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       # taz.de -- Berlin und die Anker-Zentren: Abschreckung à la Bayern?
       
       > Die Kasernierung Geflüchteter, wie sie der „Heimatminister“ will, lehnt
       > R2G ab. Flüchtlingsrat sieht bereits Seehofer’sche Zustände.
       
   IMG Bild: „Rückführungseinrichtung“ für Balkanflüchtlinge in Bamberg
       
       Berlin taz | Die von der neuen Bundesregierung geplanten
       „Anker-Einrichtungen“ für Asylbewerber stoßen bei Berlins rot-rot-grüner
       Landesregierung auf einhellige Ablehnung. „Das ist organisierte
       Desintegration und die Disqualifizierung von Menschen, die hierherkommen“,
       sagte Integrationssenatorin Elke Breitenbach (Linke) auf taz-Anfrage. Die
       für das Thema zuständige SPD-Abgeordnete Ülker Radziwill erklärte, die
       Anker-Einrichtungen verstießen „gegen die Grundprinzipien und das
       Menschenbild der drei Koalitionsparteien“.
       
       Die Große Koalition will laut Koalitionsvertrag „zentrale Aufnahme-,
       Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen (ANkER)“ einrichten, in denen
       Asylbewerber bis zum Abschluss ihres Verfahrens bleiben müssen. Ziel ist
       angeblich, die Asylverfahren zu beschleunigen und abgelehnte Geflüchtete
       leichter abschieben zu können. So sollen nur noch Menschen mit „positiver
       Bleibeperspektive“ auf die Kommunen verteilt werden.
       
       Am Freitag drückte der neue „Heimatminister“ Horst Seehofer (CSU) per Bild
       auf die Tube und kündigte an, das Gesetzesvorhaben bis zur Sommerpause
       durchzudrücken. „Ein erstes Anker-Zentrum soll bis zum Herbst entstehen“,
       so Seehofer.
       
       Vorbild sind offenbar bestehende Zentren in den bayerischen Städten Bamberg
       und Manching. Die Asylbewerber leben dort weitgehend isoliert von der
       Bevölkerung, dürfen nicht arbeiten, keine Deutschkurse besuchen, die Kinder
       nicht in reguläre Schulen gehen. Abgelehnte Asylbewerber, die nicht
       abgeschoben werden können, hängen dort auf unabsehbare Zeit fest. „Die
       Ankerzentren verbauen jegliche Chance, dass die Menschen sich in die
       Gesellschaft integrieren können. Sie sind dort zum Nichtstun verurteilt“,
       kommentiert Breitenbach.
       
       Zumal den Menschen durch die Kasernierung der Kontakt zur Bevölkerung sehr
       erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht wird, wie SPD-Politikerin Radziwill
       betont. „Ehrenamtliche Unterstützer und Unterstützerinnen sind für die
       Menschen und ihre Integration sehr wichtig. Sie erklären auch wie unsere
       Gesellschaft funktioniert. In diesen Masseneinrichtungen wird es das nicht
       mehr geben.“ Nach Ansicht von Radziwill könnte genau dies sogar
       beabsichtigt sein. „Die Idee scheint aber auch genau das verhindern zu
       wollen, um dann aufgrund von fehlender Integration diese Menschen schneller
       abschieben zu können.“
       
       ## Ausweitung bestehender Politik
       
       Auch Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin übt scharfe Kritik: Mit den
       Zentren würden – zum Zwecke der Abschreckung – die Grund- und
       Freiheitsrechte Geflüchteter „durch Arbeits- und Ausbildungsverbot,
       Residenzpflicht, Bargeldentzug, Fertigessen, Kleiderkammern,
       Anwesenheitskontrollen, Besuchskontrollen und -verbote etc. eingeschränkt“.
       
       Gleichzeitig weist er aber darauf hin, dass die neuen Zentren letztlich nur
       eine Ausweitung der schon jetzt praktizierten Kasernierung Geflüchteter in
       Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) sind. Dort gibt es Residenzpflicht,
       Arbeitsverbot, Fertigessen und ein „Taschengeld“. Wie lange Geflüchtete
       dort leben müssen, variiert von Bundesland zu Bundesland.
       
       In Berlin dürfen Geflüchtete spätestens nach sechs Monaten aus der EAE in
       eine Wohnung ziehen – so sie denn eine finden. De facto leben die meisten
       weiter in einer Gemeinschaftsunterkunft, wo sie sich anders als in der EAE
       immerhin selbst verpflegen können (und daher auch mehr Geld bekommen).
       
       Unverständlicherweise, so der Flüchtlingsrat, habe das Landesamt für
       Flüchtlingsangelegenheiten in den vergangenen Monaten die Zahl der als
       Erstaufnahmeeinrichtung deklarierten Unterkünfte von 2.157 Plätzen in
       sieben Unterkünften auf 4.138 Plätze in 13 Unterkünften ausgeweitet. Und
       dies obwohl heute deutlich weniger Geflüchtete neu nach Berlin kommen als
       im „Flüchtlingsjahr“ 2015. Classen fragt daher: „Führt Berlin hier in
       vorauseilendem Gehorsam neue Restriktionen ein?“
       
       ## Immer noch Tempelhof
       
       Zudem kritisiert der Experte für Flüchtlingsrecht, dass der Senat, entgegen
       seiner Ankündigung, das „Ankunftszentrum“ im ehemaligen Tempelhofer
       Flughafen noch nicht geschlossen hat. Im dortigen Hangar 2 werden neu
       ankommende Geflüchtete die ersten Tage untergebracht; in dieser Zeit haben
       die meisten bereits ihre Asylanhörung, ohne sich darauf, etwa mit Hilfe
       einer unabhängigen Beratung, vorbereiten zu können.
       
       Classen: „Durch die extrem prekäre, gegen alle einschlägigen
       Bauvorschriften verstoßende, menschenunwürdige Unterbringung in türenlosen
       Verschlägen im Hangar in der alles entscheidenden Phase des Asylverfahrens
       hat Berlin schon jetzt Standards geschaffen, wie Herr Seehofer sie sich
       vermutlich wünscht.“
       
       Dagegen erklärt Breitenbachs Sprecherin Karin Rietz erneut, das
       Ankunftszentrum solle nicht im Hangar bleiben, man sei dafür auf der Suche
       nach einer anderen Immobilie. Was Seehofers Pläne ansonsten für die
       Berliner (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen bedeuten, sei noch unklar, so Rietz.
       Bundesgesetzliche Regelungen müsse man auf Landesebene natürlich umsetzen,
       man werde aber alle vorhandenen Spielräume zugunsten Geflüchteter nutzen.
       
       SPD-Politikerin Radziwill geht einen Schritt weiter und kündigt Protest
       gegen die Anker-Einrichtungen an. „In der Berliner SPD gab es schon bei der
       Entwicklung dieser Idee Proteste. Sicher wird es dagegen auch Proteste
       geben.“
       
       18 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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       etwa die Gewerkschaft.