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       # taz.de -- Debatte Political Correctness: Keine Angst vor Streit
       
       > Eigene Erfolge zu feiern ist schön. Aber die Linke muss sich auch trauen,
       > ihr Denken an der Auseinandersetzung mit Rechten zu schärfen.
       
   IMG Bild: Wir müssen die Debatte erst mal da führen, wo sie unsexy, weil bislang erfolglos ist
       
       Es ist ein altes Paradox: dass Linke, selbst wenn sie fordern, doch jetzt
       bitte mal gegen den gemeinsamen Feind zusammenzustehen, noch im selben
       Atemzug einen innerlinken Graben aufreißen. Quasi im Voranschreiten schnell
       das Regal mit dem Erbgeschirr umreißen und über die Schulter zurückrufen:
       Ja, wo bleibt ihr denn?
       
       Vielleicht schärfen sich daran Geist und Haltung, vielleicht ist manchmal
       aber auch ein bisschen Eskapismus dabei. Und oft die Dialektik von Freiheit
       und Angst. 2009 war die Sache aus linker Sicht klar, es gab Demos gegen
       staatliche Überwachung, die mit der Sicherheit vor Terror legitimiert
       werden sollte. Es gab das Bewusstsein, dass sich die Gefahr sowieso nicht
       ausschließen lässt und dass es allemal besser ist, frei von dieser falschen
       Sicherheit, dafür aber ohne Kontrolle zu leben.
       
       Jetzt kommt die Gefahr aus einer ganz anderen Ecke, und sie ist, zugegeben,
       konkreter: Rechte sagen, laut und und überall, was sie so denken, oft ist
       es unerträglich. Verbieten kann (und tut) es ihnen keiner. Geht ja auch gar
       nicht, solange nicht der Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt ist.
       Von mangelnder Meinungsfreiheit zu reden ist also Quatsch.
       
       Was es gibt im Umgang mit den neuen und alten Rechten, ist diese feine
       Angst, etwa im Streit über den Umgang mit dem Berliner Historiker Jörg
       Baberowski, [1][der neulich Stoff für eine taz-Reportage war]. Ein Mann,
       der vielen als Rechter gilt, der aber auch Sätze sagt wie: „Widerlegen Sie
       sich selbst, einmal am Tag, das tut gut.“ Ein Satz, der die Fähigkeit zur
       Distanz zum eigenen Denken erkennen oder zumindest erhoffen lässt. Diese
       Fähigkeit fehlt in der Debatte manchmal.
       
       Die Angst wird spürbar, wenn jemand wie die taz-Reporterin Sabine Seifert
       jemandem wie Baberowski zuhört. Und die trotzkistischen Studenten, die
       seine Vorlesungen boykottieren, als „einschränklerisch“ beschreibt. Wir
       müssen aber eben die Widersprüche der Zeit benennen und aushalten, schrieb
       dazu später Edith Kresta [2][an dieser Stelle], und damit hat sie recht.
       
       ## Dorthin schauen, wo es weh tut
       
       Auch wenn es unangenehm ist: Progressive Menschen müssen auch dorthin
       schauen, wo es wehtut. Und eben nicht, [3][wie Ambros Waibel postuliert
       hat], den Fokus herumreißen, weg vom Schmerzhaften hin zu den erfolgreichen
       MeToo-, Anti-Brüderle-, Anti-Gender-Pay-Gap- und Anti-Rassismus-Kampagnen.
       Als hätte man Angst, dass beim Hinschauen etwas von dem Bösen in die
       eigenen Gedanken einsickert. Dabei müsste doch aus dem, schließlich auch
       politischen, Privaten doch bekannt sein, dass zum Problem vor allem das
       wird, was man ins Unterbewusste abschiebt.
       
       So standen sich in der Debatte hier zuletzt das alte Licht der Aufklärung
       und das neue Strahlen der jungen Linken gegenüber. Eine vermeintlich junge
       Linke, die den Altlinken Versagen im Kampf gegen Kapitalismus und
       Patriarchat vorwirft und es selbst besser machen will. Ihr „eigenes
       Märchen“ lebt. Man könnte auch sagen: die Utopie vor die Analyse stellt.
       
       Tatsächlich sind es ja gar nicht so schlechte, wenn auch natürlich nicht
       utopische Zeiten – zumindest was den Kampf für Geschlechtergerechtigkeit
       betrifft. Viel Schlimmes geht einfach nicht mehr oder immer weniger. Und
       Kita-Plätze gibt es jetzt auch. Beim Rassismus und beim Antisemitismus
       sieht die Bilanz zwar nicht so gut aus, aber, hey, dafür lassen wir uns
       [4][von einem Gedicht] oder einem Bild keinen männlichen Blick mehr
       diktieren.
       
       Geschichtsklitterung finden wir zwar schlimm, aber in der Kunstgeschichte
       darf man eventuell schon mal was umschreiben oder abhängen, wenn da was
       steht oder gemalt ist, was nicht der Höhe des Diskurses entspricht. Da
       tritt dann die (gut gemeinte, auf eine linke Utopie abzielende) Ideologie
       vor den Verstand. Doch die Utopie vor die Analyse zu stellen erschwert das
       Reden darüber, was ist.
       
       Die junge Linke schaut vielleicht auch deshalb so gern selbstverliebt auf
       [5][#MeToo] und Co, weil sich darüber vergessen lässt, dass wir noch immer
       keine Ahnung haben, warum Menschen in Sachsen und Bayern, in Ungarn,
       Frankreich, den USA und überall menschenfeindlichen Ideen nachlaufen. Oder
       wie wir die Menschen, die zu uns in größter Not fliehen, nicht nur
       tatsächlich aufnehmen, sondern auch nicht mit sich allein lassen wollen.
       
       ## Verstehen statt verdrängen
       
       Klar können wir uns stattdessen für Erfolge auf Nebenschauplätzen feiern,
       Kinder kriegen und unseren Töchtern blaue statt rosa Jäckchen anziehen. Und
       uns dabei vorstellen, das unser Privates schon was bewirken wird im großen
       Politischen. Oder uns vorstellen, dass das überhaupt die letzten Kämpfe
       sind, die es auszufechten gilt.
       
       Wenn wir tatsächlich dahin kommen wollen, müssen wir die Debatte allerdings
       erst mal da führen, wo sie unsexy, weil bislang erfolglos ist.
       Selbstvertrauen sollten wir nicht nur wegen unserer Erfolge, sondern vor
       allem in uns selbst haben: Wir machen uns nicht selbst zu Rechten, wenn wir
       uns mit ihnen auseinandersetzen. Nicht mit denen, die keine Argumente,
       sondern nur Hass haben. Aber vielleicht könnten kritische junge Studenten
       an einem Baberowski ihr eigenes Denken viel besser schärfen als an
       jemandem, der ihren Blick auf die Welt ohnehin bestätigt. Warum diese Angst
       vor Streit?
       
       Was anderes bleibt uns sowieso nicht übrig, denn die Rechten leben nicht
       wie im Märchen in einem Turm, sondern unter uns. Wir bekommen sie da erst
       mal nicht weg. Die Angst vor einer freien Gesellschaft, die wir ihnen
       vorwerfen, sollten wir uns selbst nicht erlauben. Wir müssen ja nicht
       hinnehmen, was sie sagen, aber immerhin in einem bestimmten Rahmen
       ertragen, es zu hören.
       
       Es stimmt: Die Verführung durch rechtes Gedankengut lässt sich nicht völlig
       ausschließen, aber vielleicht machen wir sie mit dem Versuch, sie zu
       verdrängen, erst größer, als sie ist.
       
       23 Mar 2018
       
       ## LINKS
       
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