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       # taz.de -- Verzögerung beim Sarkophag-Neubau: Tschernobyl und die Zeit
       
       > Die neue Schutzhülle über dem Sarkophag für den 1986 havarierten
       > Atomreaktor wird wesentlich später fertig als geplant.
       
   IMG Bild: Ein Angestellter im Atomkraftwerk Tschernobyl misst die Strahlungswerte
       
       Tschernobyl taz | Man braucht eine Sondergenehmigung, um über den
       Checkpoint zu kommen. Aber was man dann in der Nähe von Reaktor 4 des
       Kraftwerks Tschernobyl sieht, ist alles andere als eine Geisterstadt. Der
       Weg führt vorbei an einem gelben Souvenirladen mit schicken gelben Tassen,
       T-Shirts mit dem Aufdruck „I have been to Chernobyl“ und Ansichtskarten mit
       dem Radioaktivitätszeichen in „die Zone“.
       
       Im Kleinbus berichtet die vom Kraftwerk entsandte Reiseleiterin begeistert,
       wie sich die Natur in dem fast unbewohnten Gebiet ihren Raum zurückerobere.
       „Bis an den Straßenrand hat sich der Urwald vorgekämpft.“ Auf der anderen
       Seite sieht man das Hotel Polissja. Es wurde erst im Sommer 2017 eröffnet.
       100 Tschernobyl-Touristen können hier in der Kirow-Straße 34v in
       Tschernobyl übernachten. Preis 10 Euro.
       
       Endlich taucht in der Ferne die 110 Meter hohe „Arka“ auf – so wird die
       neue Schutzhülle über dem 1986 explodierten vierten Reaktor von der
       Begleiterin der Reisegruppe liebevoll genannt. Wie blaue Ameisen wirken die
       Arbeiter, die sich an der Schnittstelle zwischen Haube und Boden tummeln.
       2.316 Beschäftigte sind im AKW Tschernobyl unter Vertrag, sagt Valeriy
       Seida, der stellvertretende Chef des Atomkraftwerks. Sie dürfen maximal
       eine Jahresdosis von 14 Millisievert abbekommen. In Deutschland liegt der
       Grenzwert bei 20 Millisievert.
       
       Die zwei Milliarden Euro teure Verpackung soll gewährleisten, dass der alte
       Sarkophag darunter noch eine Weile hält. Komplett fertig ist der Bau noch
       nicht, obwohl ihn Präsident Poroschenko bereits im November 2016 feierlich
       eingeweiht hat. Erst in diesem Dezember wird er funktionsfähig sein, sagt
       Vizedirektor Seida. Aber das Projekt sei nun mal weltweit einzigartig, und
       man habe festgestellt, dass sich insbesondere bei Bohrarbeiten mehr
       Radioaktivität freisetze, als man ursprünglich erwartet habe. Man müsse
       noch verschiedene Systeme wie Ventilation, Stromkabel, Druckausgleich,
       Verankerung, Schweißarbeiten fertigstellen. Doch schon jetzt, nach
       Aufsetzen der Haube, so Seida, sei die Strahlenbelastung „beträchtlich“
       zurückgegangen.
       
       ## Weder Pläne noch eine Finanzierung
       
       Sie wundere sich nicht über die verspätete Fertigstellung der neuen
       Schutzhülle, kommentiert Iryna Holovko, Atomexpertin der Umweltgruppe
       Ekodia, die Nachricht von der Verzögerung. „Fast alle Projekte in der
       Atomwirtschaft sind bei der Umsetzung schwieriger und teurer als zunächst
       angenommen.“ Wesentlich mehr beunruhige sie, dass derzeit überhaupt nicht
       klar sei, wie es weitergehen soll. Schließlich sei „die Arka“ doch nur der
       erste Schritt, um die Bedrohung einzudämmen, die immer noch vom Reaktor
       ausgehe.
       
       Ingenieur Povar zeigt die Fortschritte an einem Modell im 100 Meter
       entfernten Verwaltungsgebäude. In aller Eile hatten sogenannte Liquidatoren
       1986 in 200 Tagen eine Hülle aus 400.000 Kubikmetern Betongemisch über den
       brennenden Reaktor gebaut, die die Umwelt wie ein Sarkophag in alle
       Ewigkeit vor der Radioaktivität schützen sollte. Tatsächlich war der
       Sarkophag schnell rissig und brüchig geworden. Und so war die neue Hülle
       notwendig geworden.
       
       Sie ist aus Stahl und hilft damit nicht unmittelbar gegen Strahlung, aber
       sie schirmt die Ruine, in der sich noch 95 Prozent des Kernbrennstoffs
       befinden, gegen Witterungseinflüsse ab und verhindert, dass sich der
       radioaktive Staub verteilt.
       
       Der alte Sarkophag, so der Ingenieur Povar, habe nur noch eine
       Betriebsgenehmigung von fünf Jahren. Bis 2023 werde man auf jeden Fall die
       „10 bis 20 instabilen Teile demontieren“. Eines Tages soll mit den
       ferngesteuerten Kränen in der neuen Schutzhülle der gesamte havarierte
       Reaktorblock geborgen werden. Doch dafür gibt es bisher weder Pläne noch
       eine Finanzierung.
       
       ## In acht Jahren wird es eng
       
       In Tschernobyl wird nicht nur an der „Arka“ gearbeitet. Unweit des Reaktors
       wird ein überirdisches Trockenlager für den radioaktiven Müll gebaut, der
       sich bislang noch im Nasslager befindet. Das wird zehn Jahre in Anspruch
       nehmen. In acht Jahren wird es eng werden, denn dann endet die
       Betriebsgenehmigung für das Nasslager.
       
       Auch andere Lager werden aktuell gebaut, zwei für schwach- und
       mittelradioaktiven Atommüll sowie ein zentrales für abgebrannte Brennstäbe
       aus den anderen ukrainischen Atomkraftwerken. Am 9. November 2017 gab es
       den ersten Spatenstich für das geplante zentrale Lager, aber mehr als eine
       Kiesgrube und aufgehäuftes Erdreich ist dort bisher nicht zu sehen.
       
       Dabei wird das Lager dringend gebraucht, weil die Ukraine einen Teil der
       abgebrannten Brennstäbe nicht mehr wie bislang in Russland entsorgen kann:
       2008 hat die Regierung mit der US-amerikanisch-japanischen Firma
       Westinghouse vereinbart, neben russischen auch Westinghouse-Brennstäbe zu
       nutzen. Die will Russland jedoch nicht annehmen, wenn sie abgebrannt sind.
       
       ## Nicht die einzige Verspätungsmeldung
       
       Auch Sylvia Kotting-Uhl, die Vorsitzende des Umweltausschusses im Deutschen
       Bundestag, hat Tschernobyl jetzt besucht und zeigt sich danach bestürzt
       darüber, dass man in der Zone den Eindruck erwecken wolle, man könne
       durchaus mit einem GAU leben. Ähnliches habe sie nur in Fukushima erlebt,
       sagte sie der taz.
       
       „Dieses Gebiet wird auf Generationen für den Menschen nicht bewohnbar sein.
       Was soll an einem Urwald positiv sein, in dem Menschen nicht leben können?“
       Dass die neue Hülle erst für Dezember fertiggestellt werden soll, ist nicht
       die einzige Verspätungsmeldung im Gebiet Tschernobyl.
       
       So klagt der Chef der Firma Solar Tschernobyl, Jewgenij Warjagin, über
       Schwierigkeiten mit der ukrainischen Bürokratie. Seit Anfang des Jahres sei
       das von seiner Firma in Reaktornähe gebaute Solarkraftwerk fertig, könne
       jedoch nicht in Betrieb gehen. Seine Firma habe alles geleistet, was man
       habe tun können. Doch man habe mit drei Dutzend Behörden zu tun.
       
       „Und deswegen müssen wir mit der gleichen Geschwindigkeit arbeiten wie der
       Staat“, so Warjagin frustriert. Seit vier Monaten schon müsse er ständig
       sagen, dass er „demnächst“ mit einem Anschluss des Kraftwerks rechne.
       Bereits im Januar hatte Warjagin der taz berichtet, dass er damit rechne,
       dass es Anfang Februar losgehen könne. Auch Entschädigungszahlungen gebe es
       gar nicht oder verspätet.
       
       ## Unfälle häufen sich
       
       Der stellvertretende Leiter der Zone, Oleg Nasvit, bestätigt, dass es
       Schwierigkeiten mit der Auszahlung der Gelder für die Opfer der
       Reaktorkatastrophe gebe. Deswegen seien einige vor den europäischen
       Menschenrechtsgerichtshof gezogen. Nur 50 Prozent der Berechtigten seien
       tatsächlich in den Genuss der Zahlung gekommen.
       
       Tschernobyl zeige, dass man sich über die Zukunft der Atomwirtschaft
       Gedanken machen müsse, so Kotting-Uhl zur taz. Viele ukrainische AKWs haben
       ihre auf 30 Jahre angelegte Laufzeit überschritten. Und mit dem Alter der
       Reaktoren, so Kotting-Uhl, steige auch die Häufigkeit von Unfällen. Im
       ersten Quartal 2018 wurden laut der Agentur Interfax Ukraine in
       ukrainischen Atomkraftwerken fünf Störfälle gemeldet, vier mehr als im
       gleichen Zeitraum 2017.
       
       In der ukrainischen Atomwirtschaft stellt man Überlegungen an, wie eine
       Zeit nach den sowjetischen AKWs aussehen kann. So plant der Staatskonzern
       Energoatom, der alle ukrainischen AKWs betreibt, in Zusammenarbeit mit der
       US-amerikanischen Holtec, kleine Atomkraftwerke vom Typ SMR-160 zu bauen.
       
       Kotting-Uhl und Atomexpertin Holovko sehen die Alternative dagegen darin,
       die alternativen Energien auszubauen. 2017 arbeitete Holovko an einem
       Bericht der Heinrich-Böll-Stiftung und des Instituts für Wirtschaft und
       Prognostizierung der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine
       mit, der beschreibt, wie die Ukraine bis 2050 zu 90 Prozent auf erneuerbare
       Energien umsteigen kann.
       
       23 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Clasen
       
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