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       # taz.de -- Uhrenmuseum-Leiter über Standardzeit: „Zeit ist Macht“
       
       > Vor 125 Jahren führte das Deutsche Kaiserreich die Mitteleuropäische Zeit
       > ein. Sie existiert seitdem wie selbstverständlich. Ist sie das auch?
       
   IMG Bild: Wäre es überall auf der Welt kurz nach eins, wäre das auch ganz schön verwirrend
       
       taz am wochenende: Herr Saluz, am 1. April 1893 wurde in Deutschland die
       Mitteleuropäische Zeit, die MEZ, eingeführt. Im Deutschen Uhrenmuseum gibt
       es zu diesem Thema nun eine Sonderausstellung. Wie funktionierte das Leben
       ohne Standardzeit? 
       
       Eduard Saluz: Ganz einfach. Dort, wo man war, hat man mit einer Sonnenuhr
       festgestellt, wie spät es ist. Danach hat man dann seine Uhren gerichtet,
       sodass jedes Dorf seine eigene Zeit hatte. Es war nicht so wichtig, wie
       spät es im Nachbardorf war. Wenn man dorthin ging, merkte man nicht, dass
       die Zeit dort ein wenig von der eigenen abwich.
       
       Durch was änderte sich das? 
       
       Solange man sich nicht schnell bewegte, gab es kein Problem, erst als es
       schnelle Verkehrsmittel gab. Wer mit der Eisenbahn in einer Stunde von
       Stuttgart von Karlsruhe fuhr, bemerkte beim Blick auf die Taschenuhr schon,
       dass etwas nicht stimmt und die Zeit drei Minuten abweicht.
       
       Die Eisenbahn war also Auslöser für die Standardisierung? 
       
       In den USA passierte 1853 ein heftiger Unfall zwischen zwei Zügen mit 13
       Toten. Einer der Zugführer hatte seine Uhr nach einer falschen Ortszeit
       gestellt. Damals hatte man noch keine Signale, sondern nur Fahrpläne, die
       den Zugführern angegeben haben, zu welcher Zeit welche Strecke frei ist.
       Als Konsequenz aus diesem Unfall hat man Stufe für Stufe erst einmal
       Eisenbahnzeiten eingeführt. Jede Eisenbahngesellschaft hatte ihre eigene
       Fahrplan-Zeit, die sie in ihrem Gebiet für verbindlich erklärte.
       
       Kompliziert. 
       
       Allerdings. Etwa in der Grenzstadt Genf gab es einen Turm mit drei Uhren.
       Eine zeigte die französische Eisenbahnzeit aus Paris an, eine die Schweizer
       Zeit aus Bern und eine die Genfer Ortszeit. Und je nachdem, wo man was
       machen wollte, musste man sich nach einer anderen Uhrzeit richten.
       
       Wann änderte sich das? 
       
       In Washington fand 1884 die Meridiankonferenz statt. Dort einigte man sich
       auf ein einheitliches Grad-System für Landkarten mit dem Meridian von
       Greenwich in England als Nullmeridian. Und ebenso gab es den Vorschlag, ein
       Weltzeitsystem einzuführen. Das mussten die einzelnen Länder ratifizieren,
       was bis heute noch nicht vollständig geklappt hat.
       
       Warum nicht? 
       
       Ich denke, dass es da um Herrschaft geht. Über die Zeit zu herrschen
       bedeutet Macht. Wir sehen Zeit als etwas Objektives, das wir nicht
       verändern können. Ein Diktator kann seinen Untertanen aber einfach eine
       eigene Zeit aufdrücken.
       
       Etwa in Nordkorea, wo seit 2015 die „Pjöngjang-Zeit“ gilt. 
       
       Genau, das ist ein wunderbares Beispiel dafür. Auch in anderen asiatischen
       Regionen weichen Zeiten um eine halbe Stunde ab.
       
       Nach der Konferenz in Washington 1884 hat es dann noch neun Jahre bis zur
       Einführung der Standardzeit in Deutschland gedauert. Andere Länder waren
       schneller oder langsamer … 
       
       … oder haben die Zone gewechselt. Kann man ja machen.
       
       Warum ging das so hin und her? 
       
       Das hatte auch etwas mit nationalen Interessen und Rücksichtnahmen zu tun.
       In Frankreich waren es im Zweiten Weltkrieg die Deutschen, die die
       Mitteleuropäische Zeit eingeführt haben, um während der Besatzungszeit eine
       einfachere Kommunikation mit dem Deutschen Reich zu haben. Vorher hatten
       die Franzosen die gleiche Zeit wie die Engländer, was geografisch auch viel
       mehr Sinn gemacht hat. Noch schlimmer ist es in Spanien, wo die Faschisten
       unter General Franco im Jahr 1942 mitgezogen haben und auch die
       Mitteleuropäische Zeit einführten.
       
       Was ist daran schlimm? 
       
       Der Meridian für die Mitteleuropäische Zeit befindet sich in Görlitz, also
       an der Grenze zu Polen. Und an der spanischen Westgrenze herrscht die
       gleiche Zeit. Dabei beträgt dort der reale Unterschied zur MEZ über
       anderthalb Stunden. Das verschiebt den Lichthaushalt und heißt, dass in
       Spanien etwa Kinder noch im Dunkeln in die Schule gehen müssen und man sich
       schlafen legt, wenn es noch lange hell ist.
       
       Im 19. Jahrhundert wurden auch andere Dinge standardisiert, etwa der Meter
       oder das Kilogramm. Warum machte man das alles? 
       
       Ich denke, dass es nach den Durchbrüchen zur Entschlüsselung der
       Naturgesetze und der Möglichkeit, diese etwa durch Maschinenbau anzuwenden,
       eine Art Euphorie für Technik gegeben hat. Die funktioniert nur mit
       Standardisierung. Ich kann nicht bei einer Fabrik Schrauben bestellen, wenn
       dort nicht mit den gleichen Maßen gearbeitet wird, mit denen auch ich
       arbeite.
       
       Wie reagierten die Menschen auf die Standardisierung? 
       
       Da wurde heftig diskutiert. Die Befürworter waren Industrie und Militär.
       Denn Krieg ist etwas, das zentral gesteuert wird und wo es um koordinierte
       Aktionen geht. Die Gegner waren diejenigen, die in lokalen Zusammenhängen
       gedacht haben. Also dass es etwa den Kühen nicht gut tut, weil die Bauern
       sie zur falschen Zeit melken.
       
       Aber das System setzte sich durch. 
       
       Über die Auswirkungen kann man streiten. Ich glaube, wir kommen immer
       weiter weg von einem natürlichen Zeitverständnis. „Mittag“ heißt, dass die
       Sonne am höchsten Punkt steht und die Mitte des Tages erreicht ist. Davon
       haben wir uns aber sehr entfernt, weshalb solche Wörter eigentlich ihren
       Gehalt verloren haben.
       
       Was wäre denn, wenn es nur noch eine einzige Weltzeit gäbe? 
       
       Das Problem wäre der Datumswechsel, der ja dann überall gleichzeitig
       passieren würde. Also an einem Ort in der Nacht und anderswo während des
       Mittagessens. Bei einer Uhrzeit können wir sagen: Es ist halb zwei. Mit dem
       Datum geht das nicht, es gibt kein „halb morgen“. Stattdessen gibt es immer
       wieder Vorschläge, dass man eine einheitliche Weltzeit für die
       Kommunikation hat, aber daneben Ortszeiten bestehen lässt.
       
       2 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Mayer
       
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