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       # taz.de -- Rachethriller „A Beautiful Day“: Der Mann mit dem Hammer
       
       > Die Regisseurin Lynne Ramsay schickt ihren Darsteller Joaquin Phoenix in
       > ein Geflecht aus Politik und Gewalt. Düster und fesselnd bis zur letzten
       > Minute.
       
   IMG Bild: Professionelle Entsorgung: Joe (Joaquin Phoenix) bei der Arbeit
       
       Am Beginn von Lynne Ramsays Film „A Beautiful Day“ steht die Tonspur: erst
       das Rattern der New Yorker U-Bahn ohne jedes Bild, später dann: trübes
       Wasser mit Luftblasen. Ein Bild, das vor allem als Assoziationsraum für die
       beiden Stimmen auf der Tonspur fungiert – die eine jung und weiblich, die
       andere nicht ganz jung und männlich; beide zählen von 40 abwärts. Es folgt
       das Gesicht eines Mannes, das sich schemenhaft unter einer Plastiktüte
       abzeichnet.
       
       Dann: ein Hotelzimmer. Ein Mann räumt auf, verbrennt ein Foto, zerlegt ein
       Handy, wischt Blut von einem Hammer. Er öffnet die Tür mit dem „Nicht
       stören“-Schild einen Spaltbreit, blickt hinaus, wartet kurz, bis eine junge
       Frau vorbeigegangen ist, und verlässt dann das Zimmer. Die Tüte mit den
       Sachen aus dem Zimmer wirft er weg, er verlässt das Hotel, fährt im Taxi
       zum Flughafen.
       
       Joe (Joaquin Phoenix) ist ein ehemaliger US-Soldat und befreit nun als
       Zivilist gegen Geld entführte Mädchen. Sein wichtigstes Werkzeug: ein
       Schlosserhammer, mit dem er die Entführer erschlägt. Nach getaner Arbeit
       kehrt er zurück ins Haus seiner Mutter, räumt abgelaufene Lebensmittel aus
       ihrem Kühlschrank und versucht, ihre Altersverwirrung im Zaum zu halten.
       
       Die Aufträge vermittelt ihm ein Bekannter, der in seinem Büro vor dem
       Modell einer Jacht sitzt, die er eines Tages fertigbauen lassen will. Joes
       neuster Auftrag besteht darin, die entführte Tochter eines New York State
       Senators zurückzubringen. Mit der Adresse, die er bekommen hat, zieht er
       los, findet ein privates Bordell, in dem finanzkräftige Kunden entführte
       minderjährige Mädchen vergewaltigen, tötet eine Reihe von Entführern und
       Freiern, befreit die Tochter des Senators und begibt sich zu dem Treffpunkt
       in einem schäbigen anonymen Hotel.
       
       ## Joe ist mitten in einem Schlamassel
       
       Beim Warten im Hotelzimmer flimmert dann unerfreulicherweise die Nachricht
       über den Bildschirm, dass der Vater des Mädchens Selbstmord begangen hat.
       Wenig später stehen zwei Polizisten vor der Tür des Zimmers und pusten Joe
       zur Begrüßung das Hirn des Hotelportiers, der sie zu dem Zimmer geführt
       hat, ins Gesicht und stürmen hinein; einer der beiden schnappt sich das
       Mädchen und verschwindet. Spätestens jetzt ist klar, dass der Auftrag nicht
       ganz wie geplant verläuft.
       
       „A Beautiful Day“ wechselt zwischen der brutalen Handlung, Szenen aus Joes
       Alltagsleben und Rückblenden zu Momenten von Joes Traumatisierungen. Das
       Gesicht unter der Plastiktüte aus der Eingangssequenz ist das Joes, die
       Tüte über dem Kopf seine Art, sich seiner selbst zu versichern. Als hätte
       man Alain Delon in Jean-Pierre Melvilles „Le samurai“ jeden
       Samurai-Firlefanz ausgetrieben und ihn durch Joaquin Phoenix als
       gebrochenen Mann mit dem massiven Körper eines Ex-Soldaten ersetzt. Doch
       während in „Le samurai“ die Melancholie in den Dienst eines
       existenzialistischen Porträts des Auftragskillers gestellt wird, ist sie in
       „A Beautiful Day“ der dünne Boden über dem Abgrund des Traumas. Geschickt
       moduliert Lynne Ramsay diese Melancholie im Laufe des Films immer wieder in
       Richtung Spannung.
       
       Joe entkommt aus dem Hotelzimmer, indem er einen der Polizisten
       überwältigt. Doch er ist vom Jäger zum Gejagten geworden: die ganze Nacht
       über versucht er, seinen Auftragsvermittler per Telefon zu erreichen. Am
       Morgen darauf findet er ihn tot in dessen Büro, und als Joe zu seiner
       Mutter nach Hause fährt, trifft er sogar die beiden FBI-Agenten noch an,
       die soeben seine Mutter erschossen haben. Joe schießt ebenfalls und fragt
       einen der beiden gerade noch rechtzeitig aus, bevor dieser neben ihm auf
       dem Küchenboden stirbt. Joe ist mitten in einem Schlamassel aus Politik und
       Gewalt gelandet: die sorgfältig gewahrte Trennlinie, die er zwischen seinem
       Beruf und seinem Privatleben gezogen hat, existiert nicht mehr.
       
       Wie bei ihrem letzten Langfilm, der Verfilmung von Lionel Shrivers Roman
       „We Need to Talk About Kevin“, arbeitete Ramsay auch dieses Mal für die
       Filmmusik mit dem Radiohead-Musiker Jonny Greenwood zusammen, der die
       Handlung mit einer streicherlastigen Musik unterlegte, die sich
       hervorragend sperrig gegenüber dem Film verhält. Während die
       Streicherklänge bisweilen nahtlos in die Geräusche New Yorks übergehen,
       rhythmisiert die Musik andere Sequenzen mit Loops. Ergänzt werden diese
       Passagen durch einen wiederkehrenden elektronischen Klangteppich und eine
       Reihe von Musikzitaten wie dem 60er-Jahre-Schmalzschlager „Angel Baby“ von
       Rosie & The Originals, der im Film sein ganzes Potenzial an Schwülstigkeit
       entfalten darf.
       
       ## Weit unterhalb der Produktionskosten
       
       „A Beautiful Day“ wurde 2016 auf dem Market des Cannes Filmfestivals von
       den Amazon Studios gekauft – dem Vernehmen nach für gerade mal 3,5
       Millionen Dollar, was weit unterhalb des Betrag liegt, den ein Film wie „A
       Beautiful Day“ als amerikanische Produktion kosten würde. Auf dem Festival
       im letzten Jahr feierte eine vorläufige Fassung des Films Premiere und
       brachte Lynne Ramsay einen Preis für das beste Drehbuch ein und Joaquin
       Phoenix den Preis für den besten Schauspieler.
       
       Zu Recht: Phoenix’ Verkörperung von Joe erdet den Film durch das
       Schauspiel. Lynne Ramsay findet in „A Beautiful Day“ Bilder für Joes
       Innenleben, die bisweilen ins Abstrakte gehen, webt Vorstellungen und
       Tagträume ein und erzählt den Film dennoch so straff, dass man sich im
       Nachhinein wundert, wie sie das alles in nur anderthalb Stunden Film
       untergekriegt hat.
       
       Dennoch: So schlüssig Ramsays Entscheidung ist, den Kontrast zwischen der
       Konkretion der Handlung und der Abstraktion von Joes Gemütsverfassung in
       der Bildpolitik zu spiegeln – ohne die Kraft des Schauspiels von Joaquin
       Phoenix als Joe, Judith Roberts als dessen Mutter und John Doman als dessen
       Auftragsvermittler wäre der Film leicht zerfasert.
       
       Ramsay greift in ihrer Adaption des Romans von Jonathan Ames Motive aus
       US-Politthrillern der 1970er Jahre auf, in denen es einzelne aufrechte
       Männer mit Verschwörungen der Macht zu tun kriegen. Und doch ist „A
       Beautiful Day“ durch und durch gegenwärtig ohne jeden Retroschnörkel.
       
       Auch sonst vollbringt der Film das nicht geringe Kunststück, ambitioniert
       zu sein, ohne das ununterbrochen ausstellen zu müssen. Das lässt hoffen für
       ein Projekt, das Lynne Ramsay nach ihrem letzten Langfilm angekündigt
       hatte: eine Moby-Dick-Verfilmung, die ins Weltall verlegt ist. Die
       Klarheit, mit der sich Ramsay in „A Beautiful Day“ dagegen entscheidet, ein
       rein narrationsgetriebenes Handlungskino runterzuleiern, würde man sich
       öfter wünschen. Sollte sich Ramsay mit derselben Haltung Melvilles Roman
       nähern, ist Großes zu erwarten. In „A Beautiful Day“ jedenfalls ist Lynne
       Ramsay ein beeindruckender, harter Thriller gelungen, dessen 90 Minuten zum
       Unterhaltsamsten gehören, was dieses Kinojahr bislang zu bieten hatte.
       
       25 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Tietke
       
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