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       # taz.de -- Josef Bierbichlers andere Art Heimatfilm: Einmal quer durchs 20. Jahrhundert
       
       > „Zwei Herren im Anzug“ ist die zweite Regiearbeit des Schauspielers Josef
       > Bierbichler. Sie ist von einer herrlich sperrigen Künstlichkeit.
       
   IMG Bild: Der Wirt Pankraz (Josef Bierbichler) und sein Faktotum Hanusch (Benjamin Cabuk)
       
       Ich muss mich erinnern“: Das ist so eine Art Schlüsselsatz für die
       bundesrepublikanische Identität. Er schließt das große Thema der
       Vergangenheitsbewältigung mit ein, aber ebenso den nicht unerheblichen
       Zwang, der nötig war, um das Verdrängte nicht einfach verdrängt zu lassen.
       
       Auch in Josef Bierbichlers Film „Zwei Herren im Anzug“ ist es ein
       Schlüsselsatz, denn die späte zweite Regiearbeit (nach „Triumph der
       Gerechten“ von 1987) des 69-jährigen bayrischen Schauspielers handelt zum
       einen von den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts und wie sie seine Heimat am
       Starnberger See verändert haben.
       
       Und zum andern davon, wie schwierig es ist, davon in aller Wahrhaftigkeit
       zu erzählen. Soll heißen: mit Blick auf das Besondere eines ganz bestimmten
       Ortes und gleichzeitig mit Durchblick auf das große Ganze.
       
       Als Erstes sagt es ein Vater zu seinem Sohn: „Ich muss mich erinnern.“ Die
       beiden sitzen in einer leeren Wirtsstube am helllichten Tag und trinken und
       rauchen. Man schreibt Mitte der 80er Jahre und sie haben soeben Ehefrau
       beziehungsweise Mutter beerdigt. Die anderen Gäste sind gegangen, sie sind
       allein – und feinden sich an.
       
       ## Das eigene Geborensein beklagen
       
       Der Vater (Josef Bierbichler) drängt den Sohn (gespielt von Bierbichlers
       Sohn Simon Donatz), „in den Schoß der Kirche“ zurückzukehren. Der aber will
       eher in den Schoß der Mutter zurückkehren und beklagt das eigene
       Geborensein.
       
       „Den Blick kenn’ich“, spricht der Vater in die trotzerfüllten Augen des
       Sohnes hinein und beginnt mit der Erinnerungstour. In den nächsten zwei
       Stunden geht es einmal quer durchs 20. Jahrhundert, die Erinnerungen aber
       handeln fast ausschließlich von ein und demselben Ort, eben jenem Wirtshaus
       am See, in dem Vater und Sohn Bierbichler in der Rahmenhandlung sitzen.
       
       Ton und Inszenierungsweise von „Zwei Herren im Anzug“ tragen theaterhafte
       Züge. Fast glaubt man eine Akt-Struktur in den Erinnerungen zu erblicken,
       während die Figuren zum Monologisieren neigen. Auch dass Vater und Sohn
       Bierbichler im historischen Kostüm die Rollen wechseln, der eine in der
       älteren/jüngeren Haut des anderen, hat etwas von einem Bühneneinfall.
       
       Aber statt unpassend oder ungelenk zu erscheinen, entfaltet das
       Theaterhafte als Film eine ganz eigene Wirkung. Die fremden Mittel halten
       die Aufmerksamkeit wach, und an keiner Stelle wähnt man sich in einem der
       neu aufgelegten TV-Heimatfilme. Und so beschränkt sein Schauplatz ist,
       findet Bierbichler in und um den Gasthof herum ganz wunderbare Bilder
       sowohl für die alten Zeiten als auch die neuen Gebräuche an diesem stummen
       Ort der Zeitzeugenschaft.
       
       ## Roman des familieneigenen Wirtshauses
       
       „Mittelreich“ hieß Bierbichlers 2011 veröffentlichter Roman, in dem er mit
       demselben Rahmen Geschichten rund um das familieneigene Wirtshaus erzählte,
       wo er, Josef Bierbichler, aufwuchs und noch immer zu Hause ist.
       
       Mit einer ganz eigenen Sprache, oszillierend zwischen dem kernigen
       bayrischen Dialekt und einer elegant-stelzigen Hochsprache, die die Dinge
       präzis auf den Punkt brachte, hatte Bierbichler darin den großen Bogen
       gewagt von der noch feudal geprägten Vorkriegszeit um 1914 bis in die
       Gegenwart. Wobei das dramatische Herz des Buches in der Nachkriegszeit nach
       45 lag, als Flüchtlinge aus den ausgebombten Städten und solche aus dem
       Osten die alten Traditionen der Einheimischen aufmischten.
       
       Was sich schon vor dem Ersten Weltkrieg angedeutet hatte, vollzog sich nun
       unwiederbringlich: weg von den bäuerlichen Strukturen und hin zum
       Tourismusgewerbe. Weg von den strengen Vätern und hin zu künstlerischen
       Berufen. Weg auch von der katholischen Kirche und hin zu anderen
       Überzeugungen. Und „Mittelreich“ handelte auch davon, wie virulent in
       diesen Fluchtbewegungen die Zeit des Faschismus und die bösen Taten des
       Kriegs waren, über die wenig geredet wurde, weil sie so umfassend
       Unwohlsein bereiteten.
       
       Was sich als Grundthema durchs Buch zieht, bringt Bierbichler im Film
       szenisch verdichtet auf den Punkt: Da erzählt der Vater seinem Sohn in der
       Rahmenhandlung davon, wie er im fünften Kriegsjahr an die Ostfront
       abkommandiert wurde, aber nichts mehr davon wisse: „Nur weiße Landschaften,
       sonst nichts.“ Wie ein abgestorbenes Organ sei diese Zeit, ein ewig
       faulender Kadaver. Am Ende des Films wird die Erinnerungslücke gestopft,
       nachdrücklich und eindeutig und ohne jede Entschuldigung von wegen, dass
       die deutschen Täter ja auch einiges gelitten hätten.
       
       ## Bierbichlers Heimatverbundenheit
       
       Das gerade zeichnet Bierbichlers Heimatverbundenheit aus: Er macht sich
       keine Illusionen über die Menschen in der Provinz. Sie sind ihm nicht
       Beispiel einer größeren Natürlichkeit, Ehrlichkeit oder was auch immer. Im
       Gegenteil, seine detaillierte Kenntnis ermöglicht ihm einen völlig
       unsentimentalen, geradezu erbarmungslosen Blick auf die Tümlichkeit des
       Volkes.
       
       Wer das Buch gelesen hat, wird viele Anekdoten daraus in „Zwei Herren im
       Anzug“ wiederentdecken. Etwa die Geschichte des Maskenballs und wie man
       nicht drumherum kam, die „Hitler-Maske“ auszuzeichnen, obwohl man Ärger mit
       den neuen amerikanischen Freunden befürchtete.
       
       Oder die rund um die Papstkrönung im Jahr 1958, als der örtliche Priester
       eine ganze Schulklasse in die Stube eines Seewirt-Angestellten einlädt,
       weil der weit und breit als einziger einen Fernsehapparat besitzt. Was, wie
       der Priester nebenbei zugibt, er durch die Beichte des besagten
       Angestellten erfahren hat.
       
       Dem Beichtgeheimnis zum Trotz organisiert er nun das „Public Screening“ –
       für den guten Zweck, versteht sich. Wie sich nun Alt und Jung ohne jedes
       Medienverständnis vor dem winzigen Bildschirm versammeln und darüber
       staunen, wie viele Menschen in Rom dem frisch gewählten Johannes XXIII.
       zujubeln, das ist als Filmszene fast noch köstlicher als im Buch.
       
       ## Ein Quäntchen mehr Verständnis für den Vater
       
       Trotzdem handelt es sich bei „Zwei Herren im Anzug“ um keine Verfilmung im
       direkten Sinn. Der Filmregisseur Bierbichler benutzt die Vorlage des Autors
       Bierbichler vielmehr als Rohstoff, den er neu arrangiert und mit Akzenten
       versetzt. Die Rahmenhandlung mit Vater und Sohn nach der Trauerfeier etwa
       ist für den Film erfunden, wie überhaupt Bierbichler diese beiden ihm nahen
       Figuren fürs Kino noch einmal anders interpretiert.
       
       Fast meint man ein Quäntchen mehr Verständnis für den Vater auszumachen,
       für die im Faschismus aufgewachsene Generation und ihre Verbiegungen. Wobei
       genau wie schon für das Buch auch für den Film gilt, dass Bierbichler hier
       weder direkt von sich noch von seinem Vater beziehungsweise Großvater
       erzählt. Statt Autobiografie bietet er Zeitgenossenschaft, und das
       bedeutet: Nicht alles Erzählte hat er selbst erlebt, aber in allem steckt
       spürbar ein Kern des tatsächlich Erlebten.
       
       Bierbichler gelingt es, seine spezielle, geradezu als schmerzhaft
       empfundene Nähe zum Ort und zu den Figuren in eine andere Art Heimatfilm
       umzusetzen. Eine Art, die sich von der versöhnlerischen Süßlichkeit der
       TV-Produktionen genauso absetzt wie von Edgar Reitz’Gestus der „großen
       Erzählung“. Da ist zum einen die Sprache, die Bierbichler in „Zwei Herren
       im Anzug“ fast dokumentarisch ausstellt, mit dem ganzen Schmutz, der an ihr
       klebt.
       
       Wenn etwa die jungen Männer im Sommer 1914 singend in den Krieg ziehen,
       hört man die Sprüche, die sich unheimlicherweise noch heute wie von selbst
       vervollständigen: „Jeder Stoß – …, jeder Tritt –…“ Obwohl Franzosen und
       Briten doch schon so lange keine Feinde mehr sind.
       
       Wichtiger noch belegt Bierbichler mit „Zwei Herren im Anzug“, dass man vom
       Land nicht naturalistisch erzählen muss, sondern in der sperrigen
       Künstlichkeit des Inszenierens die größere Wirklichkeitsnähe liegen kann.
       
       22 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Schweizerhof
       
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