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       # taz.de -- Seltene Krankheiten: Für die Erforschung fehlt das Geld
       
       > Orphan Diseases sind vernachlässigte Krankheiten. Da oft nur wenige von
       > diesen Krankheiten betroffen sind, fehlt Geld für die
       > Therapie-Entwicklung.
       
   IMG Bild: Patientin mit der seltenen Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
       
       Vor zwölf Jahren veröffentlichte ein Lyriker aus dem Prenzlauer Berg ein
       Romandebüt, das sich damaligen Gesundheitsministern zur Pflichtlektüre
       empfohlen hätte. Jan Faktor berichtet darin von Schornstein, so Romantitel
       und Name des Alter Ego, der sich mit einer seltenen Stoffwechselerkrankung
       durch das Dickicht der gesetzlichen Krankenversicherung kämpft. Die
       Romanfigur ficht einen aussichtslos anmutenden Kampf mit der
       Kassenärztlichen Vereinigung aus, duelliert sich mit Experten, gründet
       sogar eine Selbsthilfegruppe und sucht nach Mäzenen, die ihm die von der
       Kasse vorenthaltene besondere Form der lebenserhaltenden Blutwäsche
       bezahlen. Im Ton von subtiler Ironie, vermittelt die absurd wirkende
       Geschichte dennoch eindringlich, was es in Deutschland bedeutet, mit einer
       seltenen Krankheit geschlagen zu sein.
       
       17.000 sogenannte Orphan Diseases sind weltweit erfasst, in Deutschland
       treten davon 5.000 bis 8.000 auf. Eine seltene Krankheit bedeutet nach
       offizieller EU-Lesart ein Leiden, „das lebensbedrohend ist oder eine
       chronische Invalidität nach sich zieht“ und von dem nicht mehr als 5 von
       10.000 Einwohnern eines Mitgliedlandes und weniger als 228.000 Patienten
       EU-weit betroffen sind. Es handelt sich häufig um genetisch bedingte
       Erkrankungen wie Mukoviszidose oder Chorea Huntington, aber auch weniger
       bekannte wie beispielsweise das Dubowitz-Syndrom (Minderwuchs), Morbus
       Osler (krankhafte Erweiterung der Blutgefäße, Hypophosphatasie (erbliche
       Störung des Knochenstoffwechsels) und vieles mehr. 2010 wurde in
       Deutschland das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen
       Erkrankungen (Namse) ins Leben gerufen, mit dem Ziel, die
       Versorgungssituation der betroffenen Patienten zu analysieren und einen
       Aktionsplan zu erstellen. 2017 waren von den 22 beschlossenen Maßnahmen
       erst acht realisiert, zehn sind in Vorbereitung.
       
       Berücksichtigt man, dass von den genannten 5.000 bis 8.000 Krankheiten
       geschätzte drei bis vier Millionen Menschen betroffen sind, wirkt das, so
       stellte das Forum Bioethik des Deutschen Ethikrats vergangene Woche klar,
       gar nicht mehr so singulär. Ethikrat Stephan Kruip, selbst an Mukoviszidose
       erkrankt, malte das Szenario, mit dem sich die betroffenen Menschen
       konfrontiert sehen, plastisch aus: Oft dauere es Jahre, bis überhaupt eine
       verlässliche Diagnose gestellt würde, nach einer unendlichen Odyssee durch
       Arztpraxen und Krankenhäuser. „Es ist heute immer noch ein Glück, auf einen
       Arzt zu treffen, der die richtige Diagnose stellt“, sekundierte ihm Jörg
       Richtstein, Vorsitzender der Allianz chronischer seltener Erkrankungen
       (Achse), einer Interessensvertretung von mehr als 130 einschlägig tätigen
       Mitgliederverbänden und Selbsthilfegruppen.
       
       Liegt nach oft mehreren falschen Diagnosen endlich eine
       Krankheitsfeststellung vor, ist es schwer, kompetente Spezialisten zu
       finden, oder die Patienten müssen weite Wege in entsprechende Kliniken oder
       in die wenigen spezialärztlichen Versorgungszentren, die derzeit entstehen,
       zurücklegen. Patienten und Angehörige fühlen sich mit der Krankheit, die
       nicht geheilt und in den wenigsten Fällen gut therapiert werden kann,
       alleine gelassen. Neben physischen und psychischen Beeinträchtigungen kommt
       es auch zu sozialer Ausgrenzung, etwa wenn aufgrund der Krankheit eine
       Berufslaufbahn verwehrt wird.
       
       Ein großes Problem besteht darin, dass die kleine Anzahl von betroffenen
       Patienten der Forschung wenig Anreiz liefert, entsprechende Medikamente zu
       entwickeln. Die Vielzahl der Krankheitssyndrome, das räumte auch Sabine
       Sydow vom Verband der forschenden Pharma-Unternehmen ein, stehen in einem
       eklatanten Missverhältnis zu den derzeit 143 verfügbaren Arzneimitteln.
       
       ## Ein Zusatznutzen ist nicht notwendig
       
       Um dieser Situation zu begegnen, wurden sogenannte Orphan Drugs aus den
       Bestimmungen des Arzneimittelneuordnungsgesetzes (Amnog) herausgenommen.
       Während für Medikamente, die seit Inkrafttreten des Amnog neu auf den Markt
       kommen, ein Zusatznutzen nachgewiesen werden muss, ist dies bei Orphan
       Drugs nicht erforderlich, soweit sich der Umsatz mit dem entsprechenden
       Produkt unter 50 Millionen Euro bewegt. Die Hersteller, klagt Kruip, nutzen
       jedoch diese Lage aus, indem sie die Preise für die verschiedenen Länder
       geheim halten und aus dem jeweiligen Markt herausholen, was geht.
       
       Denn ist ein Medikament erst einmal als Orphan Drug anerkannt, muss die
       Kasse jeden Preis bezahlen. Das wirft Fragen der Verteilungsgerechtigkeit
       auf, die der in Hannover lehrende Ethiker Daniel Strech durchdeklinierte.
       Wie werden Allokationsentscheidungen getroffen und welche
       Interessenskonflikte werfen sie auf? Sind die Prozesse transparent? Im
       Hinblick auf die Durchführung von Studien – angesichts der wenigen
       Betroffenen ohnehin eine heikle Angelegenheit – ist zu fragen, ob in
       solchen Fällen vereinfachte und flexiblere Regularieren angebracht sind.
       Dafür müssten dann weniger aussagekräftigte Studienergebnisse in Kauf
       genommen werden.
       
       Besondere Aufmerksamkeit erregten auf dem Ethik-Forum die
       Registrierungspflicht von Menschen mit seltenen Erkrankungen und ein
       obligatorisches Neugeborenen-Screening, das Antje Behring vom Gemeinsamen
       Bundesausschuss ins Spiel brachte. Richtstein wies darauf hin, dass viele
       Patienten angesichts der jüngeren Vergangenheit Bedenken gegen eine
       Registrierungspflicht hätten. Aus dem Publikum kamen mehrfach kritische
       Hinweise, dass dies zur Diskriminierung von Betroffenen führen könnte. Auch
       das Neugeborenen-Screening fand wenig Beifall.
       
       Wie groß die Not bei Patienten und Angehörigen ist, offenbarte eine Gruppe
       von betroffenen Frauen, die aus dem Saarland nach Berlin angereist waren
       und auf Unterstützung beim Aufbau eines Versorgungsnetzes hofften. „Die
       Ärzte sagen bei uns, die Behandlung und Erforschung seltener Krankheiten
       seien eben nicht lukrativ“, empörte sich eine der Besucherinnen. Konkrete
       Hilfe fanden sie beim sichtlich überforderten Podium nicht.
       
       In den vergangenen Jahrzehnten wurden Menschen mit vernachlässigten
       Krankheiten oft sich selbst überlassen, weil sich das Problem aufgrund
       ihrer geringen Lebenserwartung von selbst zu erledigen schien. Kruip
       erzählte, dass es, als er 1984 erwachsen geworden war, nur 220 Menschen in
       Deutschland gab, die an Mukoviszidose litten, die Ärzte hätten ihm in jeder
       Lebensphase eine statistische Lebenserwartung von nur drei Jahren gegeben.
       Heute ist Kruip über 50 Jahre alt und Patentprüfer beim Europäischen
       Patentamt. Und als Vorsitzender des Interesseverbandes für
       Mukoviszidose-Erkrankte einer derjenigen, die dafür sorgen, dass das
       Problem nicht einfach auf die lange Bank verschoben wird. „Wir werden oft
       einfach nicht ernst genommen“, sagt Jörg Richtstein von Achse, „dabei sind
       wir Leistungserbringer und nicht einfach nur Selbsthilfeorganisationen.
       
       6 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Baureithel
       
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