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       # taz.de -- Artenvielfalt und Ökosysteme in Gefahr: Raubbau ist ein mieses Geschäft
       
       > Der UN-Rat für Biodiversität legt zum ersten Mal globale Daten zum
       > Artensterben vor. Nicht nur die Umwelt, auch die Wirtschaft ist bedroht.
       
   IMG Bild: Kenia; das linke ist eines der beiden letzten verbliebenen weiblichen Nördlichen Breitmaulnashörner
       
       Berlin taz | Der Tod von „Sudan“ wirkte wie eine deutliche Mahnung. [1][Als
       das letzte männliche nördliche Breitmaulnashorn vergangene Woche in Kenia
       wegen Altersschwäche eingeschläfert wurde], erreichte die große Konferenz
       zur Artenvielfalt in Kolumbien ihren Höhepunkt. Die Aufmerksamkeit für
       Sudans Ende machte deutlich, was dauernd unbemerkt passiert.
       
       Nun liegt mit den Berichten des UN-Rats zur Biodiversität (IPBES) zum
       ersten Mal eine [2][umfassende Untersuchung (.pdf)] auf dem Tisch, die den
       Verlust der Artenvielfalt und der Ökosysteme auf der ganzen Erde umfasst.
       Der Tenor: Die Zerstörung der Umwelt ist nicht nur ein ökologisches oder
       ethisches Problem. Sie ist auch ein schlechtes Geschäft.
       
       Drei Jahre lang haben 550 Experten aus über 100 Ländern alle verfügbaren
       Studien zu dem Thema gesichtet. Gemeinsam haben sie am Freitag in Medellín
       vier Länderberichte über den ökologischen Zustand der Kontinente
       präsentiert. Sie nennen sich „zwischenstaatliches Gremium zu Biodiversität
       und Ökosystem-Dienstleistungen“ (IPBES) und läuten laut die Alarmglocke:
       „Biodiversität, die überlebenswichtige Vielfalt der Lebensformen auf der
       Erde, geht weiter in allen Regionen zurück“, heißt es.
       
       „Der dramatische Rückgang reduziert signifikant die Möglichkeit der Natur,
       zum Wohlergehen der Menschen beizutragen. Dieser Trend gefährdet die
       Wirtschaft, Lebensunterhalt, Ernährungssicherheit und die Lebensqualität
       überall.“
       
       ## Thema aus der „Öko-Ecke“ holen
       
       Die Experten wollen das Thema aus der Öko-Ecke holen. „ ‚Biodiversität‘
       klingt vielleicht für viele Menschen akademisch und abgehoben“, sagte
       IPBES-Chef Sir Robert Watson. „Nichts könnte weiter entfernt sein von der
       Wahrheit.“ Die Vielfalt des Lebens sei „die Grundlage für unser Essen,
       sauberes Wasser und Energie“.
       
       Die Wissenschaftler kalkulieren mit „Dienstleistungen“ der Natur in
       ökonomischen Kennziffern: Die Reinigung von Wasser und Luft, die
       Fruchtbarkeit des Bodens, die Bestäubung von Pflanzen oder der Schutz vor
       dem Klimawandel, alles hat einen ökonomischen Nutzen. Um ihn zu erhalten,
       lautet Watsons Schlussfolgerung: „Wir müssen handeln, um den nicht
       nachhaltigen Umgang mit der Natur zu stoppen und umzukehren. Die Zeit, zu
       handeln, war schon gestern oder am Tag davor.“
       
       Die Wissenschaftler warnen vor dem Verlust ganzer Ökosysteme. So blieben in
       Asien beim jetzigen Trend bis Mitte des Jahrhunderts kaum noch Fische zu
       fangen. In Europa verzeichneten 42 Prozent aller Landspezies im letzten
       Jahrzehnt einen Rückgang. In Amerika hat sich die Verfügbarkeit von
       Trinkwasser seit 1950 um die Hälfte reduziert. Besonders betont der
       Bericht, dass der Verlust der Natur auch die Ökonomie bedrohe. Allein in
       Nord- und Südamerika sei der Wert der Naturdienstleistungen so hoch wie das
       Sozialprodukt.
       
       Hunderte von Millionen Menschen in Afrika und Asien seien für Nahrung und
       Überleben direkt auf funktionierende Ökosysteme angewiesen. Hauptgrund für
       den Verlust sind nach den Berichten die Zerstörung von Lebensraum durch den
       Bau von Städten und Straßen, die Verschmutzung, der Klimawandel, die
       Einwanderung von fremden (invasiven) Arten von Tieren und Pflanzen.
       
       ## Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln
       
       „Wir brauchen dringend eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und
       Ressourcenverbrauch“, sagte Elsa Nickel vom Bundesumweltministerium, die
       Deutschland bei der Konferenz in Kolumbien vertrat, gegenüber der taz. Mit
       den Reports lägen nun die wissenschaftlichen Daten vor, an denen in Zukunft
       keine Regierung mehr vorbeikomme – auch deshalb nicht, weil die
       IPBES-Berichte von den Delegationen der Mitgliederstaaten abgenommen
       wurden. Die EU etwa sei wegen der Subventionen für die Fischerei deutlich
       kritisiert worden.
       
       Lob kommt auch von Günter Mitlacher, der für den Umweltverband WWF das
       Treffen beobachtet hat. Anders als beim Klimarat IPCC seien die
       IPBES-Abschlusspapiere „nicht verwässert, sondern sogar klarer geworden“.
       Die Fakten seien klar beschrieben, „es gibt für die Politik keine Ausreden
       mehr“. Wie viele andere hofft auch Mitlacher, dass sich die Biodiversität
       an der Klimapolitik orientiert: mit den Expertenpapieren einen
       internationalen Prozess anzustoßen, der am Ende in einen weltweiten Vertrag
       mündet.
       
       *** 
       
       NORD/SÜDAMERIKA 
       
       Zustand– 95 Prozent der nordamerikanischen Prärielandschaften seit Beginn
       der europäischen Besiedlung in Agrarland verwandelt– 17 Prozent des
       Amazonas-Regenwalds verloren– ökologische Belastung durch den Menschen seit
       1960 verdoppelt bis verdreifacht
       
       Wirtschaftliche Bedeutung– Wert von Dienstleistungen der Natur: 24,3
       Billionen Dollar pro Jahr, vergleichbar mit der Wirtschaftsleistung der
       Region– Wert allein für die USA: 5,3 Billionen Dollar, Brasilien: 6,8
       Billionen Dollar
       
       Ausblick– Bevölkerungswachstum um 20 Prozent gegenüber heute auf 1,2
       Milliarden bis 2050– Verdopplung der Wirtschaftsleistung bis 2050
       prognostiziert– ohne grundlegende Änderung Verlust von 40 Prozent der
       ursprünglichen Artenvielfalt und Ökosysteme (seit Besiedelung) bis 2050,
       bedingt auch durch den Klimawandel
       
       Lichtblick– Zunahme Waldfläche im Norden (0,4 Prozent) und in der Karibik
       (43 Prozent) seit 1960
       
       *** 
       
       AFRIKA 
       
       Zustand– 500.000 Quadratkilometer Land unbrauchbar für Ökodienstleistungen–
       62 Prozent der ländlichen Bevölkerung sind für ihr Überleben direkt
       abhängig von der Natur– Afrika südlich der Sahara: Region mit weltweit
       größten Ernährungsproblemen, 25 Prozent der Bevölkerung hungerte von 2011
       bis 2013
       
       Wirtschaftliche BedeutungWert der Natur:– jährlich 40.000 Dollar pro km2
       für Wasserreinigung in Westafrika– 14.000 Dollar pro km2 jährlich für
       CO2-Speicherung in Zentralafrika– 11.000 Dollar pro km2 jährlich für
       Verhinderung von Erosion in Ostafrika
       
       Ausblick– Verlust von 50 Prozent der Vogel- und Säugetierarten bis 2100
       durch Klimawandel– Abnahme der Produktivität der Seen bis 2100 um 20 bis 30
       Prozent erwartet– Verdopplung der Bevölkerung auf 2,5 Milliarden bis 2100
       erwartet
       
       Lichtblick– 2 Millionen km2 Land unter Naturschutz, 2,5 Prozent der Meere
       geschützt
       
       *** 
       
       ASIEN/PAZIFIK 
       
       Zustand– Verlust von 13 Prozent des Waldes in Südostasien durch intensive
       Landwirtschaft und Palmölplantagen– 37 Prozent der Pflanzen- und Tierarten
       im und am Wasser vom Aussterben bedroht– 8 von 10 Flüssen mit der weltweit
       höchsten Plastikverschmutzung; 95 Prozent der globalen Plastikmenge im Meer
       stammen von dort
       
       Wirtschaftliche Bedeutung– Rasantes Wirtschaftswachstum der Region treibt
       die Naturzerstörung voran: jährlich 7,6 Prozent gegenüber weltweit 3,4
       Prozent– 33,5 Milliarden Dollar jährlicher Verlust allein in Südostasien
       durch invasive Arten– 200 Millionen Menschen beziehen Medizin, Lebensmittel
       und Brennstoff aus Wäldern
       
       Ausblick– Keine nutzbaren Fischbestände im Jahr 2048– 90 Prozent der
       Korallenriffe mit schweren Schäden bis 2050– Verlust von 45 Prozent von
       Arten und Lebensräumen bis 2050
       
       Lichtblick– Nordostasien und Südasien mit jeweils 23 bzw. 6 Prozent Zunahme
       der Waldfläche
       
       *** 
       
       EUROPA/ZENTRALASIEN 
       
       Zustand– Rückgang des Bestands von Fischarten um 71 Prozent und der
       Amphibienarten um 60 Prozent im letzten Jahrzehnt– Ein Viertel der
       landwirtschaftlichen Fläche der EU von Erosion betroffen– Rückgang der
       Verfügbarkeit von Wasser um 15 Prozent seit 1990
       
       Wirtschaftliche Bedeutung– Wert der Dienstleistungen der Natur pro Jahr:
       4.300 Dollar pro Hektar. Davon etwa 460 Dollar für Klimaregulierung, 1.100
       Dollar für Tourismus/Erholung und knapp 2.000 Dollar für Regulierung der
       Wasserqualität
       
       Ausblick– Beim jetzigen Trend beansprucht jeder Bewohner Westeuropas für
       Dienstleistungen der Natur jährlich 5,1 Hektar (ha) . Westeuropa verfügt
       aber pro Kopf nur über 2,2 ha Natur.– Osteuropa braucht 4,8 ha, hat aber
       5,3 ha zur Verfügung; Zentralasien benötigt 3,4 ha pro Kopf, hat aber nur
       1,7 ha „Biokapazität“.
       
       Lichtblick– 1,6 Prozent der untersuchten Fischbestände vermehren sich
       infolge veränderter Befischung und Schadstoffreduzierung
       
       25 Mar 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aussterben-einer-Tierart/!5490006
   DIR [2] https://www.ipbes.net/sites/default/files/downloads/20180322_ipbes6_media_release_regional_assessments_en.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Pötter
       
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