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       # taz.de -- Klassentreffen Ost- und Westdeutschland: Von wegen Trennlinie
       
       > SchülerInnen aus Bielefeld, Rostock und Jena stellen ein gemeinsames
       > Treffen auf die Beine – und finden ganz andere Themen als die Politik.
       
   IMG Bild: Kochen verbindet – auch Schülerinnen und Schüler aus Ost und West
       
       Die vier Besuchstage der Bielefelder und der Rostocker an der
       Jenaplan-Schule Jena enden in der Küche. Kochen verbindet, wie man es auch
       von der Arbeit mit Flüchtlingen kennt. Ansonsten aber hinken solche
       Vergleiche. Niemand muss hier integriert werden, und das ist auch kein
       deutsch-deutscher Schüleraustausch, wie ihn der Thüringer Kultusminister
       Helmut Holter (Linkspartei) wiederbeleben will, um gegenseitigen
       Vorurteilen zwischen West und Ost vorzubeugen.
       
       Nichts dergleichen in Jena. Die Gäste vom Oberstufenkolleg aus Bielefeld
       und von der Werkstattschule Rostock kennen sich und die Thüringer über das
       Austauschnetzwerk „BlickRichtungVielfalt“, und dahinter steckt auch kein
       ministerieller Wunsch. Die Schülerinnen und Schüler haben das Treffen
       komplett selbst organisiert.
       
       Ganz zufällig ist die Begegnung aber nicht. Alle drei Schulen sind im
       Schulverbund „Blick über den Zaun“. Ein Verein mit ungefähr 140
       Mitgliedsschulen in Mitteleuropa, zufällig am Tag des Mauerfalls 1989
       gegründet. Die Überwindung der Föderalismusschranken war schon damals Teil
       der Agenda. „Zielgruppe: Schulleitungen und interessierte LehrerInnen“,
       heißt es in der Selbstdarstellung.
       
       2011 organisierten dann Schüler des Bielefelder Kollegs und der
       Jenaplan-Schule erstmals einen Austausch selbst. Organisiert haben ihn die
       ehemaligen Schüler Arne Arend und Vincent Heidemann. Sie studieren
       mittlerweile selbst Lehramt in Halle und Leipzig.
       
       In diesem März gab es also wieder einen Treff an historischer Stätte in
       Jena, wo Peter Petersen 1927 den ebenso integrativen,
       gemeinschaftsfördernden wie auch elitebetonten Jenaplan entwickelt hatte.
       Sein Name fiel allerdings während der Gespräche der teilnehmenden Schüler
       ebenso wenig wie das Erbe des geteilten Deutschlands. Es ging um
       schulpraktische Themen der Gegenwart.
       
       ## Vorurteile – nein danke
       
       Und wenn die Geschichte thematisiert wurde, dann mit Augenzwinkern. „Ach
       ja, das ist hier doch die Gegend, wohin früher Westpakete geschickt
       wurden“, lacht Leo Knauf aus Bielefeld. Vorurteile, die Narrative der
       Elterngeneration und Informationsdefizite, sind bei keinem der
       Austauschschüler ein Thema – weder aus dem Westen noch aus dem Osten noch
       aus dem Norden.
       
       Wenn überhaupt Ressentiments aufzuspüren sind, dann Richtung Südosten.
       „Thüringen ist Nordrhein-Westfalen ähnlicher als Bayern“, behauptet eine
       Bielefelder Stimme, und auch die Küstenkinder nicken.
       
       Der Föderalismus und seine Probleme spielten ebenfalls keine wirkliche
       Rolle. Sie werden allein schon dadurch gemildert, dass alle drei Schulen
       reformpädagogischen Ansätzen folgen. Das Bielefelder Oberstufenkolleg ist
       eine Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen, die unterschiedlichsten
       Schichten den Weg zum Abitur erleichtern soll.
       
       Die Rostocker Werkstattschule ist eine freie integrierte Gesamtschule. Die
       Selbstsicht der Jenaer scheint ebenfalls mögliche Schranken abzubauen. „Wir
       sind hier eine ziemlich linke Schule“, verkündet eine Achtklässlerin aus
       einer der jahrgangsübergreifenden Lern- oder Stammgruppen selbstbewusst.
       
       ## Kritisches Denken in Form von Kunst
       
       Ein Raum im Parterre dient als „Lagezentrum“. Tafeln mit Raumübersichten
       und Tagesplänen, Getränke und Notimbiss. Von hier schwärmen die Gäste zu
       freien Hospitationen aus. Zum Beispiel zu einer Stammgruppe der Stufen 7, 8
       und 9 im Kunstunterricht. Ergebnisse eines dreiwöchigen Grafikprojekts zu
       einem freien Thema werden diskutiert.
       
       Überall drückt sich ein kritisches Denken in Kunst aus. Die Menschheit als
       Schlange etwa, die sich selbst auffrisst, poetische Satelliten, die
       Kohlendioxidmonsterchen auffressen. Am Rande entwickelt sich ein Gespräch
       über das Schulkonzept. Einer Schülerin genügt der auf Kreativität und
       intrinsische Motivation setzende Jenaplan nicht. Sie möchte mehr gefordert
       werden, zum Beispiel in Deutsch.
       
       In Sachen Niveau und Engagement setzten die Teilnehmer Maßstäbe [1][für
       jeden Schüleraustausch]. „Bildungskritisch“ wolle man sein, sagte der
       quirlige und hellwache Organisator Vincent Heidemann. Nicht durch die
       Erstellung von Forderungskatalogen an „die da oben“, sondern in der
       direkten Debatte untereinander und mit den Schulverantwortlichen.
       
       Wann zum Beispiel sollte die verbale Leistungseinschätzung in die
       abschlussorientierte Notengebung übergehen? „Freundlichkeit versus
       Leistung“ heißt das Schlagwort, und einige reden vom „Übergangsschock“.
       Jenaplan-Schulleiter Frank Ahrens träumt von einer „Leistungskultur
       jenseits curriculativer Vorgaben“.
       
       ## Debatten und Entspannung
       
       Darf man die Pünktlichkeit so tolerant handhaben wie in Jena? „Aus der
       Pünktlichkeitserwartung wird Hoffnung“, räumt der Schulleiter ein. Die
       Gäste aus Rostock und Bielefeld loben viel, beispielsweise die in Jena
       üblichen Wochenpläne – und schildern ihre eigenen Systeme und Erfahrungen
       damit. So entspannen sich Debatten.
       
       Eine Elite- und Familienschule sei man doch in Wahrheit, reflektieren die
       Gastgeber. Und fragen sich: Was bringt eigentlich die wochenschließende
       Freitagsfeier? Und richtig, die Denkmalschutz-Vorgaben der Stadt als
       Schulträger führten zu einer „krankenhausmäßigen“ Sterilität der Wände und
       Räume. Rostock sei viel bunter. Dort gibt es auch einen Lehrer-TÜV, eine
       Bewertung durch Schüler.
       
       Ein Thema, das alle Schüler beschäftigt: wie neue und digitale Medien in
       den Schulalltag integriert werden. Ersetzt der „Aula“-Schülerblog nicht
       aufwendige Begegnungsreisen?
       
       Die ersten sind längst in die Küche abgezogen, da diskutieren die
       eifrigsten Schüler noch munter weiter. Der Jenaer Schulleiter Frank Ahrens
       sitzt bis zum Schluss dabei und freut sich über die Leidenschaft, mit der
       die Schüler bei der Sache sind. Schuldemokratie von unten eben.
       
       22 Mar 2018
       
       ## LINKS
       
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