URI: 
       # taz.de -- Kommentar zur neuen alten Regierung: Magma unter der Oberfläche
       
       > SPD und Union sind sich zu ähnlich geworden, die GroKo verstärkt das
       > Problem noch. Das System der mittigen Volksparteien zerfällt.
       
   IMG Bild: Man quetscht sich in der Mitte zusammen, aber das kann nicht gut gehen
       
       Die geschäftsführende Regierung ist abgelöst, aber das Geschäftsmäßige
       bleibt. Diese [1][große Koalition] hat nichts Euphorisches. Sie ist aus Not
       geboren, nicht aus Willen. Union und SPD hatten am Ende der letzten
       Regierungszeit ja nur noch gegenseitigen Überdruss gemeinsam. Dass 35
       Abgeordnete, wohl eher aus der SPD als aus der Union, nun Merkel nicht
       wählten, zeigt wie müde viele schon jetzt dieser Regierung sind.
       
       Natürlich gibt es eine paar neue, interessante Gesichter, wie [2][Franziska
       Giffey], und Konstellationen. Falls Horst Seehofer ideologisch so
       scharfkantig auftritt wie angekündigt, wird Katarina Barley als
       Justizministerin für das Kontra sorgen müssen. Jens Spahn wird vielleicht
       weiter die konservative Krawallschachtel geben – ein sozialdemokratisches
       Pendant gibt es bezeichnenderweise nicht. Der SPD scheint, wie [3][der
       Rückzieher bei Paragraf 219a] zeigt, der Koalitionsfriede wie schon in den
       letzten Merkel-Regierungen über alles zu gehen. Dafür trägt der
       Koalitionsvertrag, wie schon 2013, eine blasse sozialdemokratische
       Handschrift. Normalverdiener werden weniger Steuern und Kitagebühren
       zahlen. Also alles Routine, alles Weiter-so?
       
       Man muss den Rahmen größer ziehen, um zu erkennen, dass dieses vierte
       Kabinett Merkel eine historische Zäsur ist. An der Oberfläche scheint alles
       gleich. Doch darunter brodelt Magma.
       
       Die Bundesrepublik ist, was in der üblicherweise miesepetrigen Stimmung oft
       weggeblendet wird, eines der reichsten, politisch stabilsten und
       liberalsten Länder auf dem Globus. Deutschland hat von der Finanzkrise, die
       in Südeuropa Verheerungen angerichtet hat, handfest profitiert. Der Export
       boomt, ein Erfolg, der durch Lohndumping erkauft wurde. So ist diese
       Regierung in der luxuriösen Lage, nicht einsparen zu müssen, sondern jedes
       Jahr gut zehn Milliarden Euro mehr ausgeben zu können. Die Ungleichheit in
       Deutschland wächst. Union und SPD werden daran keine Jota ändern. Auch wenn
       die Ungleichheit in der Bundesrepublik nicht so tief ist wie in den USA
       oder Großbritannien.
       
       ## Das letzte Aufgebot
       
       Die soziale und wirtschaftliche Lage hierzulande ist stabil – trotzdem hat
       diese Regierung etwas vom letzten Aufgebot, von Notnagel und Reparatur.
       Dies ist die erste Große Koalition seit 1949, die verlängert wird. Das
       Bündnis von Union und SPD ist damit nicht mehr die Ausnahme. Sie wird zum
       Normalmodus. Das zeigt: Das System von einer Mitte-rechts und einer
       Mitte-links Partei, die sich an der Regierung abwechseln, implodiert.
       
       Dafür gibt es zwei Gründe. Die Gesellschaft franst sozial und habituell
       aus. In der individualisierten Gesellschaft haben es Großorganisationen,
       die immer Kompromissmaschinen sind, schwer. Das ist zwar keineswegs neu,
       aber ein Trend von ungebrochener Kraft.
       
       Zweitens haben SPD und Union exakt den gleichen Fehler gemacht. Sie sind
       sich zu ähnlich geworden. Schröder hat die SPD entkernt, Merkel die CDU
       weit für den liberalen Zeitgeist geöffnet. Zum Prinzip der Demokratie
       gehört aber die Wahl zwischen deutlich unterscheidbaren Alternativen. Auch
       unter dem Aspekt politischen Marketings war die Annäherung von Union und
       SPD nur kurzfristig ein Gewinn. Auf dem Wählermarkt wächst derzeit
       jedenfalls die Nachfrage nach Erkennbarkeit. SPD und Union, die dem
       Publikum als mehr oder weniger auswechselbare Regierungstechnokraten
       erscheinen, können dies nicht bedienen.
       
       Die vierte Merkel Regierung scheint die Krise erst einmal zu beenden, nach
       171 Tagen ist wieder alles normal. Das täuscht. Diese Regierung ist für
       Union und SPD eine Zwangsjacke, die das Nötige verhindert – dass beide
       wieder unterscheidbar werden. Diese Koalition ist der fatale Versuch, eine
       Krankheit zu heilen, indem man deren Ursachen verstärkt.
       
       Es gibt zwar zaghafte Ansätze, sich mehr zu unterscheiden. Die Union hat
       das, wie die Berufung der kulturell konservativen Kramp-Karrenbauer zur
       Generalsekretärin zeigt, sogar eher begriffen als die SPD, deren
       Erneuerungsrhetorik schon jetzt dünn klingt.
       
       Allerdings ist es ein blanke Illusion, dass die SPD und Union prägnanter,
       klarer, eigenständiger werden können, wenn sie zusammen regieren. Denn die
       Regierungsraison zwingt zusammen, selbst wenn die Parteien nicht mehr so
       eng zusammen gehören wollen. Eine Streitkoalition, so wie sie Union und FDP
       2009 dem erstaunten Publikum vorführten, ist nebenbei auch keine brauchbare
       Alternative.
       
       Das System von zwei mittigen Volksparteien war über Jahrzehnte ein
       rationales Modell politischer Entscheidungsfindung. Es wird nicht mit einem
       Krach verschwinden, sondern in einem zähen Prozess an Kraft und Einfluss
       verlieren. Der Zerfall hat begonnen.
       
       14 Mar 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Grosse-Koalition-besiegelt/!5488151
   DIR [2] /Franziska-Giffeys-Karriere-in-der-SPD/!5487866
   DIR [3] /Neue-Drehung-beim-Paragraf-219a/!5491494
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
       ## TAGS
       
   DIR SPD
   DIR Schwarz-rote Koalition
   DIR CDU/CSU
   DIR Volkspartei
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Schwerpunkt Angela Merkel
   DIR Krise der Demokratie
   DIR Hubertus Heil
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Merkels Wiederwahl zur Kanzlerin: Kleinster gemeinsamer Nenner
       
       Merkel wird im Bundestag zum vierten Mal zur Kanzlerin gewählt – gerade
       eben so. Eine stabile Phase scheint zu Ende.
       
   DIR Große Koalition besiegelt: Merkels selbstbewusster Scholz
       
       Wie wird die neue GroKo? Wie die alte. Nur Merkel kann nach 12 Jahren auch
       mal gereizt sein. Ihr Vizekanzler macht erstmal Werbung für sein Buch.
       
   DIR Debatte Politische Teilhabe: Ja, nein, vielleicht
       
       Die Demokratie verkommt immer mehr zum interaktiven Mitmachspiel. Volks-
       und Mitgliederentscheide sind das Gegenteil von wirklichem Engagement.
       
   DIR SPD gibt ihre MinisterInnenliste bekannt: Arbeit, Arbeit, Arbeit … für Heil
       
       Als letzte der GroKo-Parteien hat die SPD am Freitag ihre
       Kabinettsmitglieder vorgestellt. Die Präsentation des Personals wirkte
       wenig enthusiastisch.