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       # taz.de -- Reform im Abtreibungsrecht: Debatte um §219a verschärft sich
       
       > Die Union missbraucht den §219a als Schutzschild für §218 und
       > argumentiert verkürzt. Die SPD hilft ihr, eine Anhörung im Parlament zu
       > blockieren.
       
   IMG Bild: Kristina Hänel (Mitte) mit Unterstützer*innen von FDP, Grünen und Linkspartei vor dem Reichstag – damals auch noch mit dabei: die SPD
       
       BERLIN taz | Die Debatte um das Verbot von „Werbung für
       Schwangerschaftsabbrüche“ – Paragraf 219a – wird zunehmend aufgeladen: mit
       rechtskonservativen Kampfbegriffen, mit Unterstellungen, mit
       abenteuerlichen Vergleichen und ideologisch motivierten Unsachlichkeiten.
       In einem emotionalen [1][Brief hat sich die Ärztin Kristina Hänel] deshalb
       an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt und sie darin um „eine
       Versachlichung der Debatte“ gebeten.
       
       Hänel war Ende November vom Amtsgericht Gießen zu einer Geldstrafe von
       6.000 Euro verurteilt worden, weil sie auf ihrer Webseite darüber
       informiert hatte, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Hänel
       schreibt an Merkel: „Im öffentlichen Diskurs wird aber nur die Position der
       sogenannten „Lebensschützer“ auch seitens Ihrer Partei geäußert.“
       
       Bei einem gemeinsamen Interview von Juso-Chef Kevin Kühnert und dem
       Vorsitzenden der Jungen Union, Paul Ziemiak, in der Mittwochsausgabe der
       Rheinischen Post führt Ziemiak das nun einmal mehr vor. Kühnert sagt dort
       zunächst, er sei mit diesem Auftakt in die neue große Koalition „keineswegs
       zufrieden“. Das Thema jetzt „mit einer dünnen Erklärung“ zurückzustellen,
       erscheine ihm tatsächlich „wie ein Einknicken“.
       
       Anders als ursprünglich geplant, hatte die SPD auf Bitten der Union keinen
       eigenen Gesetzentwurf zu einer Streichung des Paragrafen eingebracht.
       Kühnert fordert die Aufhebung der Fraktionsdisziplin bei einer Abstimmung
       im Bundestag, diese sollte vielmehr als Gewissensfrage behandelt werden. Er
       habe „große Zweifel“, dass der angekündigte gemeinsame Vorschlag der
       Bundesregierung „fortschrittlich“ sein werde. „Frauen sollten in so einer
       schwierigen Situation alle Informationen für eine selbstbestimmte
       Entscheidung bekommen“, so Kühnert.
       
       ## „Union will dem Parlament Maulkorb anlegen“
       
       Die Antwort des JU-Chefs Ziemiak darauf ist kurz: „Es geht dabei nicht nur
       um die Selbstbestimmtheit der Frau, sondern auch um den Schutz des
       ungeborenen Lebens. Es wird mit der Union keine Änderung des Paragrafen
       219a geben.“ Nach dem Rückzug der SPD hatte die neue Bundesregierung
       angekündigt, dass stattdessen das Justizministerium jetzt einen Vorschlag
       erarbeiten soll. Grüne und Linkspartei wollen den §219a streichen, die FDP
       ihn modifizieren und nur noch „unlautere Werbung“ unter Strafe stellen.
       
       Wie FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae der taz sagte, „boykottiert und
       verschleppt“ die Union derzeit aber im Rechtsausschuss sogar das Angebot
       des Parlaments, eine öffentliche Anhörung durchzuführen, was „völlig
       unverständlich“ sei. Dabei zur Hilfe kommt ihr die SPD. Wie die
       frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Cornelia Möhring, der taz
       berichtete, blockierten die Sozialdemokrat*innen im Rechtsausschuss die
       nötige Mehrheit, um einen Termin für die Anhörung zu vereinbaren.
       
       Die Fraktionen von Linkspartei, Grünen und FDP wollten diese am 16. April
       stattfinden lassen, die SPD verhinderte dies. „Die SPD hebelt derzeit
       unsere Minderheitenrechte aus“, sagte Möhring der taz, „wir sind das
       Parlament!“. Möhring und FDP-Fraktionsvize Thomae sind sich einig: Derzeit
       werde alles versucht, um dem Parlament einen Maulkorb anzulegen.
       
       Ein Grund für diesen Maulkorb könnte sein, dass die Union darum weiß, wie
       dünn ihre Argumentation ist. Tatsächlich ist auch Ziemiaks Aussage in dem
       Gespräch mit Kühnert schlicht falsch. Im §219a geht es neben einer
       Rechtssicherheit für Ärzt*innen einzig und allein um die Selbstbestimmtheit
       von ungewollt Schwangeren und die Frage, wie es ihnen gelingt, in einer
       schwierigen Situation an Informationen heranzukommen. Der „Schutz des
       ungeborenen Lebens“, wie Ziemiak ihn versteht, wird indes in den Paragrafen
       218ff. geregelt, die das Ergebnis eines langen gesellschaftspolitischen
       Ringens waren.
       
       ## FDP auf der Suche nach einer Mehrheit
       
       Der FDP-Vizevorsitzende Wolfgang Kubicki sagte der Nachrichtenagentur AFP,
       er hoffe, dass sich Linke und Grüne dem FDP-Vorschlag zum Paragrafen 219a
       anschließen werden. „Von der Linken haben wir bereits positive Signale.“ Er
       wünsche sich das Gleiche auch von den Grünen um zu zeigen, „dass es im
       Bundestag eine Mehrheit jenseits der Union für eine Änderung des
       Strafrechtsparagrafen geben kann.“ Cornelia Möhring von der Linkspartei
       sagte der taz, Ziel sei nach wie vor eine Lösung außerhalb der Strafrechts,
       Informationsfreiheit für Betroffene und Rechtssicherheit für Ärzt*innen.
       
       Eine Mehrheit kommt aber nur zustande, wenn neben FDP, Linken und Grünen
       auch die SPD für ein neues Gesetz stimmt. Die FDP setzt nun darauf,
       SPD-Abgeordnete bei einer möglichen Abstimmung auf ihre Seite zu ziehen.
       „Ich kann mir derzeit nur sehr schwer vorstellen, dass sich auch die
       weiblichen Abgeordneten der SPD der apodiktischen Position der Union
       anschließen und unseren Antrag ablehnen“, warb Kubicki um die mit dem
       Vorgehen ihrer Fraktion unzufriedenen Sozialdemokrat*innen.
       
       Zwar nicht Teil der Fraktion, aber unzufrieden ist auch Kevin Kühnert. Im
       Interview mit der Rheinischen Post betont der Juso-Chef, es gehe bei 219a
       nicht um Werbung, sondern um Information. Er finde es interessant, „dass
       sich mit CDU/CSU und AfD ausgerechnet die Fraktionen gegen eine Änderung
       des 219a sperren, die den höchsten Männeranteil haben.“
       
       Ziemiak stürzt sich genau auf diesen letzten Teil der Aussage, übergeht
       Kühnerts Hinweis auf die Einschränkung der Informationsfreiheit durch den
       §219a, und entgegnet, die Position seiner Partei werde von „Frauen wie
       Männern in der Union aus tiefer Überzeugung getragen.“
       
       ## Als Schutzschild missbraucht
       
       Und so hat es sich die Union unlängst zur Gewohnheit gemacht, das
       eigentliche Anliegen, das die Befürworter*innen einer Streichung des §219a
       verfolgen, saumselig zu ignorieren. Der Paragraf 219a StGB steht zwar unter
       der Überschrift „Werbung für Abtreibungen“, führt damit aber in die Irre.
       
       Denn er meint sowohl, wenn in „grob anstößiger Weise eigene oder fremde
       Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs“
       angekündigt, angeboten oder angepriesen werden, als auch, wenn dies jemand
       „öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften
       seines Vermögensvorteils wegen“ macht. Letzteres betrifft auch die
       sachliche und seriöse Information einer Ärztin oder eines Arztes, dass er
       oder sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Spätestens seit dem Fall
       Hänel ist dies bekannt.
       
       Doch wie ein Schutzschild wird das Informationsrecht von ungewollt
       Schwangeren derzeit vor den als solchen kolportierten „Schutz des
       ungeborenen Lebens“ geschoben, der §219a muss als Panzer herhalten für das,
       was im §218 geregelt ist. Die Beratungsregelung, die in Paragraf 218
       festgeschrieben ist, würde bei einer Änderung des 219a jedoch in keiner
       Weise berührt.
       
       „Natürlich wissen auch alle in der Union, dass sich ein Verbot sachlicher
       Informationen an sich nicht legitimieren lässt“, sagte die Sprecherin des
       Kriminalpolitischen Kreises, Elisa Hoven, in einem Interview mit der taz.
       Deswegen behaupte die Union, dass hierdurch der mühsam erlangte Kompromiss
       der Paragrafen 218 ff. in Frage gestellt würde. „Das ist aber nicht der
       Fall“, sagt Hoven, die den Kompromissvorschlag der FDP ausgearbeitet hat.
       
       ## Verliert Kauder den Fraktionsvorsitz?
       
       Doch die Angst in der Union, nach mehr als 20 Jahren um das Thema
       Abtreibung erneut elementar ringen zu müssen, scheint riesig zu sein. Wie
       die BILD-Zeitung berichtet, könnte der langjährige Merkel-Vertraute Volker
       Kauder darüber sogar seinen Fraktionsvorsitz verlieren. Er hatte der SPD
       zunächst gestatten wollen, ihren eigenen Gesetzentwurf einzubringen.
       
       In seinem eigenen Landesverband aus Baden-Württemberg hatte sich dagegen
       aber so erbitterter Protest geregt, dass schließlich SPD-Fraktionschefin
       Andrea Nahles Kauder den Hals rettete. Kauder dementierte laut BILD, bei
       der Wahl zum Fraktionsvorsitz im September nicht wieder antreten zu wollen.
       
       Grüne und Linkspartei befürchten unterdessen, dass die Reform des
       Paragrafen auf der Strecke bleibt. „Mein Eindruck ist, dass das auf den
       Sankt Nimmerleinstag verschoben werden soll“, sagte der Linken-Abgeordnete
       Niema Movassat der dpa. Theoretisch können die Regierungsmitglieder im
       Rechtsausschuss zehn Mal in Folge die Festlegung eines Termins zu einer
       Anhörung verhindern, dann wird der Punkt auf die Tagesordnung des Plenums
       gesetzt. Cornelia Möhring sagt: „Es darf nicht so lange gewartet werden wie
       bei der Ehe für alle.“
       
       Chancen hätte eine Reform aber wohl vor allem dann, wenn die Entscheidung
       um §219a, wie die zur Ehe für alle, zu einer Gewissensentscheidung gemacht
       wird.
       
       21 Mar 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://solidaritaetfuerkristinahaenel.wordpress.com/2018/03/19/kristina-haenel-schreibt-an-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hanna Voß
       
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   DIR Abtreibungsgegner über §219a: „Das ist halt so mein Hobby“
       
       Markus Krause zeigt ÄrztInnen wie Kristina Hänel an, die auf ihrer Webseite
       darüber informieren, dass sie Abtreibungen anbieten. Warum macht er das?
       
   DIR Debatte um § 219a: Spahn rüstet ab – verbal
       
       In der Debatte um § 219a scheinen Regierungspolitiker versöhnlicher.
       Unionspolitiker lehnen eine Änderung aber weiter ab.
       
   DIR Debatte um Paragraf 219a im Bundestag: SPD fordert freie Abstimmung
       
       Immer mehr SPD-Abgeordnete kritisieren den Umgang ihrer Partei mit 219a.
       Sie fordern nun, dass ohne Fraktionszwang über den Paragrafen entschieden
       wird.
       
   DIR Medialer Umgang mit Paragraf 219a: Werbung ≠ Information
       
       „Buzzfeed“ beschreibt Paragraf 219 a neuerdings als „Informationsverbot“
       statt als „Werbeverbot“ von Abtreibungen. Gut gemeint, aber ungenau.
       
   DIR Streit um „Werbung“ für Abtreibungen: Spahn verteidigt 219a
       
       Die SPD hofft, gemeinsam mit der Union Paragraf 219a zu reformieren. Die
       aber erteilt jeglichen Änderungen eine Absage – allen voran Jens Spahn.
       
   DIR Immer weniger Ärzt*innen: Der lange Weg zur Abtreibung
       
       Die Lage von ungewollt Schwangeren ist in einigen Regionen Deutschlands
       katastrophal. Zu wenig Ärzt*innen machen Abbrüche.