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       # taz.de -- 30 Jahre Drogenersatztherapie: 15 Milliliter, jeden Tag
       
       > Seit 29 Jahren nimmt Roland Beinhard Methadon. Kaum einer macht das
       > länger als er. Vor 30 Jahren begann die Drogenersatztherapie in
       > Deutschland.
       
   IMG Bild: Roland Beinhard vor der Krisenhilfe in Bochum. Hier holt er täglich sein Methadon
       
       Bochum taz | Schore, Aitsch, etwas Braunes oder Mat? „Was soll’s?“ Roland
       Beinhard benutzt die Wörter nicht mehr, „ich sag, was es ist: Heroin“, sagt
       er und es fallen ihm die Augen zu beim Sprechen. Eine Stunde zuvor hat er
       seine Dosis Methadon geschluckt, 15 Milliliter in Apfelsaft, „ein ganzer
       Haufen“. Langsam setzt die Wirkung ein. Viele Drogenabhängige kriegen
       weniger als er, Metin zehn, Alex drei, Doris weiß nicht genau. Bibi kriegt
       mehr als Beinhard, „wegen HIV“, sagt sie. Der Computer im
       Methadon-Ausgaberaum hat die Menge am Automaten exakt abgefüllt, Beinhard
       hat’s getrunken, hat den bitteren Cocktail geschluckt, nicht wegen der
       Erlösung, sondern wegen der Kontinuität, und danach das Glas leer wieder
       abgestellt. „Schmeckt ekelhaft“, sagt er.
       
       Beinhard bekommt das Zeug in der Krisenhilfe in Bochum, Viktoriastraße 67.
       Ein Bermudadreieck sei der Kiez, soll heißen: Unterhaltungsviertel,
       Rotlicht, Ort, wo man untergeht. Dazwischen Gotteshäuser. Neben der
       Methadon-Ambulanz hat die Krisenhilfe in der Viktoriastraße auch ein Café,
       wo sich Süchtige treffen, einen Druckraum, in dem Abhängige in sicherer
       Umgebung Drogen inhalieren oder sich spritzen können und die medizinische
       Notfallversorgung.
       
       Die Methadonausgabe, zu der Beinhard täglich pilgert, ist im ersten Stock.
       In der Küche neben dem Ausgaberaum steht Heinrich Elsner, „der Doc“. Alle
       nennen den ärztlichen Leiter so. Theologe, Arzt, Psychiater,
       Psychotherapeut ist er. Seelsorger, Seelenklempner. Er kocht Kaffee. Auf
       den Sofas in der Ecke sitzen ein halbes Dutzend Männer, manche langhaarig,
       manche mit Basecaps, fast alle tätowiert. Hi Soundso, hi Soundso, hi
       Soundso. Die, die sich hier treffen, sprechen die Namen bei Begrüßungen
       nicht aus; was ihnen über die Lippen kommt, gleicht einem freundlichen
       Gemurmel und das, worum ihre Gespräche kreisen, sind Wiederholungen:
       Drogen, Fußball, Geld, Frauen, „wo man was bekommt, was man den ganzen Tag
       macht, wo man was verkaufen kann“, Beinhards Worte.
       
       Der Sound in der Küche irritiert. Da ist dieses Abgehackte bei den einen,
       sie reden, als wären sie schon beim Ausatmen vor dem ersten Wort fertig mit
       der Welt, und bei anderen hat die Sprache etwas Schleichendes, als
       schleppten sich die Gedanken hinter dem Gesagten her.
       
       Der Doc steht dabei, drahtig, aufmerksam, reicht die Tassen rüber, „wie
       geht’s, alles klar?“ Sein Blick scannt die Haut, die Haltung, die
       Bewegungen der Substituierten, sein Ohr lauscht auf das Tempo der Worte.
       „So bin ich nah dran an den Leuten“, sagt er.
       
       ## Ein Mangel, der ihn aushöhlt
       
       Roland Beinhard, der bleich ist, die Haut im Gesicht wässrig, die
       Bartstoppeln grau, geht es so lala, noch klagt er nicht, noch guckt er, auf
       was er sich einlässt. Von denen, die sich hier täglich ihr Methadon
       abholen, ist er am längsten dabei. 29 Jahre. Länger geht kaum. Denn die
       ersten Modellprojekte für Drogenersatztherapie waren nur wenige Monate
       zuvor, im März 1988, in Bochum, Essen und Düsseldorf eingerichtet worden.
       Es dauerte ein paar Wochen, bis Kunden, Klienten, Patienten – ja was nun? –
       bedient, behandelt, versorgt werden konnten. „Ich war der Erste“, sagt
       Beinhard. Er, dieser Methadon-Veteran, will zum Jubiläum der
       Methadonsubstitution von sich erzählen, von seinem ferngesteuerten Leben,
       in dem es vor allem eines gibt, nämlich einen Mangel, der ihn aushöhlt und
       leer zurücklässt, sehr leer.
       
       Das hätte er noch nie gemacht, über sich gesprochen „inna Zeitung“, jetzt
       sei der Moment, „krieg ich Geld dafür?“ Kriegt er nicht, aber Geld ist für
       Beinhard ein wichtiges Thema: Er versteht nicht, dass er nur 200 Euro Hartz
       IV bekommt, der Rest werde, meint er, wegen „angeblicher“ Schulden
       abgezogen, und spätestens ab dem Fünfzehnten eines Monats muss er „stehlen
       oder was?“. Es klingt, als wären die Mitarbeiter von der Krisenhilfe schuld
       an seiner Misere, denn die täten nichts dafür, dass er den ganzen
       Hartz-IV-Satz kriegt, wie sie ihn auch nicht ins Take-home-Programm nehmen
       würden. Er bekommt also kein Methadonrezept für das Wochenende mit. Er muss
       jeden Tag in die Viktoriastraße kommen, samstags und sonntags auch.
       
       „Ich hab mir so ’ne Mühe gegeben, aber ich komme nicht auf Take-home. Ich
       bin sauer. Da sind welche, die Faxen machen und Take-home kriegen und ich
       nicht.“ Was Faxen sind? „Na, dass man das Methadon vertickt.“ Welchen Stoff
       die dann stattdessen nehmen? „Heroin oder die holen sich was aus der
       Apotheke“, sagt Beinhard. Und der Doc sagt später, dass es da viele
       Möglichkeiten gebe und dass „die Leute schon wissen, was hilft.“
       
       Dass die Leute wissen, was hilft, sagt er. Nicht: was flasht, was kickt,
       was turnt, was knallt. Solche Nuancen sind wichtig. Keine
       Methadon-Substitution ohne soziale, medizinische und psychische Betreuung,
       „täglich ein psychotherapeutischer Kurzkontakt“, fordert er. So ähnlich
       steht es sogar im Gesetz. Nur finanziert werde von den Krankenkassen vieles
       nicht.
       
       ## Abhängigkeit, dieses Monster
       
       In Deutschland gibt es nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle gegen
       Suchtgefahren 100.000 bis 150.000 Heroinabhängige. Etwa 75.000 werden mit
       Methadon oder anderen Opioidersatzstoffen behandelt. Das klingt viel, die
       Zahl derer jedoch, die abhängig sind von süchtig machenden Schlaf-,
       Schmerz- oder Beruhigungstabletten, ist um ein Vielfaches höher – bis zu
       drei Millionen könnten es sein, steht im Drogen- und Suchtbericht der
       Bundesregierung von 2016.
       
       Der Beschaffungsdruck der Tablettensüchtigen ist anders als bei
       Heroinabhängigen, die einen verbotenen Stoff brauchen und sich so
       automatisch im kriminellen Milieu bewegen. Roland Beinhard saß viereinhalb
       Jahre im Knast. „Ständig klauen“, sagt er, „Einbrüche, Diebstahl, früher
       war das leichter als heute. Von den Eltern hab ich ja kein Geld bekommen.“
       Wer dagegen von Tabletten abhängig ist, muss Geschichten erfinden, muss
       Ärzte dazu kriegen, das Medikament zu verschreiben.
       
       Seit Oktober 2017, als die Betäubungsmittel-verschreibungsverordnung –
       herrje, was für ein Wort – aktualisiert wurde, darf Methadon auch an Leute,
       die von Schmerzmitteln abhängig sind, gegeben werden. Ein nicht
       unerheblicher Teil sind ältere Frauen. Sehen würde man diese Sucht in der
       Öffentlichkeit nicht, meint der Doc. Er findet die Novellierung gut,
       wichtig, überfällig. „Opioide sind sehr gute Medikamente“, sagt er. Auch
       Heroin, das, anders als Alkohol, wenn es rein ist, die Organe nicht
       schädigt und bis 1958 legal erhältlich war. Wenn nur die Abhängigkeit nicht
       wäre.
       
       Abhängigkeit, dieses Monster, sitzt Roland Beinhard seit fast 40 Jahren auf
       dem Schoß. Mit 17 hat er mit Heroin angefangen. Sein älterer Bruder sei in
       Indien gewesen, „hat Heroin geschmuggelt und versteckt“. Beinhard sah, wo
       er es hatte und wie man es macht. „So muss es gewesen sein“, sagt er. Dann
       hat er es auch genommen. Und? „War gut gewesen.“
       
       ## Abstinenz war zu lange das Ideal
       
       Er sitzt jetzt in einem abgewetzten Sessel im Kopierraum der
       Methadonambulanz, wo gewöhnlich die Eins-zu-eins-Gespräche stattfinden, und
       verschmilzt mehr und mehr mit dem Zimmer, in dem es nichts Farbiges gibt.
       Und ja, er erwähnt auch, dass es einen Stiefvater gab. Schläge. Und ja, er
       hat im Knast einen Beruf gelernt „Mechatroniker“. Und ja, er hat Hepatitis
       C, aber kein HIV. „Auf den Strich? Im Leben nicht.“
       
       Beinhard, der 1962 geborene Wattenscheider, sagt, er sei 53. Er wiederholt
       das ein paar Mal, als sei er vor ein paar Jahren stehen geblieben. Denn
       Zeit, genau genommen, ist eine Belastung. Er hat zu viel davon. „Morgens
       steh ich auf, trink Kaffee, zieh mich an, trink noch ’n Kaffee, Zigaretten
       keine, das bringt mir nichts mehr.“ Dann geht er los in die Viktoriastraße.
       Bis halb 11 Uhr wird Methadon ausgegeben. „Und nachmittags, wenn man nach
       Hause kommt, Internet anmacht, ist die Außenwelt völlig weg.“ Gehe er doch
       mal in den Park, fange er an zu grübeln, „dass ich nichts auf die Reihe
       gekriegt habe. Da bleib ich lieber zu Hause.“
       
       Die Bochumer Krisenhilfe wurde 1975 gegründet. An der Geschichte des
       Projekts spiegelt sich, wie Drogensucht wahrgenommen wird. Vorbeugung,
       Aufklärung, Entgiftung – das war der Anfang. Beinhard hatte schon früh
       Kontakt zum Projekt. Eine ehemalige Mitarbeiterin, die im Nachhinein
       findet, auch sie habe früher Abstinenz zu sehr als Ideal gesehen, erinnert
       sich an ihn und seine vier Brüder. „Alle auf Drogen. Alle große, sehr
       schöne Männer.“ Es schmeichelt Beinhard, als er das hört. Wegen der Brüder
       bat der Doc, dass der Name geändert wird. „Tun Sie mir diesen einen
       Gefallen.“ Beinhard heißt in Wirklichkeit also anders.
       
       Was mit Beinhards Brüdern jetzt ist? „Sind runter“, sagt er. Nur er nicht.
       An ihm klebt der Stoff. Er klebt an ihm in echt und als Phantasma. Einmal
       im Gespräch meint er, hätte er Geld, würde er sich Heroin besorgen. Ein
       paar Tage später sagt er, Heroin würde ihm nichts mehr bringen, würde
       nichts mehr mit seinem Körper machen, er müsste so viel nehmen, dass es
       tödlich wäre. Seit zehn Jahren sei er nur noch auf Methadon. Blöd sei, dass
       es ihn „müde macht und down“. Die Lust auf Frauen sei auch weg. In dem
       Augenblick dringt die Sirene einer Feuerwehr bis in das kleine Zimmer. Ein
       Feuer wird gelöscht.
       
       ## „Heroin hat auch eine seelische Wirkung“
       
       Methadon ist ein synthetisches Opiat, ursprünglich 1937 bei den Farbwerken
       Höchst entwickelt. „Ein sehr wichtiges und gutes Medikament, weil es den
       Opiathunger unterdrückt“, betont der Doc. Seit 2005 steht es auf der Liste
       der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation WHO. Aber:
       Auch Methadon macht abhängig.
       
       Wenn Elsner die Wirkungen von Methadon gegen die von Heroin aufführt, wird
       seine Stimme schneller, angespannter. Denn beim Umgang mit Drogensucht
       sieht er noch immer die Bestrafungsmentalität am Werk, die so lange
       verhindert hat und weiter verhindert, dass Abhängige das Mittel bekommen,
       das sie brauchen. Denn unberücksichtigt bleibe, dass „Heroin eine seelische
       Wirkung hat“, er liebt das Wort „seelisch“.
       
       Heroin löst Glücksgefühle aus, die normalerweise durch die körpereigenen
       Endorphine hervorgerufen werden. Höher und länger dosiert kann es auch bei
       vielen schwerwiegenden psychischen und psychosomatischen Beschwerden sehr
       gut helfen, „bei Schizophrenie, bei Depression“ zählt Elsner auf, „weil es
       offenbar, aber das ist jetzt nicht wissenschaftlich formuliert, die
       Gedanken ordnet“. Das könne Methadon in hoher Dosierung zwar auch, aber es
       macht nicht high – die Wirkung hält allerdings länger an, man muss es nur
       einmal am Tag nehmen. Die, die es nehmen, können ihren Alltag meistern,
       einer Arbeit nachgehen, erklärt er. Von den 90 Abhängigen, die derzeit bei
       der Krisenhilfe Methadon bekommen, gelingt das etwa zehn. „Man kann
       ziemlich nüchtern mit Methadon leben, es unterdrückt den Suchtdruck.“
       
       Suchtdruck ist diese Fernsteuerung im Kopf der Drogenabhängigen, wenn alles
       nur noch darum kreist, wo sie die nächste Dosis her bekommen, wenn sie
       dafür klauen gehen, nichts mehr essen, sich prostituieren, Krankheiten
       verschleppen. Elsner, der Doc, geht davon aus, dass drei Viertel der 250
       Leute, die jeden Tag in die Viktoriastraße 67 kommen, psychisch krank sind.
       Er findet, dass das nicht okay ist, dass Menschen, die wegen seelischer
       Probleme Heroin nehmen, in die Illegalität und Kriminalität getrieben
       werden, und dass man ihnen das, was ihnen eigentlich hilft, vorenthält. Der
       quirlige Doc will, dass nachgedacht wird.
       
       ## Ausschlaggebend war die HIV-Epidemie
       
       Entzug und Abstinenz waren die Credos vor 1988. Dabei liegen die
       Rückfallquoten bei Heroinabhängigen nach Drogenentzügen um 90 Prozent, sagt
       der Doc. Und selbst wer die Übelkeit, die Schmerzen, das Zittern, die
       Schweißausbrüche, das Frieren, den Durchfall, den Zusammenbruch des
       Kreislaufs, die Auflösung des Selbst durchstand, hatte die Ursachen für
       sein Verlangen nach Heroin nicht behoben. Was ist so toll an Heroin? „Ich
       spritze Glück, Seelenfrieden, Seelenruhe“, sagt Roland Beinhard, „natürlich
       hält’s nicht lange.“ Der Mensch gewöhnt sich daran, die Dosis muss erhöht
       werden, der Druck nimmt zu.
       
       Schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der amerikanische
       Pharmakologe Vincent Dole und die Psychiaterin Marie Nyswander Süchtige von
       Heroin auf Methadon umgestellt und nachgewiesen, dass dies die Abhängigen
       aus dem kriminellen Kreislauf herausführte. Zwanzig Jahre später waren es
       bereits 85.000 US-Amerikaner und US-Amerikanerinnen, die mit Methadon
       substituiert wurden. Viele darunter Vietnamveteranen.
       
       In Westeuropa war die Vergabe von Methadon im Jahr 1988 nur noch in
       Deutschland und in Norwegen verboten. Hardliner wie der damalige
       Drogenbeauftragte der Bundesrepublik, Manfred Franke, der öffentlich
       kundtat, solange er etwas zu sagen habe, gebe es keine Substitution, trafen
       auf Ärzte, die illegal mit opioidhaltigen Mitteln substituierten, sowie
       Politiker wie den damaligen Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen,
       Hermann Heinemann, der sich die Substitutionspraxis in anderen Ländern
       anschaute und am Ende die Modellversuche in Bochum, Essen und Düsseldorf
       durchboxte.
       
       Ausschlaggebend war da schon gar nicht mehr die Einsicht, dass der
       kriminelle Kreislauf von Drogenabhängigen durchbrochen werden muss, sondern
       die HIV-Epidemie. Anhand von Blutuntersuchungen inhaftierter Fixer wird der
       HIV-Virus 1982 zum ersten Mal bei Drogenabhängigen in Deutschland
       nachgewiesen. Drei Jahre später hatten bei einer Untersuchung im Berliner
       Tropenmedizinischen Institut von 80 drogenabhängigen Männern und Frauen
       bereits zwei Drittel den Antivirus im Blut. Übertragungswege waren:
       gemeinsam genutzte Spritzen und Geschlechtsverkehr. Geschätzt wird, dass
       mindestens drei Viertel der weiblichen Süchtigen mit Prostitution zumindest
       zeitweise Geld beschaffen.
       
       Ist es falsch zu behaupten, nicht die Sorge um die Drogenabhängigen,
       sondern die Sorge um die Männer, die Prostitution in Anspruch nehmen, hätte
       letztlich dazu geführt, dass die Methadon-Substitution sich durchsetzte?
       „Das ist nicht falsch“, sagt der Doc.
       
       ## Neue Probleme, neue Lösungen
       
       Wer damals ins Methadon-Programm wollte, musste mehrere Jahre Heroin
       gespritzt und zwei dokumentierte Entzüge hinter sich haben. Bei
       HIV-Positiven oder Schwangeren waren die Hürden nicht so hoch.
       
       Heute ist der Zugang zum Programm leichter. Aber nicht nur die politisch
       Verantwortlichen, auch die Leute, die mit Drogenabhängigen arbeiten, haben
       dazugelernt. „Wir sind mit unseren Klienten alt geworden“, sagt Silvia
       Wilske, die pädagogische Leiterin der Krisenhilfe. Anfänglich etwa war die
       Methadonabgabe räumlich von der vorgeschriebenen psychosozialen Betreuung
       getrennt. „Die haben im Krankenhaus das Methadon bekommen, aber bei uns
       sind sie nicht angekommen.“ Deshalb ist jetzt alles unter einem Dach.
       
       Der Umgang mit HIV, der Umgang mit drogenabhängigen Aussiedlern, neuerdings
       die Unterstützung von drogenabhängigen Flüchtlingen – für alles müssen sie
       immer wieder neue Lösungen finden. Dass Drogenabhängige oft keine
       Krankenversicherung haben, dass sie obdachlos sind. „Auch dass mit Methadon
       substituierte Frauen wieder ihre Menstruation bekommen, die mit Heroin
       meist ausbleibt, war plötzlich ein Problem“, erklärt Wilske, die selbst
       drei Kinder hat. Begleitung von Schwangeren musste organisiert werden.
       Methadon und reines Heroin schädigen die Embryos nicht organisch, wie etwa
       Alkohol und Nikotin, aber die Babys müssen nach der Geburt erst einmal
       einen Entzug machen. „Jetzt stehen wieder neue Probleme an: die alt
       gewordenen Junkies“, sagt Wilske, die fast so lange in der Krisenhilfe
       arbeitet, wie es sie gibt. Viele Drogenabhängige seien noch nicht sechzig
       und doch so hinfällig, dass sie in Altenpflegeheimen untergebracht werden.
       „Da passt nichts zusammen.“
       
       Auch die Drogenszene wird nun ausdifferenzierter gesehen. Es gebe
       Szenemeider, Szenegänger, Szenebewohner, sagt Elsner, der Doc. Eine
       Szenemeiderin ist die Mutter, die nachmittags, wenn das Café, der Druckraum
       und die Methadonambulanz zu sind, mit ihrer elfjährigen Tochter vorbeikommt
       und dieser, noch im Treppenhaus stehend, die Tür zum Zimmer zeigt, in dem
       sie jeden Morgen das Methadon bekommt. Jemand fragt, wer sie sei. Leise
       antwortet sie, dass sie die Erlaubnis habe, ihrer Tochter zu zeigen, wo ihr
       geholfen werde. Seit Jahren sind etwa ein Viertel der Substituierten
       Frauen. Die Zahl aller Substituierten mit Migrationshintergrund hingegen
       steigt. 2016 waren es etwa 40 Prozent.
       
       ## Bibi, Kuba und die Schneekönigin
       
       Im Café in der Viktoriastraße 67 im Erdgeschoss treffen sich die
       Szenegänger und -bewohner. Manche, die auf Methadon sind, nehmen noch etwas
       dazu: Drogen, Tabletten, Kokain, Alkohol. Alex ist da, Aussiedler aus
       Kasachstan. Jedem, der zuhört, sagt er, dass er Angst hat vor einem neuen
       Kalten Krieg. An einem Tisch stehen Metin, halb deutscher, halb türkischer
       Herkunft, und Bibi, deren Vater Grieche ist. Sie zeigt das Tattoo an ihrer
       Hand: ein verschwommenes mehrblättriges Hanfblatt, „das Szenezeichen“,
       erklärt sie.
       
       Beide wollen über ihre zerrupften Leben sprechen, es schmerzt sie, dass es
       hier dann auf Stichworte schrumpft. Metin ist irgendwie an seiner
       Bikulturalität zerbrochen. Und seine deutsche Mutter, die ihm oft Geld
       gegeben habe für Drogen, sei seit sechs Jahren tot. Bibi wiederum sei den
       Weg ihres Vaters gegangen. Der kam aus dem Alkohol- und Zuhältermilieu. Sie
       hat zwei Kinder, beim ersten hätte sie gemerkt, dass sie schwanger war, und
       habe sich „runterdosiert“. Beim zweiten nicht. „Das war nicht gut.“ Beide
       Kinder leben in Pflegefamilien. Susanne wiederum spricht nicht über ihr
       Leben, zeigt aber die Abszessnarben an ihren Beinen, die sie vom
       Heroinspritzen hat.
       
       Auch vor dem Café stehen Leute. Kuba, der Dealer, nicht abhängig sei er,
       und Milli, „die Schneekönigin“, seine Freundin, „seit 32 Jahren bin ich
       drauf“, sagt sie. Morgens wirkt die 51-Jährige fesch und klar und posiert
       für den Fotografen. Nachmittags, wenn die Krisenhilfe geschlossen ist und
       sie noch immer davor steht, sieht sie fahler aus, älter, geschrumpft. Das
       käme vom Alkohol. Sie holt eine Flasche Wodka aus ihrer Tasche, trinkt,
       steckt sie wieder ein und erzählt von ihrem Sohn, der bei einem
       Schwulenpaar aufwächst. „Alle haben mich gefragt, wie ich ihn bei Schwulen
       lassen könne.“
       
       Das Café ist ein Anlaufpunkt für alle, die Suchtprobleme haben. Wasser
       kostet 20 Cent, Bier darf mitgebracht werden. Warmes Essen gibt es auch. In
       einer Ecke hängt die Liste der verstorbenen Szenebewohner. Beinhard zeigt
       sie. Jedes Jahr im Sommer gibt es eine Feier für die Toten, sagt er und
       beantwortet auch noch leise diese Fragen:
       
       Worüber können Sie sich freuen? 
       
       Worüber ich mich freuen soll? Ich freue mich, wenn ich mein Geld bekomme,
       aber nicht lange, weil es so wenig ist.
       
       Was macht Sie traurig? 
       
       Dass die Jahre nichts gebracht haben. Nichts ist passiert. Ich war in so
       einer Blase. Da war so viel gewesen, was nicht war.
       
       Ob das Leben ihn verlor? 
       
       Es hat mich nie gehabt.
       
       4 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Waltraud Schwab
       
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