URI: 
       # taz.de -- Spielfilm „Die Sanfte“: Eine Sackgasse am Ende der Welt
       
       > Demütigung und Brutalität: Sergei Loznitsa wählt für seinen Film die
       > fantastische Form, um vom heutigen Russland zu erzählen.
       
   IMG Bild: Vasilina Makovtseva als „Die Sanfte“ auf Odyssee im russischen Gefängnis
       
       Schon einmal hat Sergei Loznitsa einen Filmtitel als offene Anspielung
       verwendet, deren allzu enge Interpretation ins Leere führte. „Austerlitz“
       (2016) hieß [1][sein Dokumentarfilm über den Tourismus] der
       Konzentrationslager-Besuchskultur – und wer da an W. G. Sebald dachte,
       geriet ins Grübeln. Von Austerlitz zu Auschwitz war der Sprung dann doch
       recht groß. Anders bei dem neuen Spielfilm, der vor knapp einem Jahr in
       Cannes Premiere feierte.
       
       „Die Sanfte“ weckt Dostojewski’sche Assoziationen, doch weder ein
       Pfandleiher mit Neigung zur Hypochondrie – wie der dauermonologisierende
       Erzähler des Klassikers – noch eine mit Heiligenbild aus dem Fenster
       gesprungene Protagonistin findet sich in diesen so hartgesottenen 143
       Kinominuten wieder. Im heutigen Russland ist alles noch viel schlimmer.
       Dennoch steckt sehr viel mehr Dostojewski drin, als man denkt. Wer den Film
       gesehen hat, wird bei der „Sanften“ nun wohl an eine Frau mit
       unschuldig-versteinert-gemartertem Antlitz denken. Ihr Gesicht prägt den
       Film, gejagt sind am Ende beide und erschlagen von (allzu) viel Wahrheiten:
       die Heldin und der Zuschauer.
       
       Folgende brutale Mär wird hier erzählt: Alyonka, die das Epitheton „die
       Sanfte“ allemal verdient (Vasilina Makovtseva spielt sie mit Bravour,
       Entschlossenheit und innerer Härte), arbeitet als Nachtwächterin, noch im
       alten Regime ein Job, den so manch dissidentisch-autonome Leseratte gern
       machte. Mann hat sie keinen (was in dieser Gesellschaft auffällt; eine noch
       junge Frau allein: da stimmt was nicht). Er sitzt nämlich, wie sich
       herausstellt, eine Strafe verbüßend in Haft (dass er unschuldig ist,
       versteht sich von selbst). Und da eines der Pakete, die die Frau für ihn
       regelmäßig schnürt, auf mysteriöse Weise wieder in ihr Provinznest
       zurückkommt, macht sie sich auf den Weg, um herauszufinden, warum. In
       Erfahrung bringen wird sie es freilich nie.
       
       Dafür aber wird ihr Weg ein langer sein – und nach Sibirien führen: quer
       durchs Märchenland namens Russia also, das in dieser
       französisch-deutsch-litauisch-niederländischen Koproduktion alles andere
       als aufregend, bunt und international – wie im aktuellen
       Panini-Sticker-Album – rüberkommt. Vielmehr legt der Film über dieses Land
       und seine Leute (Loznitsas einstige Heimat) einen staubgrau-braunschwarzen
       Schleier, der von trockenem Husten über unangenehme Schlieren auf
       vielfältige Weise doch nur eines erregt: abgrundtiefen Ekel.
       
       ## Psychologische Wahrheitsfindung
       
       Es seien hier nicht allzu viele Begegnungen der schlichten und schweigsam
       auf Russlands Granit beißenden Heldin vorweggenommen. Nur so viel sei
       gesagt: Was dieser Frau an Ignoranz und Gewalt, an Demütigung und
       Brutalität, an Bürokratiegehabe und Egozentrik und schließlich an
       Machtmissbrauch und Korruption widerfährt, hat dann doch mit Dostojewski
       insofern zu tun, als dieser seine „phantastische“ Erzählung bekanntlich für
       im höchsten Grade „wirklichkeitsgetreu“ hielt. Denn gerade die fantastische
       Form – mehr als reines Fabulieren einerseits und bloße Zeitungsnotiz
       andererseits – ermöglichte ihm psychologische Wahrheitsfindung, jenseits
       von Staat, Gesetz und Moral. Die Irreführung allerdings von Heldinnen und
       der Leserinnen inklusive.
       
       Auch die Erzählform des Films dominiert ein fantastisches Moment: die
       Begebenheiten zwischen Alyonka – die übrigens so heißt wie eine beliebte
       süße russische Schokolade (dort: strahlend-vollbackiges Mädchen mit
       Kopftuch, hier: immer säuerlicher eingefallene Wangen) – und ihren
       sogenannten Mitmenschen werden stets skurriler und krasser; die in ihnen
       verpackte Unmenschlichkeit wächst, auch wenn man angesichts der geballten
       Niedertracht, die jede der Figuren bis in den untersten Nerven- und
       Muskelstrang erfasst hat (das „Sowjet-Gen“ nannte es der Regisseur einmal
       in einer Diskussion von „Maidan“, 2014), als Zuschauer eigentlich gar nicht
       glauben kann, dass es immer noch tiefer geht.
       
       Dabei sind die Exerzitien der zwischenmenschlichen Abgründe hier gespickt
       mit beißend-satirischen Kommentaren auf Realpolitisches – zwischen Leben
       von der Hand in den Mund und Leben als Supermacht. Gleich in der
       Eingangsszene, auf dem Postamt, wo Alyonka das nicht zugestellte Päckchen
       abholt und für die Rücksendung auch noch bezahlen muss, unterhalten sich im
       Hintergrund Stimmen über Russlands Politik („Es gibt etliche Möglichkeiten,
       Amerika mit nur einer Rakete zu zerstören“), die dann ob einer herein
       eilenden Person vom Thema abschweifen („Typisch Jugend, wohin so eilig?“),
       woraufhin die Frau erklärt, sie beeile sich die Rente abzuholen, weil sie
       doch auch was „zum Futtern“ brauche. Da ist Loznitsa dem mythologischen
       Kern des Landes bereits ganz nahe.
       
       ## Der Inbegriff von Sackgasse
       
       Zu Beginn kann man über solche Zugespitztheiten, die irgendwann auch das
       Grölen Stalin verherrlichender Liedtexte umfassen, noch lachen, doch schon
       in der langen Einstellung an der Bushaltestelle und im Bus selbst –
       Loznitsa zitiert hier seinen eigenen Dok-Film „Landschaft“ („Peizazh“,
       2003) und wenig später einen anderen, „Haltestelle“ („Polustanok“, 2000) –
       wird der Beigeschmack der nebenher erzählten Alltagsgeschichten immer
       bitterer, hoffnungsloser und verhärteter. Die zerstückelten Leichen im
       Wald, von denen eine adrette Dame wie übers schlechte Wetter berichtet,
       scheinen bald Form anzunehmen.
       
       Der Roadtrip wird – auch das führt zurück zu einem früheren Film Loznitsas,
       seinem ersten Spielfilm nämlich, „Mein Glück“ (2010) – zum Sozialpanorama
       und zur Politparabel. Wie der Inbegriff von Sackgasse am Ende der Welt legt
       sich Sibirien, das antiutopische Reiseziel Alyonkas, von Anfang an über
       diesen anderen langen und freilich scheiternden „Marsch gegen die
       Institutionen“. Von Stopp zu Stopp gerät die unschuldige Frau tiefer in die
       Misere und bis hinter die Tore des Gefängnisses: Wer sie nicht abblitzen
       lässt, verfolgt einen eigenen Zweck. Das Opfer wird zur Angeklagten.
       Hinterlistig ist der Fuchs, räudig der Kater.
       
       Auch visuell ist „Die Sanfte“ vor allem dank Oleg Mutus Kameraarbeit eine
       makellos präzise Gratwanderung zwischen postsowjetischem
       Reality-Naturalismus und kafkaeskem Gleichnis. Der Film steht so nicht nur
       in einer Reihe mit den beiden anderen aktuellen Russlandfilmen, die in
       Deutschlands Kinos gerade zu sehen sind – „Loveless“ von Andrey Zvyagintsev
       und „Arrhythmia“ von Boris Khlebnikov –, er setzt einen vorläufigen i-Punkt
       auf das mittlerweile stark gewachsene, gereifte Gesamtœuvre des Regisseurs.
       Beim kommenden Festival in Cannes wird mit „Donbass“ wohl das nun
       sehnsüchtig erwartete Ausrufezeichen folgen. Mit Vorschlaghammer gestanzt.
       
       Die drückend-düsteren 143 Minuten verlangen dem Zuschauer so viel ab wie
       der grausame Alltag den russischen Staatsbürgern: So manche Frau, gibt die
       Menschenrechtsorganisationsvertreterin, an die sich Alyonka wendet, zu
       Protokoll, müsse sich da einer erniedrigenden Vaginaluntersuchung
       unterziehen. Dennoch schafft Loznitsa eine Aufhebung im dialektischen, ja
       metafiktionalen Sinn. Möglich macht das die Fantastik. Die letzten 40
       Minuten, die die geschundene Protagonistin in surrealem Albtraumzustand
       verbringt, erinnern nicht nur an die schon bei Dostojewski überschrittenen
       Fiktionalitätsgrenzen beim Freitod seiner ikonentragenden Märtyrerin,
       sondern mindestens ebenso sehr an die ultra-grotesken Szenerien der
       postmodernen Prosa eines Wladimir Sorokin. Welche Orgie hier abgeht, wird
       nicht verraten. Nur eins: der Faustschlag-Gong an Stalins aka Putins
       Ehrentafel sitzt.
       
       3 May 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!5400632
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Wurm
       
       ## TAGS
       
   DIR Sergei Loznitsa
   DIR Russland
   DIR Film
   DIR Dokumentarfilm
   DIR Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
   DIR Kirill Serebrennikov
   DIR Spielfilm
   DIR Wladimir Putin
   DIR Holocaust
   DIR Tourismus
   DIR Schwerpunkt taz Leipzig
   DIR Sergei Loznitsa
   DIR Maidan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Sergei Loznitsa über seinen Film Donbass: „Den Horror nicht am Anfang zeigen“
       
       In 13 Episoden Tragik-Farce schildert Sergei Loznitsas Film „Donbass“ die
       Entmenschlichung in den okkupierten ukrainischen Gebieten.
       
   DIR Sibirien-Dokumentarfilm „Kolyma“: Horror im Permafrost
       
       Die politische Ernsthaftigkeit ist beunruhigend: Stanisław Muchas
       Dokumentarfilm „Kolyma“ zeigt ein Sibirien mit Schurken und Opfern.
       
   DIR Kolumne Cannes Cannes: Die Drastik des Realen
       
       Der Eröffnungsfilm „Everybody Knows“ von Asghar Farhadi ist nicht gerade
       sein bestes Werk. Und Sergei Loznitsas „Donbass“ erschreckt.
       
   DIR Kolumne Cannes Cannes: Zum Auftakt ein Gerichtstermin
       
       Das Festival in Cannes beginnt spannend. Wird Terry Gilliams neuer Film
       noch gezeigt werden? Schon die Dreharbeiten waren sehr langwierig.
       
   DIR Französischer Spielfilm „Bonjour Paris“: Eine Welt voller Konsequenzen
       
       Léonor Serraille lässt in ihrem Debüt die Heldin Laetitia Dosch kaum aus
       den Augen. Diese dient als Fixpunkt für Fragen einer ganzen Generation.
       
   DIR Deutsche NGO in Russland verboten: Schlag gegen Wahlbeobachter
       
       Die verbotene EPDE muss ihre Kooperation mit russischen Wahlbeobachtern
       einstellen. Unterstützung kommt von der Bundesregierung.
       
   DIR Filmemacher über Erinnerungskultur: „Sie haben diese Zeit nicht erlebt“
       
       Der Dokumentarfilm „Austerlitz“ zeigt das Verhalten der Besucher von
       Holocaust-Gedenkstätten. Regisseur Sergei Loznitsa über Zeitzeugen und
       Grenzen des Erinnerns.
       
   DIR Dokumentarfilm über KZ-Besucher: Sprechende Bilder
       
       Nun startet der Dokumentarfilm „Austerlitz“ über KZ-Besucher – ohne jeden
       Kommentar. Eine Erwiderung auf Tobias Kniebes Kritik am Dokukino.
       
   DIR Filmfestival DOK Leipzig: Selfies vor dem Grauen
       
       „Austerlitz“ ist kein Holocaust-Film, betont Regisseur Sergei Loznitsa. Es
       geht darum, wie wir uns im Angesicht des Todes verhalten.
       
   DIR Kolumne Lidokino: Schwarzbilder und Schwanensee
       
       Sergei Loznitsa montiert Archivmaterial aus der Zeit des Putsches gegen
       Gorbatschow neu. Es geht ihm um Wirrnis, nicht um Heroismus.
       
   DIR Dok-Film „Maidan“ von Sergei Loznitsa: Auf dem Platz der Helden
       
       Sergei Loznitsas Dokumentation „Maidan“ kommt doch noch in deutsche Kinos.
       Der Film erkundet auch die Seitengassen des Protests in Kiew.