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       # taz.de -- Kipping und Müller zu Grundeinkommen: Recht auf Arbeit? Recht auf Faulheit?
       
       > Katja Kipping und Michael Müller werben beide für ein Grundeinkommen –
       > und meinen jeweils etwas völlig anderes. Aber das macht nichts.
       
   IMG Bild: Ist seit 15 Jahren für ein bedingungsloses Grundeinkommen: Katja Kipping
       
       BERLIN taz | „Utopien, Pioniere, Zukunft“, lautet das Spielzeit-Motto des
       Theaters an der Parkaue, eines Kinder- und Jugendtheaters im Ostteil
       Berlins. Hier trifft am Montagabend Katja Kipping, Bundesvorsitzende der
       Linken, auf SPD-Mann Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Berlin,
       um das Thema Grundeinkommen zu diskutieren. Passt ja, möchte man meinen:
       zwei, die in die Zukunft schauen, Utopie wagen, und Kipping war sogar mal
       Jungpionierin.
       
       Kipping streitet seit 15 Jahren für ein bedingungsloses Grundeinkommen,
       Müller hat vor nicht einmal einem Monat die [1][Idee eines solidarischen
       Grundeinkommens] als Alternative zu Hartz IV ins Spiel gebracht und ist
       seitdem ein so begehrter Talk-Gast, wie vor kurzem noch SPD-Rebell Kevin
       Kühnert. Im Laufe des Abends wird klar: Die Vorstellungen von Kipping und
       Müller zum Grundeinkommen liegen sehr weit auseinander.
       
       Müller will Arbeitsplätze für Arbeitslose im kommunalen Sektor schaffen,
       die unbefristet sind und mit einer Vergütung auf Mindestlohnniveau ein
       Auskommen oberhalb des Hartz IV-Niveaus sichern. Ein „Grundeinkommen“, wenn
       man einen mäßig aber stetig bezahlten Job so nennen will, welches Müller
       solidarisch nennt, weil es aus Steuergeldern finanziert wird.
       
       Kipping hingegen schwebt ein existenzsichernder Grundbetrag von rund 1.000
       Euro vor, den alle, egal, ob sie erwerbstätig, auf Jobsuche oder in Rente
       sind, bekommen. Das Raffinierte an Kippings Modell ist, dass es sich am
       Einkommen bemisst: Diejenigen, die weniger als 7.000 Euro monatlich
       verdienen, bekommen über die Einkommenssteuer Geld erstattet, diejenigen,
       die mehr verdienen, müssen draufzahlen. Gegenleistungen oder Forderungen:
       keine.
       
       Die Menschen, die Müllers Grundeinkommen kassieren, sollen dagegen arbeiten
       und etwa ergänzenden Tätigkeiten in Kitas, Schulen oder Bibliotheken
       nachgehen. Nehmen sie die Jobs nicht an, müssen sie eben weiterhin
       Arbeitslosengeld II beantragen und Maßnahmen erdulden.
       
       ## ABM aufpoliert
       
       Im Grunde möbelt Müller eine Idee der neunziger Jahre auf, die
       Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, kurz ABM. Der Unterschied zur ABM ist, dass
       die neuen Stellen nicht nach wenigen Monaten wieder auslaufen, sondern von
       Dauer sind. Das ist das eigentlich Revolutionäre seines Plans.
       
       Als Revoluzzer will Müller sich denn auch gar nicht feiern lassen. Das
       Hartz IV-System als Ganzes aus den Angeln zu heben, fällt ihm nicht ein. Er
       will es lediglich ergänzen. „Ich will mich nicht verheben“, sagte er vor
       den etwa 100 Zuhörern im Theatersaal, darunter viele junge Leute.
       
       Heiklen Fragen, etwa nach Abschaffung der Sanktionen für Hartz
       IV-Empfänger, weicht er aus: Man stehe ganz am Anfang der Debatte. Er hat
       sein Modell erst mal für 150.000 Personen durchrechnen lassen. Von den
       derzeit 4,3 Millionen Hartz IV-Empfängern könnte also zunächst jeder
       dreißigste darauf hoffen, ein solidarisches Grundeinkommen à la Michael
       Müller zu erhalten.
       
       Kipping nennt Müllers Idee denn auch einen Etikettenschwindel, allerdings
       einen sympathischen. „Es gibt deutlich unsympathischere Schwindel.“ Wenn
       das solidarische Grundeinkommen dazu führe, Hartz IV zunächst zu
       verbessern, „bin ich dafür“, sagt Kipping.
       
       ## Zeichen der Bewegung
       
       Das ist sehr großmütig von der Linksparteivorsitzenden, die mit ihrer Idee
       eines bedingungslosen Grundeinkommens selbst in ihrer eigenen Partei
       umstritten ist.
       
       Immerhin: Müller lässt durchblicken, dass man die Sanktionen für
       Jugendliche und Familien mit Kindern „kritisch“ überprüfen müsse. Im
       vergangen Jahr haben die Agenturen fast eine Million Strafen verhängt – in
       drei von vier Fällen, weil die Betroffenen Termine nicht wahrnahmen. In
       jedem dritten Haushalt, der weniger Geld vom Amt erhielt, lebten Kinder.
       
       Was Müller treibt, ist kein purer Altruismus, sondern auch der Zustand
       seiner SPD, die bundesweit in Umfragen unter 20 Prozent herumdümpelt. Die
       von SPD-Kanzler Gerhard Schröder angestoßene Arbeitsmarktreform habe nie
       breite Akzeptanz gehabt, sagt Müller. Man könne nicht dauerhaft Politik
       gegen einen Großteil der Bevölkerung machen. „Uns bricht kein Zacken aus
       der Krone, wenn wir uns nach 15 Jahren bewegen“, meint Müller im
       Theatersaal und erntet Beifall.
       
       Müllers Grundeinkommen mag vor allem ein Marketinggag sein, der bei der
       designierten Parteivorsitzenden Andrea Nahles nicht einmal besonders gut
       ankommt, die am Fördern und Fordern festhalten will. Doch die Idee hat
       Charme, denn sie könnte tatsächlich umgesetzt werden.
       
       ## Befristetes Pilotprojekt, unbefristete Stellen
       
       Müllers Parteifreund Hubertus Heil hat als Arbeitsminister per
       Koalitionsvertrag 4 Milliarden Euro für Langzeitarbeitslose versprochen
       bekommen. Aus dieser Schatulle ließe sich etwa in Berlin ein öffentlicher
       Beschäftigungssektor schaffen, als Pilotprojekt, sagt der Regierende
       Bürgermeister. Wie der Gedanke eines eigentlich befristeten Pilotprojekts
       zu unbefristeten Stellen passt, bleibt offen.
       
       Und: Auch den öffentlichen Beschäftigungssektor für Langzeitarbeitslose gab
       es in Berlin schon mal unter der rot-roten Regierung, damals bekannt als
       ÖBS. Aber Grundeinkommen klingt natürlich viel moderner und die SPD hätte
       endlich ein Thema, das signalisiert: [2][Wir erneuern uns.]
       
       Auch der hessische SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel unterstützt
       Müllers Vorschlag und hat schon starkes Interesse signalisiert – zumal in
       Hessen im Herbst ein neuer Landtag gewählt wird.
       
       ## Die Menschen wollen arbeiten
       
       Er glaube, dass sein Grundeinkommen für viele Menschen attraktiv sein
       werde, sagt Müller. Und an Kipping gewandt: „Ich sehe die [3][große
       gesellschaftliche Akzeptanz] bei Ihrem Modell nicht.“
       
       Recht hat er: Selbst im von Linkspartei-Anhängern dominierten Publikum
       stößt der SPDler mit seinem solidarischen Grundeinkommen an diesem Abend
       auf viel Wohlwollen. Die Menschen wollten doch arbeiten und der Staat solle
       ihnen mehr Angebote machen, sagt eine Frau. Sie sei deshalb eher bei Müller
       als für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die Nachbarin nickt: „Ick
       ooch.“
       
       17 Apr 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
       
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