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       # taz.de -- Elektronikfestival Sónar Reykavík: Parkhaus-Rave mit Björk
       
       > Soundclash zwischen Natur und Zivilisation: Ganz Island lauscht dem
       > Festival Sónar Reykjavík, das den Winter auf der Insel auskehrt.
       
   IMG Bild: Die Londoner Künstlerin Klein im Reykjavíker Harpa
       
       Reykjavík taz | Knirschendes Porzellan, in kleine Stücke zerborsten und
       wieder zusammengesetzt, um dann den Farbspielen und geometrischen Linien
       eines Kaleidoskops zu entsprechen. Die Assoziationen zu Sunnas Musik
       tendieren ins Psychedelische. Im Hintergrund pumpert ein träger Drumbeat
       als Herzschlag, darüber blubbern Soundsäfte, damit kratzt Sunna die Kurve
       zur eigentümlichen Melodie.
       
       „Here’s living“ heißt der Track der jungen isländischen Künstlerin. Etwas
       linkisch wirkt die junge Frau noch, wie sie in ihren Bewegungen auf der
       Bühne hin und her schwankt, und doch, Sunna zaubert aus ihrem Laptop, einem
       Mikrofon und einigen Effektgeräten eine Geisterstundenstimmung herbei.
       Obwohl es erst der frühe Freitagabend ist, Auftakt zum Elektronik-Festival
       Sónar Reykjavík, das zum sechsten Mal stattfindet. Und Sunnas Darbietung
       klingt vielversprechend.
       
       Wir sind im Sónar Complex, einer von vier Bühnen im Harpa, der großen
       Konzerthalle, direkt am Hafen der isländischen Hauptstadt gelegen. Sunna,
       die in der Schweiz Kunst studiert, ist für diesen prestigeträchtigen
       Auftritt nach Reykjavík gekommen und ganz Island nimmt von ihr Notiz. Wer
       nicht selbst zum Festival geht, fiebert am Radio mit oder wählt sich in den
       Soundcloud-Account des Festivals ein, um nachzuhören. Björk, die
       berühmteste isländische Künstlerin, ist auch immer dabei. Als fernes Echo
       im Sound von Sunna allemal.
       
       ## Das Konzerthaus als Amphibienfahrzeug
       
       Von außen sieht die Konzerthalle Harpa aus wie der Fahrgastraum eines
       Amphibienfahrzeugs – die schwarze, lamellenartige Fassade wurde von dem
       Künstler Ólafur Elíasson gestaltet –, drinnen tönt es voluminös und
       sinnlich. Eigentlich sollte die Konzerthalle weit größer ausfallen, das war
       vor der Bankenkrise 2006. Nun hat das Gebäude sieben Stockwerke, sie
       schmiegen sich in die urwüchsige Landschaft: In der Ferne verschwinden die
       schneebedeckten Gipfel auf der anderen Seite der Bucht in der anbrechenden
       Dämmerung. Positionslichter von Leuchttürmen blinken, eine steife Brise
       wirft die Gischt mit weißen Schaumkronen ins Hafenbecken, manchmal fegen
       Wellenbrecher bis auf die Straße, die am Harpa die Küste entlang führt.
       Pick-ups mit Monsterreifen und Pkws singen mit ihren Spike-Reifen auf dem
       Asphalt.
       
       Man muss bei der seltsamen Musik von Sunna an die Präsenz der Natur in
       Island denken, aber auch, wie die Zivilisation mit dieser Natur ringt. An
       das Tageslicht, das nach der Winterdunkelheit endlich aufgetaucht ist, und
       die gelegentliche Märzsonne. An die seltsamen Steinfiguren, die als Teil
       der Uferbefestigung direkt neben dem Harpa zu Hunderten aufgetürmt sind:
       Stumm grüßende Trolle und Feen. Wer dachte, die 1.500-jährige Geschichte
       der Sagen sei Spuk, wird in Island auf Schritt und Tritt daran erinnert,
       was für Magie von der Natur ausgeht.
       
       Steinþór Helgi Arnsteinsson, der freundliche Kurator von Sónar Reykjavík,
       stellt im Gespräch mit der taz klar: „20 Minuten vom Harpa entfernt beginnt
       die Wildnis. Die Kraft der Natur schlägt sich auch in der Musik nieder, man
       muss Natur nicht aus uns herauskitzeln, sie ist immer da.“ Rund 3.000
       Zuschauer werden an diesem Freitag im Harpa zugegen sein, wenn man bedenkt,
       dass in ganz Island gerade 330.000 Menschen leben, 200.000 im Großraum
       Reykjavík, eine Menge.
       
       ## Zwei, drei Galaxien entfernt
       
       Sónar Reykjavík vollführt in der Auswahl der Künstler einen Spagat zwischen
       Eigengewächsen wie Sunna und geschmackvoll ausgewählten internationalen
       Elektronik-KünstlerInnen. Das Franchise-Unternehmen des Festivals Sónar
       Barcelona ist unabhängig in der Programmgestaltung, was angenehm auffällt.
       Man merkt das etwa an dem kolumbianischen Künstler Julián Mayorga, der
       wenige Minuten nach Sunna auf der gleichen Bühne steht, aber stilistisch
       zwei, drei Galaxien von ihr entfernt ist.
       
       Mit Gitarre, Marracas und seinen Effektpads knallt Mayorga den Zuschauern
       einen giftspuckenden Gallesound vor den Latz. Eine Mischung aus Derwisch
       und Nutty Professor, so sieht er aus. Seine elektronisch aufgepimpten
       Cumbia-Beats steuert er scheint’s durch einen digitalen
       Teilchenbeschleuniger und singt dann über Quantenphysik. Wie bitte?
       Richtig, ein [1][rumpfbetonender Track] im karibischen „Champeta“-Rhythmus
       handelt von Quantenphysik, die Anwesenden beginnen vor der Bühne zu tanzen.
       
       „Heima“ bedeutet im Isländischen Zuhause, damit verwandt ist auch das Wort
       „heimur“, Erde, und „heimskur“, was so viel heißt wie Dummheit. Junge
       kreative Isländer geraten auf der Insel schnell an ihre Grenzen, dann gehen
       sie nach Kopenhagen, wo es eine große Exilgemeinde gibt, seit ein paar
       Jahren gibt es diese auch in Berlin. Was rund um das Sónar-Festival zu
       Diskussionen führt. Manche Dagebliebenen beklagen den Braindrain. Der sei
       auch dem Tourismus geschuldet, der seit der Bankenkrise boomt.
       Ferienwohnungen haben die Mieten in Reykjavík derart angehoben, dass
       Studenten und Künstler in die Vororte ziehen, wo sie sich ein Auto
       anschaffen müssen, weil der Nahverkehr unterentwickelt ist.
       
       ## Postindustrielle Wüste
       
       Diese Sorgen haben die Protagonisten in dem Anime-Film von Koji Morimoto
       nicht. Sie düsen mit Motorrädern durch die Lüfte, fangen unten auf der Erde
       Schmetterlinge, während sich die Umwelt allmählich in eine postindustrielle
       Wüste verwandelt. Die Bilder laufen stumm, während der britische Produzent
       Kode9 Musik aus barocken japanischen Computerspielen der späten achtziger
       Jahre dazu performt. Eine großartige Idee.
       
       Auf dem Parkdeck in der eisgekühlten Tiefgarage des Harpa kommt in der
       späten Freitagnacht schließlich Großstadt-Rave-Feeling auf. Als die
       Chicagoer Produzentin Jlin ihre reduzierte Version von Footwork-Sound
       ausspeit, nicken die Köpfe sofort. Hihats zischeln und Snaredrums
       schnarren, Jlin arrangiert diese Sounds, dass sie den ZuhörerInnen nur so
       um die Ohren pfeifen, das hektisch Rudernde ihrer Musik steckt an, mitten
       unter den Ravern: Björk, ausgelassen tanzend. Man muss auch tanzen, sonst
       friert man fest.
       
       Die Atmosphäre des Sónar Reykjavík“ ist familiär, warmherzlig, auch
       freigeistig. Wie eine Figur aus dem Black-Panther-Comic wandert am
       Samstagnachmittag der queere New Yorker Künstler Serpentwithfeet (Josiah
       Wise) die Uferpromenade entlang und singt. Der Mann, der auf die Erde fiel:
       Mit silbernen Schuhen und rotem Umhang scheint er öffentlich zu proben. Im
       gleichen Aufzug spielt er abends dann seine elektronisch verfremdeten
       Gospel-Torchsongs, die vom Publikum unter großem Jubel gefeiert werden.
       
       In der großen Sónar-Hall stehen zur Prime Time gegen halb zwölf die
       Lokalmatadorinnen Reykjavíkurdætur auf der Bühne. Acht Rapperinnen und zwei
       Djs, toughe Wikingerinnen in Knöpfjogginghosen und Basketballstrümpfen, die
       den Ensemblecharakter des Wu-Tang-Clans als feministische Gang neu
       inszenieren. Wie oft da ins Mikro gespuckt wird!
       
       Alle sind ständig in Bewegung, tanzen, hüpfen und deklamieren auf
       Isländisch und Englisch zu Trapbeats, die ächzen wie gerade gefällte
       Nordmanntannen kurz vor dem Umfallen. Bei „Pussy Pix“, einer lautmalerisch
       dargebotenen Kampfansage an die auch auf der Leinwand drastisch ins Bild
       gerückte rasierte Möse als Männerfantasie, skandieren alle mit.
       
       Künstlerischer Höhepunkt war in der Samstagnacht der Auftritt der
       britischen Musikerin Klein. Aus Feedback, Fieldrecordings und einzelnen,
       stark bearbeiteteten Samples formt die Londonerin einen imaginären
       Soundtrack für ihren jazzigen Gesang, den sie in aller Seelenruhe über den
       Lärm legt. Selbstvergessen singt Klein den perlenden Blues. Zwei lange
       Festivalnächte strengen an: Ein Königreich für ein heißes Bad! Zum Glück
       hat Island die weltschönsten öffentlichen Schwimmbäder, und zum krönenden
       Abschluss geht’s in einen 39 Grad heißen „Hot Pot“ an der eisklaren Luft.
       
       21 Mar 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?time_continue=2&v=y36kMMLDjpI
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
       ## TAGS
       
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