# taz.de -- Kindeswohl gilt nicht für Flüchtlinge: Die Schwester soll in Syrien bleiben
> Kein Einzelfall: Flüchtlingsjunge darf nur seine Eltern nach Berlin
> „nachholen“, weil er nicht für den Unterhalt der Schwester sorgen kann.
IMG Bild: Flüchtlinge demonstrieren Anfang Februar für ihr Recht auf Familienzusammenführung.
Für seine Pläne, den Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz
weiter einzuschränken, bekommt der neue „Heimatminister“ Horst Seehofer
(CSU) von Linken, Grünen und Flüchtlingsorganisationen derzeit viel Kritik.
Kaum bekannt ist, dass die nun diskutierten Gesetzesverschärfungen, die
unter anderem den Nachzug von Geschwistern minderjähriger Flüchtlinge bis
auf Ausnahmen unterbinden sollen, schon jetzt gängige Rechtspraxis sind.
Dies zeigt der aktuelle Fall eines palästinensischen Jungen aus Syrien.
Der sechsjährige Nasser Al R. lebt seit mehr als zwei Jahren mit seinem
Onkel in Berlin. Seine Eltern hätten nicht mitfliehen können, weil seine
zwei Jahre ältere Schwester schwer krank ist, erklärt Rechtsanwältin
Berenice Böhlo, die die Familie vertritt. Sie lebten in Damaskus. Weil der
Junge schon in Syrien als Palästinenser anerkannter UN-Flüchtling gewesen
sei, habe er in Deutschland volles Asyl bekommen. Die Eltern hätten nun von
der deutschen Botschaft in Libanon Bescheid bekommen, dass sie ihre Visa
abholen können – für sich, nicht aber für die Tochter.
Zur Begründung erklärt das Auswärtige Amt (AA) der Anwältin in einem
Schreiben, das der taz vorliegt, für nachreisende Geschwisterkinder gelte
die Vorschrift, „dass in der Regel Lebensunterhalt und Wohnraum bei
Einreise gesichert sein müssen“ – eine unmögliche Anforderung an ein Kind.
Ausnahmen in Einzelfällen seien zwar möglich, aber „im Fall der Familie Al
R. konnte (…) zunächst keine atypische Konstellation festgestellt werden,
die sich deutlich von der Vielzahl gleichgelagerter Fälle unterscheidet“.
Nun ist Nassers Schwester Bessan allerdings schwer krank. Sie leidet
Tuberöser Sklerose (MRI), einer Erbkrankheit, die mit Fehlbildungen und
Tumoren einhergeht und häufig durch epileptische Anfälle und kongnitive
Behinderungen gekennzeichnet ist. Dies bestätigen mehrere ärztliche
Atteste, die der taz ebenfalls vorliegen; dazu ein Schreiben der UN-Mission
UNRWA, dass das Mädchen in Syrien wegen des Krieges und entsprechend
fehlender Medikamente nicht richtig behandelt werden könne. Das AA
erwidert, die Gutachten „erlauben keine ausreichende Beurteilung der
Beeinträchtigung des Kindes“.
## „Unnötiges Leid“
Die Berliner Ausländerbehörde hat Böhlo mitgeteilt, die Botschaft in
Beirut, die den Fall geprüft hat, spreche zudem von einer „Verwurzelung der
Familie in Syrien“. Laut Böhlo trifft dies jedoch nicht zu. „Die
Verwandtschaft väterlicherseits lebt seit Jahren in Deutschland, Großeltern
und andere Verwandte mütterlicherseits in Flüchtlingslagern in Libanon.“
Dorthin werde die kranke Bessam aber als UN-Flüchtling keine
Einreiseerlaubnis bekommen – abgesehen davon, dass auch dort keine
ausreichende medizinische Versorung möglich sei.
Böhlo will am heutigen Montag einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht
stellen, damit auch Bessam ein Visum erteilt wird. Früher oder später dürfe
das Mädchen ohnehin einreisen. Ein Elternteil könne ja nun herkommen und
würde wie der Sohn als UN-Flüchtling Asyl bekommen. Dann könnten sie
Ehepartner und Tochter nachholen. „Hier wird völlig unnötig Leid
produziert“, kritisiert sie. Die Politik, mit einer restriktiven
Visavergabe Härte zu zeigen, sei ein „menschenrechtlicher Skandal“.
29 Apr 2018
## AUTOREN
DIR Susanne Memarnia
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