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       # taz.de -- Ausstellung in Berlin: Die radikalisierte Nazi-Justiz
       
       > Die „Topographie des Terrors“ zeigt in einer Ausstellung über den
       > Volksgerichtshof, wie aus einer politischen Justiz ein Terrorinstrument
       > erwuchs.
       
   IMG Bild: Im Fokus: die Entwicklung des Volksgerichtshofes
       
       Berlin taz | Zum Beispiel Erich Deibel. Der 1907 geborene Arbeiter war bei
       den Stahlwerken Buderus in Wetzlar tätig. Er hasste die Nazis. 1941 begann
       er damit, prokommunistische Graffiti anzubringen. „Arbeiter – Helft
       Russland – Streikt – auf Für KBD“: diese etwas ungelenke Parole brachte er
       am 22. Juli 1941 an einer Toilettenwand in seinem Betrieb an. Doch er wurde
       beim Verlassen der Örtlichkeiten gesehen, durch einen Schriftvergleich
       überführt und festgenommen. Deibel wurde im März 1942 in die
       Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit überführt und vor dem
       Volksgerichtshof angeklagt.
       
       Am 15. August 1942 machten blutrote Plakate an den Litfaßsäulen bekannt:
       „Der am 6. Juni 1942 vom Volksgerichtshof wegen landesverräterischer
       Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat und Rundfunkverbrechens zum
       Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilte 34
       Jahre alte Erich Deibel aus Wetzlar ist heute hingerichtet worden.“
       
       Der Mord – nicht anderes war es – an Erich Deibel war nur einer von mehr
       als 16.700 Verfahren vor dem 1934 gegründeten Volksgerichtshof (VGH). In
       mehr als 5.200 Fällen endete der Prozess mit der Verhängung der
       Todesstrafe. In 22 zentralen Hinrichtungsstätten von Köln bis Königsberg
       walteten Scharfrichter ihres Amtes, um die Urteil des VGH und weiterer
       Gerichte zu vollstrecken.
       
       „Terror durch ‚Recht‘“ ist die Sonderausstellung zum Volksgerichtshof
       untertitelt, die seit dem Mittwoch in der Berliner „Topographie des
       Terrors“ zu sehen ist. Die Anordnung der Schau mit ihren Pulten im
       zentralen Bereich erinnert an die Einrichtung eines Gerichtssaals.
       
       ## Tiefergehend als die „Blutrichter“
       
       Auf diesen Pulten wird anhand von Fotos und Dokumenten die Tätigkeit dieser
       NS-Institution dargestellt, es geht um die Richter, die Staatsanwälte, die
       Berichterstattung durch die Presse, die Örtlichkeiten. Links und rechts
       davon aber stehen mannshohe Tafeln, die an diejenigen erinnern, die dieser
       Justizbehörde zum Opfer gefallen sind.
       
       Nun ist es nicht so, als sei der Volksgerichtshof ein unbekanntes Kapitel
       des Nationalsozialismus, im Gegenteil. Die sich überschlagene Stimme des
       Präsidenten Roland Freisler bei der Verurteilung der Attentäter vom 20.
       Juli 1944 zählt zu den wohl bekanntesten Tondokumenten aus der Nazi-Zeit.
       Auch die „Topographie des Terrors“ hatte den [1][„Blutrichtern“] vor Jahren
       schon einmal eine Ausstellung gewidmet.
       
       Doch die jetzige Ausstellung greift tiefer. Sie macht vor allen Dingen
       eines deutlich: die Radikalisierung des nationalsozialistischen Staates
       innerhalb weniger Jahre. 1934 als Reaktion auf die aus NS-Sicht
       enttäuschenden Freisprüche dreier Angeklagter im Reichstagsbrandprozess
       durch das Leipziger Reichsgericht gegründet, war der Volksgerichtshof
       zunächst ausschließlich für Verfahren wegen Hoch- und Landesverrat
       zuständig.
       
       Es ist nicht so, dass hier unabhängig Recht gesprochen wurde, doch die
       Verfahren erinnerten in den ersten Jahren doch entfernt an einen
       ordentlichen Gerichtshof. Da gab es längliche Urteilsbegründungen und sogar
       Freisprüche. Zum Beispiel der der SPD-Sekretärin Gertrud Marx im Jahr 1937,
       der „aus Mangel an Beweisen“ erfolgte und noch im Gerichtssaal auf den
       Protest der Gestapo stieß, die die Frau sofort verhaften wollte. Gewiss,
       die Verteidigerrechte waren schon damals eingeschränkt und die neben den
       zwei Berufsrichtern einer Kammer entsandten Laienrichter wurden von NSDAP,
       Polizei und Wehrmacht ausgewählt. Dennoch: Die frühen Urteile waren
       wenigsten „formal korrekt“, wie es Ausstellungsmacherin Claudia Steur
       ausdrückt.
       
       ## Bis jetzt keine juristische Aufarbeitung
       
       Die Schauprozesse begannen später, nach Kriegsausbruch, ebenso wie die
       massive Ausweitung der Todesstrafe. Im Jahr 1942 wurde mit jedem zweiten
       Urteil die Todesstrafe verhängt, und längst ging es dabei nicht nur um
       Hoch- oder Landesverrat. Schon das Abhören ausländischer Radiosendungen und
       die Weitergabe des Gehörten konnten mit dem Tod bestraft werden, dazu kam
       Wehrmittelbeschädigung, Defätismus, Wehrdienstentziehung und eine ganze
       Reihe weiterer, teils von den Nazis erst erfundener Delikte. Eine große
       Zahl der Verurteilten waren keine deutschen Staatsbürger, sondern
       Ausländer, ganz besonders widerständige Tschechen.
       
       So zeigt sich der Volksgerichtshof als Abziehbild der Entwicklung des
       NS-Staates. Aus einem politischen Gericht war ein Terrorinstrument mit
       juristischen Fußnoten geworden, ähnlich wie sich der Antisemitismus vom
       Versuch der Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben zu ihrer
       fabrikmäßigen Vernichtung gesteigert hatte.
       
       Ein ganz besonders übles Thema findet sich in der Ausstellung fast
       versteckt und ganz am Ende: die juristische Aufarbeitung in der
       Bundesrepublik. Es gab sie so gut wie nicht. Nicht ein einziger Richter
       oder Staatsanwalt des Volksgerichtshofs ist jemals rechtskräftig wegen
       seiner Taten verurteilt worden. Im Gegenteil stellte der Bundesgerichtshof
       1956 fest, es habe gar keine Terrorurteile gegeben und die Richter hätten
       stets nach Recht und Gesetz gehandelt.
       
       26 Apr 2018
       
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