URI: 
       # taz.de -- Literat Domenico Starnone über 68: „Lügen ist leichter“
       
       > Der italienische Autor Starnone beschreibt in seinem Roman „Auf immer
       > verbunden“ die Folgen von 1968 fürs Private und die selbst gewählten
       > Käfige der Moral.
       
   IMG Bild: War 68 ein Aufbruch aus der Enge der Kleinfamilie?
       
       taz am wochenende: Herr Starnone, Ihr Roman „Auf immer verbunden“ ist die
       Geschichte einer Ehe. Es ist das schonungslose Abbild einer Familie im
       Italien der 70er Jahre. Die Lektüre kann emotional enorm aufwühlend sein. 
       
       Domenico Starnone: Beruhigungsmittel kauft man in der Apotheke, Bücher
       müssen hingegen keine tröstende Funktion haben. Im Gegenteil, wenn ich
       Kafka zitieren darf, sie sollen wie ein Erdbeben „die Kraft einer kalten
       Axt haben, die dich voll in die Brust trifft, ansonsten nützt das Lesen
       nichts“.
       
       Was ist das Besondere an der von Ihnen geschilderten Ehe? 
       
       Ich erzähle die Entwicklung einer Ehe. Die ersten zwölf Jahre gemeinsames
       Glück mit zwei Kindern in Neapel. Dann jedoch erstickt wie bei vielen
       Paaren die Beziehung irgendwann in Routinen. Es folgen Untreue und
       mutwilliges Verlassen des Ehepartners wegen einer jüngeren Frau. Aber die
       neue Liebe kann die alte Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern
       nicht wirklich ersetzen. Und so kehrt Aldo nach vier Jahren nach Hause
       zurück. Weitere Jahrzehnte vergehen, Aldo und Vanda leben nun als älteres
       Ehepaar in Rom. Die Wunden der früheren Verletzungen scheinen geheilt. Doch
       plötzlich bricht die alte Narbe wieder auf. Und das wird für alle
       Beteiligten sehr schmerzhaft.
       
       Ein Thema, das Sie schon in Ihrem früheren Roman „Via Gemito“ beschäftigt
       hat. 
       
       In „Via Gemito“ ging es mir um die Verwandlung der Familienkonstellation in
       Italien von der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre. Und später bei „Die
       erotische Autobiografie von Aristide Gambia“ geht es um die Sexualerziehung
       eines jungen Mannes während dreier Jahrzehnte. Und bei „Auf immer
       verbunden“ steht die Veränderung der sexuellen Beziehung zwischen Mann und
       Frau in den 70ern im Vordergrund.
       
       1943 geboren, gelten Sie als ein Sohn des italienischen 68. Man las Marx,
       Lenin, Trotzki und Alexandra Kollontai, die die Befreiung der Sexualität
       von bürgerlicher Ehe und Familie forderten, von den Keimzellen des
       kapitalistischen Staats. So gesehen „muss“ Aldo seine Untreue beichten.
       Hätte er aber nicht besser geschwiegen? 
       
       Natürlich hätte man so weitermachen können wie im 18. Jahrhundert. Aldo und
       Vanda heiraten in einer Zeit, in der es in Italien noch kein
       Scheidungsrecht gibt und außereheliches Zusammenleben vor allem für die
       Frau als Schande gilt. Die beiden wollen ein solides Ehepaar sein, nur eben
       etwas weniger konservativ als früher. Doch Vanda ist fest davon überzeugt,
       dass ihre Ehe bis zum Lebensende halten wird, ihr bedeutet die Tradition
       etwas. Aldo hingegen spürt den neuen Wind, der durch Italien fegt, nimmt
       die Möglichkeit wahr, sich erneut zu verlieben. So ist die eine am Boden
       zerstört, weil ihre heile Welt zugrunde geht, der andere ist voller
       Lebenskraft, weil er eine neue Welt entdeckt.
       
       Das haut aber auch für Aldo nicht ganz hin. 
       
       Seine neu entdeckte Dimension der Freiheit wird ihm langsam zerbröckeln.
       Die Gesellschaft hat sich zwar etwas verändert, doch auch wieder angepasst.
       Aldo hält es nicht mehr aus und kehrt zurück in die Familie. Doch diese
       Rückkehr hat keine heilende Wirkung. Sie wird zu einer gemeinsamen Tortur:
       Er ist von Schuldgefühlen geplagt und sehnt sich nach der Freiheit zurück;
       Vanda nimmt ihn wieder auf, quält ihn und sich aber weiter mit ihrem Groll.
       Insgesamt eine falsche Versöhnung, eine falsche Vergebung,
       
       Also wäre es besser gewesen zu lügen. Ist es nicht der Drang nach Wahrheit,
       der das ganze Drama verursacht? 
       
       Die Wahrheit zu sagen war in den 70ern eine moralische Pflicht. Sie
       auszusprechen bringt jedoch auch Unheil und Leid mit sich. Keine
       Institution in der Gesellschaft verträgt die Wahrheit, lieber organisiert
       sich die Welt um eine Lüge, um eine Illusion. Das ist viel leichter.
       
       Sie schreiben aber auch: „Die Familie ist die einzige gesellschaftliche
       Lebensform, zu der wir fähig sind.“ Ist also wirklich jede Alternative dazu
       gescheitert – Polyamorie, Menages à trois, „Großfamilien“? Wie war das mit
       der Kommune 1 in Berlin oder in Italien mit Dario Fo und Franca Rame, die
       die offene Zweierbeziehung nicht nur künstlerisch propagierten, sondern sie
       auch in ihrer Lebenspraxis umzusetzen versuchten? 
       
       Das waren und sind immer noch große Versuche, die alten, aus der
       industriellen Revolution hervorgegangenen Familienmodelle zu hinterfragen,
       zu verändern. Diese Prozesse sind aber auf halbem Wege stecken geblieben,
       wie so viele Aufbrüche dieser Zeit. Viele unserer Schmerzen oder das Leid
       bei den Jungen resultiert aus dem alten Konstrukt Familie, das nicht mehr
       funktioniert. Aber bis jetzt gibt es kein von der Gesellschaft
       legitimiertes Alternativmodell, um das Zusammenleben, die Liebe, sexuelle
       Beziehungen, Geburt und Kindererziehung anders zu gestalten.
       
       Die Tochter sagt im letzten Teil Ihres Buches: „Das Einzige, was unsere
       Eltern verbindet, ist das Leid, das sie einander ihr Leben lang zufügen.“
       In Italien wächst bis heute die Zahl der Ehen, aber auch der Scheidungen.
       In Deutschland hingegen hat sich die Zahl der Eheschließungen halbiert. Und
       jede zweite Ehe wird geschieden. Sind die Deutschen freier oder einfach
       „weniger katholisch“ als wir Italiener? 
       
       Wahrscheinlich: weniger katholisch.
       
       Reden wir über die Schuldgefühle der Männer und die Wut der Frauen. Beide
       Seiten gehen die Liebe und die Familie anders an. Wie war das mit den
       marxistischen Analysen? Die bürgerlich-kapitalistische Institution Familie
       bedeutet auch die Ausbeutung der Frau. 
       
       Das ist ohne Zweifel so. Ohne den zumeist doppelten und dreifachen Einsatz
       der Frauen würde die Institution Familie völlig scheitern. Die Frauen
       stehen oft alleine da, auch in den Großfamilien. Gerade in den kultivierten
       Milieus ist die Mitarbeit der Männer häufig sehr schwach. Und in den
       wohlhabenden Familien sind es wieder Frauen, die die Hauptarbeit leisten.
       Allerdings bezahlte, Pflegekräfte, Putzfrauen. Paradoxerweise quälen sich
       gerade die Ausgebeuteten in ihren Käfigen, haben Angst auszubrechen. Sie
       wissen, es könnte noch schlimmer kommen.
       
       Das Gebilde „Familie“ bleibt also in jeder Hinsicht eine Falle für alle
       Beteiligten. 
       
       Sie ist der Ursprung aller repressiven Institutionen: Gefängnis, Kaserne,
       Schule. Man wird darin entweder verrückt oder ein Revoluzzer. Sie kann aber
       auch ein Fluchtpunkt sein: Zwölf Jahre harmonisches Familienleben wie bei
       Aldo und Vanda sind heute doch eine Rarität geworden. Man hilft, liebt,
       schützt sich gegenseitig – zumindest eine Zeit lang. Es gibt aber auch
       Paare, die 50 Jahre zusammen und glücklich sind.
       
       Eine Frage an den Essayisten Starnone. Italien hat Anfang März gewählt,
       viel Protest, viele Menschen weit rechts, keine klaren Mehrheiten. Was
       kommt da auf uns zu? 
       
       Die Situation ist komplex. Die wirtschaftliche Lage ist nicht gut, die
       Armut in Süditalien schreitet voran. Die früheren Regierungen haben ihre
       Wahlversprechen in der Regel nicht eingelöst. Hinzu kommt die neue,
       komplizierte Parteienkonstellation. All das verspricht wenig Gutes.
       Mitte-links hat die Wahlen verloren. Doch die Demokratische Partei (PD)
       bleibt die einzige Kraft, die ein Bündnis zwischen der Fünf-Sterne-Bewegung
       mit der rechten Lega von Salvini verhindern kann.
       
       Die PD sollte also nicht in die Opposition gehen? 
       
       Meiner Meinung nach hat die PD sogar die Pflicht, sich nicht
       zurückzuziehen. Das Mitte-links-Lager hat viele Stimmen an die Fünf Sterne
       verloren. Die Leute haben also eindeutig in diese Richtung votiert.
       Natürlich muss man Grillo und die Fünf-Sterne-Bewegung mit Vorsicht
       betrachten. Sie vereint auch Kräfte aus ganz anderen Richtungen, aber sie
       ist anders als die politische Rechte zu beurteilen. Es hängt also vieles
       davon ab, wie Mitte-links sich verhalten wird. Wenn man zuvor mit
       Berlusconi und den Rechtsparteien koalieren konnte, darf man sich jetzt
       nicht zurückziehen und sollte besser in die Verantwortung gehen.
       
       11 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elettra de Salvo
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt 1968
   DIR Familie
   DIR Roman
   DIR Italien
   DIR Literatur
   DIR Schwerpunkt 1968
   DIR Kochen
   DIR Schwerpunkt 1968
   DIR Italien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Dramaturgin über Männer und 68: „Ich wollte kein Freiwild sein“
       
       Brigitte Landes hat 68 mittendrin erlebt, aber sie hielt auch Distanz,
       vieles war ihr nicht geheuer. Ein Gespräch mit der Dramaturgin über falsche
       Autoritäten.
       
   DIR Die Schönheit des Kochens: „Zeit ist die wertvollste Zutat“
       
       Wir müssen wegkommen vom linearen Kochen, fordert Claudio Del Principe. Im
       Gespräch verrät er das Geheimnis des perfekten Ossobuco.
       
   DIR 68er-Proteste in Polen: Alles Zionisten
       
       Antisemitismus war in Polen ein Rezept gegen die Krise des Kommunismus. Die
       Juden wurden aus dem Land gejagt. Einer kehrt Jahre später zurück.
       
   DIR Umberto Eco gestorben: Das pralle, widersprüchliche Leben
       
       Er war ein Meister der historischen Erzählung, ein Wissenschaftler und
       erfolgreicher Schriftsteller. Jetzt ist Eco im Alter von 84 Jahren
       gestorben.