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       # taz.de -- Rechtsdrehend an der Waldorfschule: Das autoritäre Erbe
       
       > Die Rendsburger Waldorfschule hatte einen Geschäftsführer, der den
       > Reichsbürgern nahe stand. Ein Einzelfall – oder strukturell bedingt?
       
   IMG Bild: Offensichtlich kompatibel: Rechtes Denken und Steiners Lehre, hier Eurhythmie-Figur
       
       Rendsburg taz | Die Herren, die auf dem Pausenhof standen, waren auffallend
       kräftig, aber sehr freundlich. „Wir sind von der Polizei und machen hier
       ein Treffen“, hätten sie erklärt, so erinnert sich Arfst Wagner, damals
       Eurythmielehrer an der Waldorfschule Rendsburg. „Wir haben uns nett
       unterhalten.“ Aber die kräftigen Herren waren mutmaßlich Mitglieder des
       „Deutschen Polizei Hilfswerks“, einer rechtsextremen Gruppe. Dass sie in
       der Schule in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt einen Raum mieten
       konnten, war nur einer in einer Reihe seltsamer Vorfälle.
       
       „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Staat, sondern geschäftsführender
       Justiziar einer Ländersimulation. Es gibt de jure und de facto keinen Staat
       Bundesrepublik Deutschland“ – so steht es in einem Flugblatt, das der
       damalige Geschäftsführer der Freien Schule am 26. April 2013 im
       Lehrerzimmer verteilte. Das zweiseitige Blatt, das der taz vorliegt, stammt
       von einer „Deutschen Pressestelle für Völker- und Menschenrechte“ und
       verkündet in der Titelzeile: „Wissen, was wirklich abgeht. Nichts ,Braunes’
       – nur offenkundige Fakten“. Zu diesen „Fakten“ zählt: Es gibt keine
       legitime Regierung im Land, Finanzbehörden und Polizei arbeiten illegal.
       Typische Argumente der Reichsbürgerbewegung.
       
       „Da muss man doch reagieren, da müssen die Alarmglocken läuten“, sagt
       Wagner. Aber nach seiner Erinnerung hätten mehrere Mitglieder des
       Kollegiums das Blatt schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Wagner und eine
       Gruppe weiterer Lehrkräfte und Eltern forschten nach. Der buchstäblich
       krönende Abschluss ihrer Suche: Sie entdeckten den Schulangestellten, der
       seit 2010 im Amt war, auf einem Youtube-Filmchen, in dem ein Reichsbürger
       zum „König“ gekrönt wurde.
       
       ## Angst vor Hetze gegen „Verräter“
       
       Wagner schlug Alarm, im September 2014 wurde der Geschäftsführer entlassen.
       Also alles gut? Nein sagt Wagner. Nein sagen auch andere, die gegenüber der
       taz zwar viel von „ihrer“ Schule erzählen, aber anonym bleiben wollen – aus
       „Angst“, es könne „Hetze gegen Verräter“ geben.
       
       „Wir haben alles sauber aufgearbeitet“, sagt dagegen Thomas Felmy, Sprecher
       der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) der Waldorfschulen in
       Schleswig-Holstein. Die LAG und die Bundesvereinigung der Waldorfschulen
       wurden 2014 zu Hilfe geholt. Ein Interimsvorstand übernahm die
       Verantwortung im Trägerverein. Die Schule informierte die Eltern, ging an
       die Öffentlichkeit. Auch fachlich sei das Thema angegangen worden, sagt
       Felmy. Der Bundesverband stellte eine Broschüre mit Tipps rund um die
       Reichsbürgerbewegung zusammen, ein Arbeitskreis „Waldorf gegen Rechts“
       entstand.
       
       „Das Kollegium in Rendsburg hat sich einmütig gegen den Reichsbürger
       gestellt, als er enttarnt war“, sagt Otto Ohmsen, der 2015 als Schulleiter
       geholt wurde. „Mit so einem wollte niemand zusammenarbeiten, das war ganz
       klar.“
       
       Auch Arfst Wagner sagt: „Die Schule ist nicht rechts.“ Wagner ist Mitglied
       der Grünen, war eine Zeit lang Landesvorsitzender und
       Bundestagsabgeordneter und hat seit der Enttarnung des Reichsbürgers in
       Texten und Interviews Stellung zu der möglichen Verbandelung von
       Anthroposophie und rechtem Gedankengut bezogen.
       
       Nicht ganz abwegig, schließlich stehen in Steiners Texten einige eindeutig
       rassistische Zitate, etwa über das „starke Triebleben des Negers“, der „in
       seinem Inneren von der Sonne gekocht“ werde. Von diesen kruden Ideen sieht
       Wagner die heutige anthroposophische Bewegung weit entfernt. Auch in
       Rendsburg sei keine inhaltliche Nähe der handelnden Personen „zur
       Reichsbürgerei“ vorhanden, wohl aber zu „Reichsbürger-Strukturen“. Er
       benutzt einen Vergleich: „Wenn jemand Fieber und hohen Blutdruck hat,
       können diese Symptome auf verschiedene Krankheiten hinweisen.“
       
       Auch Otto Ohmsen sagt, die Probleme hätten nichts mit dem Reichsbürger zu
       tun. Und auch er denkt bei der Rendsburger Schule an einen Kranken: „Eine
       Grippe ist da, Mumps kommt dazu. Der Mumps wird behandelt, die Grippe
       bleibt.“
       
       Heißt: Die Schule war bereits dysfunktional. Und wie ein geschwächter
       Organismus anfällig für Keime ist, war sie damals anfällig für eine Person
       mit eigener Agenda. Liegt diese Schwäche im System oder trafen in Rendsburg
       mehrere Faktoren unglücklich zusammen?
       
       Der Zusatz „frei“, den alle Waldorfschulen im Namen haben, steht für ein
       Weltbild. „Als Freie Schulen haben die Waldorfschulen die hierarchisch
       organisierte Außenlenkung der staatlichen Schulen durch eine freiheitliche
       Verfassung ersetzt“, heißt es auf der Homepage der Bundesvereinigung der
       Waldorfschulen. „Die Selbstverwaltung erfolgt durch Eltern und Lehrer und
       stellt ein zukunftsorientiertes soziales Erfahrungsfeld dar.“
       
       ## Entscheidungen beim Pinkeln
       
       In Rendsburg, so erinnern es Wagner und andere Lehrkräfte, sei aber unter
       dem Logo der Selbstverwaltung eine hierarchische Struktur entstanden,
       sogar noch bevor der als Reichsbürger enttarnte Geschäftsführer ins Amt
       kam. Fragen bis hin zu Personalangelegenheiten seien im kleinsten Kreis –
       „beim Pinkeln auf dem Klo“ – entschieden worden. Dagegen seien andere
       angegangen, sie wollten die Selbstverwaltung stärken.
       
       Der neue Geschäftsführer habe anfangs einen guten Eindruck gemacht, „ein
       charmanter Mann“, heißt es über ihn. „Ein Macher.“ Aber einer, der keinen
       Wert darauf legte, andere einzubeziehen: „Bei einer Versammlung mit Eltern
       sagte er sinngemäß: Lasst mich mal machen“, erinnert sich jemand.
       
       Tatsächlich, da sind sich alle Seiten einig, gab es viel zu tun. Die
       Schule, ein Backsteinbau mit abgerundeten Fensterrahmen liegt in einer
       ruhigen Nebenstraße. Sie gründete sich 1950 als bundesweit erste
       Waldorfschule mit Internat und habe damit einen hohen Stellenwert für die
       Waldorfbewegung, sagt ein Elternteil. Die Schule ist für 750 Kinder
       ausgelegt, auch einige Nachbarhäuser, die ehemaligen Internatsgebäude, sind
       im gleichen Stil errichtet, der für die anthroposophische Lehre Rudolfs
       Steiners typisch ist. Doch die Kinderzahlen sanken bei gleichbleibend
       großem Kollegium. Die Schule geriet in finanzielle Schieflage.
       
       Der Geschäftsführer verkaufte die Nachbargebäude – ob zu billig, bleibt
       strittig. Eine weitere Entscheidung betraf das Café, das eine Pächterin auf
       dem Schulgelände betrieb. Sie erhielt die Kündigung. Grundlos,
       ungerechtfertigt, fanden Eltern und Kinder: „Das Café war das Herz der
       Schule.“ Die Bitte, eine Schulversammlung abzuhalten, lehnte der Vorstand
       des Trägervereins ab. Eltern sammelten Unterschriften, um eine Versammlung
       zu erzwingen. Am Ende zogen sie vor Gericht und gewannen: Die Versammlung
       fand statt, eine Mehrheit stimmte für den Erhalt des Cafés.
       
       Dass Eltern gegen die eigene Schule klagen, das sei „schon abenteuerlich“,
       sagt Thomas Felmy von der LAG der Waldorfschulen. „Vorsichtig gesagt: Es
       herrscht eine gewisse Streitfähigkeit.“ Er bestätigt Ohmsens Eindruck: Die
       Wurzeln der Konflikte reichten tiefer, und sie wurden durch den Abgang des
       Geschäftsführers nicht gekappt.
       
       Wagner, aber auch Eltern kritisieren, die Schule werde heute
       undemokratischer denn je geführt: „Personen, die eng mit dem
       Geschäftsführer zusammengearbeitet hatten, sind im Amt geblieben“, so ein
       Elternteil. Auch andere klagen, der Bund und die LAG hätten „den Kurs des
       Reichsbürgers nahtlos fortgeführt“.
       
       Verdächtigungen werden laut: „Kurz nachdem der Geschäftsführer enttarnt
       war, wurde ein Aktenschredder angeschafft, ein Papiercontainer stand auf
       dem Schulhof“, erinnert sich Arfst Wagner. Kein ungewöhnlicher Akt für eine
       Schule – aber warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Bis heute „gibt es
       keine Transparenz, alles wird geheim gehalten“, so ein Elternteil. Es
       entstehe der Eindruck einer „mittelalterlichen Ständestruktur“, bei der
       „Eltern nichts gelten, Schüler schon gar nichts“.
       
       ## Kein Franchise-System
       
       Schulleiter Otto Ohmsen dreht den Spieß um: „Die Rendsburger Schule hat es
       verschlafen, sich modern aufzustellen.“ Die alte Selbstverwaltungs-Idee in
       Reinform habe in den Schulen „zu einem Chaos geführt“ – durchaus
       sympathisch, aber gefährlich. Alle reden mit, keiner trägt Verantwortung,
       „das war eine Strukturschwäche vieler Waldorfschulen“, sagt Ohmsen. Bereits
       vor 20 Jahren seien die meisten Vereine umgestellt worden, auch mithilfe
       von Beratungsfirmen. Aber, so Felmy: „Waldorf ist kein Franchise-System.
       Jeder Verein entscheidet über seine Struktur allein.“
       
       Heute ist die Schule insolvent. Ein neuer Trägerverein, gebildet aus den
       Personen des alten Vereins, oder ein Träger von außen könnten übernehmen,
       aber noch sind Fragen offen. So muss das Land zustimmen, trotz
       Trägerwechsels weitere Zuschüsse zu zahlen. Gestritten wird um einen
       Arbeitsrechtsfall. Außerdem geht es um Altschulden, unter anderem für die
       Pensionen der Lehrkräfte, die seit Jahren nicht komplett gezahlt wurden.
       
       Auch hier lägen die Wurzeln länger zurück als in die Zeit des
       Reichsbürgers, sagt Felmy. Aber besser gemacht hat der „charmante Macher“
       die Sache nicht: Laut dem Bericht einer Unternehmensberatung, der der taz
       vorliegt, habe ein Mitarbeiter der Rentenkasse den Geschäftsführer im Jahr
       2013 auf das Problem hingewiesen und Sonderzahlungen vorgeschlagen. Doch
       „leider unterblieb das“.
       
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       in der taz am Wochenende – im Zeitschriftenhandel oder am [1][eKiosk].
       
       30 Mar 2018
       
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