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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die fabelhafte Mary
       
       > Mary Wollstonecraft war eine der ersten Feministinnen. Sie setzte sich
       > für freie Liebe und die englische Arbeiterschaft ein.
       
   IMG Bild: Auch 250 Jahre nach ihrem Leben hat Mary Wollstonecraft noch Anhänger
       
       Die Engländerin Mary Wollstonecraft (1759–1797) war eine der Ersten, die in
       politischen Begriffen über die Situation der Frauen nachdachten. Sie hat
       nicht nur in ihrem persönlichen Leben alles darangesetzt, überkommene
       Hindernisse einzureißen, sondern war auch eine zentrale Figur der frühen
       Frauenbewegung und spielte eine entscheidende Rolle für die Entstehung
       eines Klassenbewusstseins in der englischen Arbeiterschaft.
       
       Beeinflusst von den französischen Jakobinern, forderten die „Radikalen“,
       wie sich die Bewegung in England nannte, demokratische Verhältnisse und den
       Sturz der Adels- und Kaufmannsoligarchie. Zwei Vordenker trugen zu ihrem
       Erstarken bei: der Aufklärer Thomas Paine, dessen „Rechte des Menschen“
       (1791) zur Bibel des demokratischen Radikalismus wurde, und der ehemalige
       Pfarrer William Godwin, der in seiner „Untersuchung zur politischen
       Gerechtigkeit“ (1793) eine ebenso revolutionäre wie optimistische Lehre zur
       unbegrenzten Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen und der Gesellschaft
       predigte.
       
       Im Lauf der 1790er Jahre entbrannte der „Krieg der Pamphlete“, dessen
       Hauptprotagonisten Thomas Paine und Edmund Burke waren, der als geistiger
       Vater des Konservatismus gilt. Radikale und Konservative traten
       gegeneinander an, auch auf der Straße. In dieser Debatte war Mary
       Wollstonecraft eine wichtige Stimme.
       
       In bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen – einer ihrer Großväter war
       Weinhändler, der andere besaß eine kleine Seidenfabrik –, wusste sie um die
       begrenzten Möglichkeiten für Frauen ihres Standes, die auf die Rolle des
       „Hausengels“ festgelegt waren. Mary Wollstonecrafts Vater war ein
       herrischer Despot, und ihre Mutter, die sie in ihrem ersten Roman
       porträtiert hat, versank in Apathie. Mary und ihre Schwestern erhielten
       nur eine oberflächliche Bildung in einer kleinen Schule in Yorkshire,
       während ihr älterer Bruder Jura studieren durfte. Später mussten die
       Schwestern schlecht bezahlte Stellen als Gouvernanten und
       Gesellschaftsdamen annehmen. 1784 eröffneten sie zusammen mit ihrer
       Freundin Fanny Blood eine Mädchenschule, die sie jedoch nach zwei Jahren
       aus Geldnot wieder schließen mussten.
       
       ## Die Macht der Bildung
       
       Das Unterrichten regte Wollstonecraft zu ihrem ersten Buch an, den
       „Thoughts on the Education of Daughters“ (1787). Darin erklärte sie Bildung
       zur wichtigsten Voraussetzung, um die Lage der Frauen zu verbessern. Da für
       Wollstonecraft der Ursprung des Übels wie auch das Mittel dagegen allein in
       der häuslichen Sphäre lag, blieb die Schrift jedoch in einem bürgerlichen
       Moralismus verhaftet. Wollstonecraft warnt darin beispielsweise die Mütter
       vor dem Einfluss ungebildeter Kindermädchen und diebischer Knechte.
       
       Dennoch wurde die Bildungsfrage zum Ausgangspunkt ihrer Politisierung. Denn
       ihre Schule stand gleich neben der Kapelle, in der Richard Price predigte,
       der bekannt wurde, als er 1789 in einer Predigt die Amerikanische und die
       Französische Revolution pries – und damit den Zorn von Edmund Burke
       erregte, der daraufhin sein Pamphlet über die Französische Revolution
       verfasste.
       
       Wollstonecraft begann die Zirkel der nonkonformistischen Protestanten, der
       sogenannten Dissenter, zu besuchen, die im anglikanischen England weder
       studieren noch offizielle Funktionen bekleiden durften. In diesen
       Kreisen, in denen der harte Kern der vorrevolutionären radikalen Bewegung
       und die Unterstützer der amerikanischen Unabhängigkeit und der Abschaffung
       der Sklaverei zusammenkamen, traf Wollstonecraft auf Joseph Johnson,
       Schlüsselfigur des Londoner Radikalismus und Verleger von Paine. Er
       veröffentlichte ihre „Thoughts“, dann ihren ersten Roman und beauftragte
       sie mit Übersetzungen und Rezensionen. Durch das Schreiben erlangte sie
       finanzielle Unabhängigkeit. Die Radikalen wurden so für Wollstonecraft zum
       Vehikel ihrer politischen und ökonomischen Emanzipation.
       
       Schon vor Paine schrieb Wollstonecraft eine viel beachtete „Verteidigung
       der Menschenrechte“ (1790). Am Tisch von Johnson lieferte sie sich Dispute
       mit Paine, mit den Romanautoren Mary Hays und Thomas Holcroft sowie mit
       William Godwin, der eine proto-anarchistische Kritik an jeder Form von
       Regierung vertrat. Godwin wurde ihr Geliebter und später ihr Ehemann. Er
       beschrieb die außerordentliche Hartnäckigkeit und das argumentative Talent
       seiner Frau, die ihre Gesprächspartner manchmal nicht zu Wort kommen ließ.
       1792 veröffentlichte sie dann ihre „Verteidigung der Frauenrechte“.
       
       ## Vorreiterin des Feminismus
       
       Die Französische Revolution brachte Wollstonecraft dazu, die Kritik am
       Despotismus auf die Situation der Frauen zu übertragen. Deren Lage war für
       sie nun nicht mehr das Resultat schlechter Bildung, sondern die Folge der
       systematischen Unterdrückung und Versklavung durch männliche Tyrannei. Die
       schon in der „Verteidigung der Menschenrechte“ vorgebrachte Kritik an dem
       „Schleier“, den der aristokratische Prunk über die nackte Unterdrückung des
       Volkes legte, machte sie sensibel für die ideologische Dimension der
       Unterjochung.
       
       In der „Verteidigung der Frauenrechte“ kritisiert sie dann auch die
       Ideologie des Weiblichen und weist deren Bedeutung für das Fortbestehen der
       Erniedrigung und Unterdrückung von Frauen systematisch nach – von den
       Benimmbüchern, die jungen Mädchen beibringen, schön und schweigsam zu sein,
       über Rousseau Erziehungsroman „Emile“ (1762) und die empfindsamen Romane
       ihrer Zeit bis zu der – von den Frauen zu Unrecht geschätzten – männlichen
       Galanterie.
       
       Mit ihrer Rekonstruktion geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen nahm
       Wollstonecraft den Feminismus der 1960er Jahre und die Gender Studies
       vorweg. In den sozial gemischten Kreisen der Radikalen kam sie in Kontakt
       mit Ideen, die Liberalismus und Sozialismus verbanden: dem umverteilenden
       Wohlfahrtstaat, den Paine entwarf; dem Recht der Arbeiter auf einen Teil
       des durch ihre Arbeit geschaffenen Profits, das John Thelwall einforderte,
       oder dem landwirtschaftlichen Protokommunismus eines Thomas Spence, der
       für die Abschaffung des privaten Grundbesitzes kämpfte. In ihrem posthum
       veröffentlichten, unvollendeten Roman „Maria, or the Wrongs of Woman“ hat
       sie all das verarbeitet. Ohne das Pathos, mit dem die empfindsamen Romane
       die unteren Klassen darstellen, beschreibt Wollstonecraft ungeschönt die
       Härte der Frauenarbeit. Am Schluss feiert ihr Roman die Freundschaft und
       Solidarität unter Frauen.
       
       Viele Feministinnen der 1970er Jahre sind mit Wollstonecraft hart ins
       Gericht gegangen. Ihr bürgerlicher Liberalismus habe sie blind gemacht für
       Klassenunterschiede; ihr Puritanismus hantiere mit ebenjenen
       frauenfeindlichen Begriffen, die sie eigentlich verurteilte; und sie
       unterdrücke letztlich Weiblichkeit und Sinnlichkeit. Tatsächlich gab sie
       sich damit zufrieden, die Öffnung der Berufswelt nur für begabte Frauen zu
       fordern und von dem Tag zu träumen, an dem Frauen Abgeordnete werden
       könnten, ohne je für das Frauenwahlrecht einzutreten, das seinerzeit als
       Einziger Thomas Spence forderte.
       
       ## Eine Herausforderung für Konservative
       
       Dass das weibliche Begehren zu ihrer Zeit ein großes Tabuthema war, zeigt
       sich bei Wollstonecraft vor allem an stilistischen Sprüngen: Auf neutrale
       philosophische Überlegungen folgen sentimentale Höhenflüge, an die sich
       Schilderungen der bedrückenden weiblichen Wirklichkeit anschließen. Doch in
       ihrer Art zu leben war sie eine einzige Herausforderung für die
       konservative Presse und auch für etliche Radikale: Bei einer Reise ins
       revolutionäre Paris fing sie eine wilde Affäre mit einem amerikanischen
       Abenteurer (dem Vater ihrer ersten Tochter) an, während sie noch die
       Geliebte von Godwin war (der die Ehe als unsinniges Monopol betrachtete,
       sie aber heiratete, als sie von ihm schwanger wurde). Goldwin und sie
       beschlossen, als Paar nicht zusammenzuziehen, weil sie den Beruf als
       Schriftsteller für unvereinbar mit dem ehelichen Alltag hielten, und in
       jungen Jahren pflegte sie eine innige Freundschaft mit Fanny Blood, die
       manche für eine lesbische Beziehung hielten.
       
       Nach ihrem Tod – sie starb nach der Geburt ihrer zweiten Tochter im Alter
       von 38 Jahren am Kindbettfieber – verbreiteten sich ihre Ideen nur noch
       langsam. Das lag an der immer noch konservativen britischen Presse, am
       Zusammenbrechen der radikalen Bewegung unter der repressiven Regierung von
       William Pitt dem Jüngeren – und an der ewigen Frauenfeindlichkeit des
       männlich dominierten Radikalismus. Erst ein Jahrhundert später entstand in
       England eine echte feministische Bewegung, die den Sozialisten das Thema
       Unterdrückung von Frauen und Frauenarbeit entzog.
       
       Am deutlichsten kommt Wollstonecrafts Erbe vielleicht in ihrer zweiten
       Tochter Mary Shelley (1797–1851) zum Ausdruck. Sie bewies den gleichen
       intellektuellen Mut und sexuellen Freiheitsdrang wie ihre Mutter, brannte
       als 16-Jährige mit dem jungen Dichter Percy Bysshe Shelley durch und
       veröffentlichte mit 20 Jahren „Frankenstein“, einen der großen Romane der
       Moderne. Dieses Buch, mit dem sie sich in Wissenschaft und Philosophie
       einmischte, hat die Nachwelt nicht vergessen.
       
       Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
       
       8 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marion Leclair
       
       ## TAGS
       
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