1768) die meiste
       Zeit seines Lebens zubrachte, bevor er ab 1760 in London als Salonlöwe
       Furore machte. Der sich um Gattungskonventionen des sich gerade eben
       etablierenden Romans nicht scherte, Leser*innen mit seitenlangen
       Satzgirlanden selbst zum Abschweifen verführt, und dessen eigentümliche
       Interpunktion eine weitere Geschichte erzählt – wenn man sie hören will.
       
       Der Münchner Übersetzer Michael Walter hat diese Gemengelage seit 35 Jahren
       im Blick – 1983 erschien seine Übersetzung des ersten Bands von „Tristram
       Shandy“, 1991 die des neunten. Seither überarbeitet er das Werk zu fast
       jeder Neuauflage, hat es mit Anmerkungen versehen, die politische,
       gesellschaftliche und private Umstände erläutern. In ihnen erklärt er nicht
       mehr gebräuchliche Wendungen, dokumentiert die Entstehungs- und
       Publikationsgeschichte des Romans. Vor allem aber hat er Sternes
       Sprachkapriolen gewitzt in ein zeitgenössisches Deutsch übertragen – es
       itzt und dünkt sich allenthalben.
       
       Das passende Vokabular, von Substantiven bis Redewendungen, hat er sich,
       wie er der taz erzählt, mit der Lektüre deutscher Autoren des 18.
       Jahrhunderts angeeignet. „Er sollte klingen wie ein deutscher Autor, am
       ehesten wie Jean Paul, letzten Endes ist es aber ein Kompositum aus den
       literarischen Stilen des 18. Jahrhunderts.“ Zudem hat er, wie Sterne auch,
       obsolete Wörter verwendet, „nicht deckungsgleich, aber wo es passte“.
       „Sterne hatte einfach Spaß an so was“, sagt Walter. Diese Fabulierlust
       strömt auch aus jeder Seite der deutschen Version – und fordert heutigen
       Leser*innen auch einige Aufmerksamkeit ab.
       
       ## Reise in milderes Klima
       
       Für Walter ist eine Übersetzung nicht in Stein gemeißelt, „sie entwickelt
       sich weiter, wie man selbst ja auch“. Für die erste deutsche Werkausgabe,
       mit der der Galiani Verlag Sterne nun zum 250. Todestag ehrt, hat Walter
       seine erstmals 2010 erschienene Übersetzung von Sternes „Eine empfindsame
       Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick“ stark überarbeitet.
       Insbesondere im ersten Drittel habe er mit dem Abstand von ein paar Jahren
       Passagen verändert, der Ton stimme nun mehr, einiges habe er „noch
       angespitzt“.
       
       In dem unvollendet gebliebenen zweibändigen Roman – angelegt war er auf
       vier und Sterne starb wenige Wochen nach Erscheinen des ersten Bands –
       erzählt der unter Tuberkulose leidende Sterne als sein Alter Ego Mr. Yorick
       von seiner Reise in milderes Klima. Auch hier besticht er mit
       hintergründigem Witz, beißendem Urteilsvermögen und – Freude an der
       Abschweifung.
       
       Unter der Bezeichnung „Einfache Reisende“ folgt: „Sonach reduzieret sich
       der ganze Zirkel der Reisenden auf folgende Rubriken. Müßige Reisende,
       Wissbegierige Reisende, Lügnerische Reisende, Dünkelhafte Reisende, Eitle
       Reisende, Milzsüchtige Reisende. Alsdann folgen die Reisenden aus
       Notwendigkeit. Der pflichtvergessene und schurkische Reisende, Der
       unglückliche und unschuldige Reisende, Der einfache Reisende, Und endlich
       (mit Verlaub) Der Empfindsame Reisende (worunter ich meine eigene Wenigkeit
       verstehe) als welcher gereiset ist, worüber Rechenschaft abzulegen ich mich
       nunmehr niedersetze – …“ Bei allen Abschweifungen vergisst er im Verlauf
       nicht, seine Reisebekanntschaften in eine dieser Rubriken einzuordnen.
       
       ## Mit Sorgfalt komponiert
       
       Anders als zu der Zeit in Deutschland üblich, gestaltet Sterne seinen
       Reisebericht nicht sachlich-informativ, sondern stellt zwischenmenschliche
       Begegnungen, (wenig klerikale) Gefühle und Empfindungen in den Vordergrund.
       Hierzulande war der Roman noch erfolgreicher als „Tristram“ und die
       Wortneuschöpfung „Empfindsamkeit“ gab einer ganzen literarischen Epoche
       ihren Namen. Neben kürzeren Schriften wie „Tagebuch des Brahmanen“ liegen
       auch die „Briefe an Eliza“ in neuer Übersetzung vor. Sterne schickte die
       gleichsam gefühlsbetonten und witzigen Briefe an seine verheiratete
       Geliebte Elizabeth Draper nach Bombay. Sämtliche Briefe dieser Edition
       stützen sich auf die „in immenser wissenschaftlicher Anstrengung
       erstellten“ und 2009 bei der University Press of Florida herausgekommenen
       „Florida Edition“, und mit Brief 14 gibt es sogar einen, der erst nach
       deren Veröffentlichung gefunden wurde.
       
       „Die Briefe“, die er an Freunde, seinen Verleger, höherrangige Geistliche,
       Geliebte oder den damaligen Außensekretär William Pitt richtete, offenbaren
       den scharfen intellektuellen Geist Sternes und geben lebendigen Einblick in
       die gesellschaftlichen Gepflogenheiten des 18. Jahrhunderts. Um sie in Form
       und Ton der Zeit zu bringen, stützte sich Walter auf einen Briefsteller aus
       dem Jahre 1766, der „einen starken Vorrath auf allerley Fälle
       wohlausgearbeiteter Briefe“ bietet und eine Grammatik für Formulierungen.
       
       Mit wie viel Sorgfalt diese Werkausgabe komponiert wurde, zeigt sich nicht
       zuletzt in der Gestaltung: Die marmorierten Einbände sind ein Echo auf
       Sternes berühmte handgedruckte „marbled page“, die jedes Exemplar der
       Erstausgabe zu einem Unikat machte. Herausgeber Wolfgang Hörner schreibt in
       seiner „Biographischen Skizze“: „So, wie das Wesen jedes Menschen anders
       ist, ist damit auch jedes einzelne Buch individuell.“ Genau wie die
       Abschweifungen, in denen sich die Leser*innen verlieren.
       
       18 Mar 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://gutenberg.spiegel.de/autor/laurence-sterne-568
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sylvia Prahl
       
       ## TAGS
       
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