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       # taz.de -- Biologisierung der Wirtschaft: Der große Wurf blieb aus
       
       > Mit der Bioökonomie soll die Wirtschaft nachhaltiger werden. Ziel ist die
       > Nutzung nachwachsender Rohstoffe und erneuerbarer Energien.
       
   IMG Bild: In einem Bioreaktor in Sachsen-Anhalt werden Mikroalgen für die Lebens- und Futtermittelindustrie gezüchtet
       
       Berlin taz | Was ist technologisch das nächste große Ding, das nach der
       Digitalisierung auf uns zukommt, wollten die Regierungsgewaltigen im
       Kanzleramt wissen. Das wird die Biologisierung der Wirtschaft sein,
       antworteten die Wissenschaftler. Nutzung nachwachsender Rohstoffe,
       erneuerbare Energien, grüne Chemie, Kreislaufprozesse ohne Abfall. Wird es
       aber wirklich so kommen? In dieser Woche ziehen in Berlin zwei große
       Konferenzen zur Biotechnologie und zur Bioökonomie eine Zwischenbilanz. Es
       ist tatsächlich in der Forschungspolitik so wie in der Natur: Nicht alle
       Blütenträume reifen auch zur Frucht.
       
       Den ersten Schuss Wasser in den Wein gossen am Beginn der Woche die
       Wirtschaftsberater der Agentur „Ernst & Young“ (EY), als sie in ihrem
       neuesten Biotechnologiereport die Innovationspolitik der Bundesregierung
       bemerkenswert kritisch kommentierten. Zwar sei beim Innovationsdialog im
       November 2016 die Bedeutung einer „Biologisierungsagenda“ in Analogie zur
       „Digitalisierungsagenda“ von den Politikern anerkannt worden. „Leider ist
       eine solche bis heute nicht absehbar“, notierten die EY-Berater. „Ein
       großer Wurf blieb bis heute aus.“
       
       Zur Lage der deutschen Biotechnologie ermittelte der EY-Report, dass sich
       2017 die Zahl der Unternehmen auf 626 leicht erhöht habe (2016: 621), dafür
       stieg die Zahl der Beschäftigten auf 17.585 stärker an (um 11 Prozent). Der
       Umsatz wuchs mit 2,3 Milliarden Euro nur halb so stark (um 6 Prozent).
       Besorgnis erregen muss der Fakt, dass die deutschen Biotech-Firmen ihre
       Ausgaben für Forschung und Entwicklung zurückschrauben: 2017 auf 737
       Millionen Euro (4 Prozent weniger als im Vorjahr). Unbefriedigend sei auch
       die stagnierende Zahl von 27 Bio-Start-ups, mit Schwerpunkt bei der
       Entwicklung von Therapeutika. Vor allem fehlt es an Risikokapital für
       Neugründungen.
       
       Die neue Forschungsministerin Anja Karliczek signalisierte, dass die
       Bundesregierung sich im Biobereich stärker engagieren wolle. Vor
       Journalisten stellte sie in dieser Woche drei Punkte vor, die aus ihrem
       Ministerium jetzt angegangen werden: ein neues Konzept zur Unterstützung
       von mehr Ausgründungen aus der Wissenschaft, die Fortschreibung der
       „Nationalen Forschungsstrategie Bioökonomie 2030“ sowie eine
       ressortübergreifende Agenda „Von der Biologie zur Innovation“, die bereits
       im Koalitionsvertrag verankert ist.
       
       „Wir müssen aus den Nischen in die industrielle Breite kommen“, begründete
       die Ministerin den neuen Ansatz, der „zügig auf den Weg“ gebracht werden
       solle. Noch vor dem Sommer wolle man die Abstimmung mit den anderen
       Ministerien, die ebenfalls mit der Bioökonomie zu tun haben – Wirtschaft,
       Landwirtschaft, Umwelt –, erreicht haben.
       
       ## Akzeptanz verbessern
       
       Auch die Finanzsummen stehen noch nicht fest, auf die man sich erst im Zuge
       der Haushaltsberatungen verständigen kann. Verstärkt werden sollen auch die
       öffentlichen Diskurse über die Bioperspektiven, um eine Akzeptanz in der
       Bevölkerung zu erreichen. Das Scheitern der „grünen Gentechnik“ in
       Deutschland ist den Forschungsverantwortlichen ein mahnendes Beispiel.
       
       Wohin sich die deutsche Biotechnologie inhaltlich entwickelt, ließen die
       acht Preisträger des Wettbewerbs „Gründungsoffensive Biotechnologie“
       (GO-Bio) erkennen, die am Mittwoch auf den Deutschen Biotechnologietagen
       ausgezeichnet wurden. Forscher der Berliner Charité entwickeln ein neues
       Verfahren, mit dem sich durch gentechnische Veränderungen epileptische
       Anfälle dauerhaft verhindern lassen. In Tests an Mäusen hat es bereits
       funktioniert.
       
       Ebenfalls in Berlin, am Max-Delbrück-Centrum, arbeitet ein Team an einer
       T-Zell-Therapie gegen Blutkrebs, während an der Uni Braunschweig ein Mittel
       gegen Zeckenbisse gesucht wird. Die medizinischen Anwendungen überwiegen
       bei der diesjährigen Preisrunde, aber auch ein Team aus der Hochschule
       Ostwestfalen-Lippe ist dabei, das aus Reststoffen der Landwirtschaft
       biotechnologisch bestimmte Peptide für eine gesunde Ernährung entwickelt.
       Insgesamt sind aus dem GO-Bio-Wettbewerb, für die das BMBF 150 Millionen
       Euro ausgibt, 26 neue Unternehmen entstanden.
       
       Welche Lebensmittel in Zukunft auf unsere Teller kommen, wusste die
       Münchener Ernährungsphysiologin Hannelore Daniel zu berichten. Essen aus
       dem 3-D-Drucker, das Fleischpaste oder Kartoffelbrei in appetitliche
       Formate bringt, klingen für Normal-Esser abseitig. „Aber die Hälfte der
       über 90-Jährigen kann nicht mehr richtig kauen“, berichtete Daniel. Für sie
       wären solche Food-Arrangements eine Bereicherung.
       
       ## Fleisch aus der Retorte
       
       Ein großer Markt zeichnet sich beim Kunstfleisch ab, das in der Retorte aus
       Stammzellen gewonnen wird. Es sieht aus wie Fleisch, schmeckt wie Fleisch,
       aber kein Tier muss dafür getötet werden. Ein US-Start-up, das an dieser
       Technik arbeitet, wollte Google für 300 Millionen Dollar übernehmen. Da
       beim globalen Bevölkerungswachstum die Fleischproduktion aus ökologischen
       Gründen an ihre Grenzen stößt, machen bereits Planungen die Runde, dass
       sich entlegene Dörfer auf diese Weise mit Fleisch-Substituten aus dem
       Fermenter versorgen können. Forscherin Daniel: „Wir leben in aufregenden
       Zeiten.“
       
       Die ökologischen Grenzen und die Orientierung an den 17
       Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen sind auch eine inhaltliche
       Klammer für den 2. Weltgipfel der Bioökonomie, der mit 800 Teilnehmern ab
       Donnerstag in Berlin stattfindet. Vorgestellt wird eine neue Studie des
       deutschen Bioökonomierates, die einen Überblick über die weltweiten
       politischen Aktivitäten zur Bioökonomie gibt. An die 50 Länder haben sich
       bereits Bioökonomiestrategien gegeben, wie es sie seit 2012 in Deutschland
       gibt, finanziert mit 2,4 Milliarden Euro aus öffentlichen Mitteln.
       
       „Wir sollten unsere Strategie mehr auf Wertschöpfungsketten ausrichten“,
       sagt die Vorsitzende des Bioökonomierates, Christine Lang, Chefin eines
       Berliner Biotechnologieunternehmens und Gastgeberin des Gipfels. „Der
       Aufbau einer nachhaltigen, biobasierten Wirtschaftsweise ist angesichts der
       weltweit wachsenden Umwelt- und Klimaprobleme dringender geboten denn je.“
       Eine Weltausstellung zur Bioökonomie präsentiert 85 innovative Produkte aus
       34 Ländern, die bereits heute mithilfe biobasierter Verfahren und auf Basis
       nachwachsender Rohstoffe hergestellt werden, darunter nachhaltige Textilien
       und Biokosmetika.
       
       ## Nicht erreichte Ziele
       
       In einer Delphi-Befragung zur Zukunft der Bioökonomie sehen die weitaus
       meisten der 40 Experten die schnellste Anwendung im Bereich der Energie,
       gefolgt von neuen Produkten, der Landwirtschaft und dem Lebensmittelsektor.
       Überraschenderweise erhielt das Einsatzgebiet „Green Cities“, die Nutzung
       in Städtebau und Stadtgestaltung, die in der deutschen Strategie ganz vorne
       steht, eine der niedrigsten Expertenbewertungen. Ziel verpasst?
       
       In der Tat gibt es Ziele, die bisher nicht erreicht wurden, räumt Reinhard
       Hüttl ein, der als Leiter des Geoforschungszentrums Potsdam die deutsche
       Bioökonomiestrategie wissenschaftlich auf den Weg gebracht hatte. Dazu
       zählt er den Sektor der Bioenergie, wo man lernen musste, dass mit den
       neuen Biokraftstoffen (E-10) kein günstiger „ökologischer Fußabdruck“
       erreicht wurde. Dass für Palmöl zur Spritbeimischung in fernen Ländern
       Tropenwälder gerodet werden, stand auch nicht auf dem Ökoplan. In
       Deutschland senkt die „Vermaisung“ der Agrarlandschaft die Bodenqualität.
       Auch die nächste Stufe der Bioökonomie muss daher von Anfang an mögliche,
       nicht beabsichtigte Technikfolgen aufspüren, um sie schnell zu korrigieren.
       Selbstreparatur ist schließlich auch ein Überlebensprinzip der Natur.
       
       20 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manfred Ronzheimer
       
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