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       # taz.de -- Graphic Novel aus Frankreich: Eine nicht ganz konfliktfreie Beziehung
       
       > Zwei Brüder, die unterschiedlicher kaum sein könnten, sind die
       > Hauptfiguren der berührenden Graphic Novel „Die zwei Leben von Balduin“
       > von Fabien Toulmé.
       
   IMG Bild: Szene aus dem Band „Die zwei Leben von Balduin“ des französischen Zeichners Fabien Toulmé
       
       Die Musik lässt ihn abheben. Wenn ein Straßenmusiker in der Metro einen
       Song spielt, verleiht das dem etwa dreißigjährigen Balduin Flügel: Er
       schläft ein und träumt davon, zum Meer zu fliegen. Als Schüler spielte
       Balduin in einer Band und sah seine Zukunft als Rocksänger und
       Leadgitarrist. Doch er ging lieber auf Nummer sicher. Nun arbeitet Balduin
       für eine Pariser Unternehmensberatung als Anwalt, oft bis zur Erschöpfung.
       Da bietet ein Treffen mit seinem älteren Bruder Luc, der als Arzt in Benin
       arbeitet und nur wenige Wochen in der Stadt ist, eine willkommene
       Abwechslung.
       
       Die beiden Brüder verstehen sich gut, auch wenn sie grundverschieden sind –
       während Balduin ein in seinem Alltag gefangener Single ist, ist Luc ein
       unbekümmerter Hallodri. Die Graphic Novel „Die zwei Leben von Balduin“ von
       Fabien Toulmé fängt recht undramatisch an, setzt pointiert kleine
       humoristische Akzente, um den Allerweltstypen Balduin – ein rothaariger
       Schlaks mit runder Brille – als sympathische Identifikationsfigur zu
       etablieren, der man nichts Böses wünschen möchte. Umso härter trifft den
       Leser nach 80 Seiten die Diagnose: Krebs. Keine Hoffnung mehr.
       
       Der 1980 geborene, in Aix-en-Provence lebende französische Zeichner Fabien
       Toulmé veröffentlichte 2015 sein erstes längeres Comicbuch: „Dich hatte ich
       mir anders vorgestellt“. In der autobiografischen Graphic Novel erzählte
       Toulmé, wie er nach der Geburt seiner zweiten Tochter vollkommen
       unvorbereitet damit konfrontiert wurde, dass bei ihr der Gendefekt Trisomie
       21 festgestellt wurde. Berührend, humorvoll und manchmal schockierend
       ehrlich beschrieb Toulmé, wie er und seine Frau den ersten Schock verdauen
       mussten und allmählich lernten, ihr Kind anzunehmen und wie jedes andere
       lieben zu lernen.
       
       ## Ein unerfülltes kurzes Leben
       
       Toulmés Graphic Novel war in Frankreich sehr erfolgreich und wurde seinem
       komplexen Thema auf zugleich unterhaltende wie feinfühlige Weise gerecht.
       Seine neue Graphic Novel ist nicht autobiografisch motiviert und stellt die
       Frage: Wie lebt man mit der Diagnose Krebs im Endstadium? Der Comiczeichner
       hat sich in die Psyche eines Betroffenen hineinversetzt, der das Leben eben
       noch vor sich zu haben glaubte und nun mit der Perspektive eines
       unerfüllten, verkürzten Lebens zurechtkommen muss.
       
       Toulmé ist jedoch nicht daran gelegen, den ultimativen Lebensratgeber zu
       einem bleischweren Thema zu verfassen. Vielmehr erzählt er eine
       exemplarische Geschichte: die zweier Brüder, die unterschiedlicher nicht
       sein können und dementsprechend konträre Lebensentwürfe verfolgen.
       
       Sein Trumpf dabei: Fabien Toulmé erzählt sehr leichtfüßig, benötigt nur
       wenige Bilder, um den eingefahrenen Alltag seines Protagonisten Balduin zu
       skizzieren: hier die „Ausbeutung“ durch den strapaziösen Job und
       nervenzehrende Vorgesetzte, dort die allabendliche Entspannung in seiner
       gemütlichen Wohnung, voller Musikreminiszenzen samt Katze („Morrison“).
       Eine Partnerin ist zwar erwünscht, aber nicht in Sichtweite, Balduin hat
       sich in seinem Singleleben eingeigelt. Mit dessen Bruder skizziert Toulmé
       einen spiegelbildlichen Kontrast: Luc ist sexuell aktiv und weltläufig.
       
       ## Niederschmetternde Diagnose
       
       Als Balduin eines Tages eine verdächtige Beule in seiner Achselhöhle
       auffällt, schickt ihn der Bruder zu einem befreundeten Spezialisten, der
       die niederschmetternde Diagnose stellt. Statt sein bisheriges Leben
       weiterzuführen, beschließt Balduin (auf Rat des Bruders – ein nicht
       unwesentliches Detail für den Verlauf der Graphic Novel), seinen Job
       hinzuschmeißen und mit Luc für einige Zeit nach Benin zu gehen. Dort wird
       Balduins Leben wieder „in Schwung“ kommen.
       
       Die nicht konfliktfreie Beziehung der Brüder zueinander wird nach und nach
       in Form von Rückblenden (zwischen den einzelnen Kapiteln) aufgearbeitet,
       die die beiden als Heranwachsende zeigen: Schon früher hatte sich der
       Ältere leichter mit dem Leben arrangiert, während der Jüngere, Schüchterne,
       immer zu kämpfen hatte – mit den Erwartungen der Gleichaltrigen, den
       Mädchen, der innerfamiliären Konkurrenz zwischen den Brüdern. Die kleinen
       Grausamkeiten unter Jugendlichen kann Toulmé dabei besonders gut
       offenlegen, wenn etwa eine Freundin Balduin bei Musikproben besucht, was
       seine Bandkollegen zu albernen Bemerkungen verleitet.
       
       In klaren, sanft karikierenden und freundlich kolorierten Zeichnungen
       schafft es Toulmé, das schwere Thema auf lockere, humorvolle Weise zu
       transportieren, sodass sich der Leser in Balduin einfühlen kann und auch
       sein Umfeld plastisch und lebensnah erscheint.
       
       Das Buch überzeugt vor allem als berührende grafische „Liebesgeschichte“
       zweier Brüder, von denen der eine glaubt, dem anderen einen – nicht ganz
       fairen – Stoß versetzen zu müssen, um ihn wieder ins Leben zu holen. Die
       Lebensfreude, die der eine Bruder dem anderen nahebringt, springt auch auf
       den Leser über, der am Ende mit einer Überraschung konfrontiert wird, die
       nicht vorhersehbar war.
       
       11 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralph Trommer
       
       ## TAGS
       
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