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       # taz.de -- Revision einer Sammlung: Versuch einer Öffnung
       
       > Die Nationalgalerie sortiert im Hamburger Bahnhof in Berlin ihre Sammlung
       > neu. Es geht um die Korrektur der eurozentrischen Perspektive.
       
   IMG Bild: Tita Salina, 1001st Island – The Most Sustainable Island in Archipelago, 2015 (Still) HD-Video,
       
       Jetzt auch in der Kunst: der Ausstellungstitel in leichter Sprache. „Hello
       World“ heißt die letzten Freitag eröffnete Schau der Berliner
       Nationalgalerie. Das klingt irgendwie cool. Nur was soll man sich darunter
       vorstellen? Im Untertitel wird die „Revision einer Sammlung“ angekündigt.
       Soll der Titel also sagen, „Hallo Welt! Schau mal her, was wir Tolles
       machen!“, wo wir jetzt das eigene Tun und Lassen kritisch hinterfragen?
       
       Nein, sagt Udo Kittelmann, der Direktor der Nationalgalerie, die das hoch
       ambitionierte, von der Bundeskulturstiftung mit ihrer Initiative „Museum
       Global“ angestoßene und mit 800.000 Euro geförderte Ausstellungsprojekt
       verantwortet. Es gehe um eine Einladung an alle, niemanden solle sich
       ausgeschlossen fühlen. Revision einer Sammlung bedeute ja, sich
       vorzustellen, wie die Sammlung der Nationalgalerie aussähe, hätte ein
       weltoffeneres Verständnis ihre Entstehung und ihren Kunstbegriff bestimmt.
       
       Das Unternehmen ist also eine Übung in Demut, weil die eigene Sammlung in
       eine globale Perspektive zu rücken eben zunächst einmal heißt,
       festzustellen, worauf zu achten man versäumt hat. So war es etwa für die
       Verantwortlichen musealer Sammlungen edie längste Zeit eine völlig
       unbekannte Tatsache, dass es Künstlerinnen gibt. Unter den mehr als 250
       Künstlern der Ausstellung finden sich gerade mal 27 Künstlerinnen.
       
       Auf etwas über 10 Prozent lässt sich ihr Anteil offenbar nicht steigern,
       obwohl knapp ein Drittel der Arbeiten schon Leihgaben sind, der
       Künstlerinnen selbst, ihrer Galerien oder Sammler. Museen sind nicht
       darunter, sie kennen global keine Künstlerinnen, da muss sich Berlin im
       Besonderen nichts vorwerfen.
       
       Entsprechend sind die vier Blätter aus einer Serie von sechs Siebdrucken,
       die Anni Albers 1973 schuf, die Leihgabe einer Galerie, die sechs
       Zinklithografien von 1942, zwei Holzschnitte (1944, 1948) sowie zwei
       Ölbilder aus seinen Studien zum Quadrat (1959, 1967) von Josef Albers aber
       stammen selbstverständlich aus dem Bestand der Nationalgalerie und dem
       Kupferstichkabinett.
       
       ## Entscheidendes ist nicht mehr nachzuholen
       
       Man sieht also, trotz allem Bemühen geben die Sammlungen der
       Nationalgalerie und der Staatlichen Museen zu Berlin, also Ethnologisches
       Museum, Kunstbibliothek, Kupferstichkabinett, Museum für Asiatische Kunst,
       Ibero-Amerikanisches Institut, Zentralarchiv und Staatsbibliothek,
       Entscheidendes nicht her.
       
       Doch lässt sich auf ihrer Grundlage erstaunlich weit über den eigenen
       Tellerrand hinausschauen. Das zeigt sich eindrucksvoll im Hamburger
       Bahnhof, dessen gesamtes Raumangebot „Hello World“ mit seinen dreizehn
       Erzählungen genannten Kapiteln einnimmt.
       
       Sie handeln etwa von der indischen Moderne im frühen 20. Jahrhundert, der
       Idee des globalen Happenings in den Sechzigern und Siebzigern, der
       alternativen Kunstproduktion in den Länder hinter dem sogenannten Eisernen
       Vorhang zwischen 1950 und 1980 und den drei Primärfarben Rot, Gelb und Blau
       als Ausdruck einer universellen Moderne. Anders als die Institutionen haben
       Künstler und Künstlerinnen immer über den eigenen Tellerrand geschaut.
       
       Also folgt „Hello World“ den Spuren des deutschen Künstlers Walter Spies,
       der in den 1920er Jahren von Dresden nach Indonesien zog, wo er auf Bali
       zusammen mit dortigen Künstlern die Gruppe Pita Maha gründete, oder den
       japanischen Künstlern, die zur gleichen Zeit in Berlin über Herwarth
       Waldens Galerie Der Sturm mit den verschiedenen Strömungen der europäischen
       Avantgarde bekannt wurden.
       
       Denn der Impuls zum Austausch und zur Vernetzung bewegt Künstler und
       Künstlerinnen an jedem Ort der Welt. KünstlerInnen sind eben
       Erkundungsspezialisten, nicht nur was Motivik, Material, Farbe und Form
       ihres Werks, sondern auch was den eigenen Lebensstil, das eigene Wissen und
       die eigene Welterfahrung angeht.
       
       ## Anregend, überfällig, aber nicht grundstürzend
       
       Die einzelnen, von den acht hauseigenen und den fünf Gastkuratoren
       gestalteten Themenbereiche treten dabei mal ausgesprochen attraktiv auf,
       wie etwa bei „Ein Paradies erfinden. Sehnsuchtsorte von Paul Gauguin bis
       Tita Salina“, mal eher akademisch blass wie ausgerechnet bei „Kommunikation
       als Globales Happening. Aktionskunst, Konzeptkunst, Medienkunst“.
       
       Deswegen muss man aber die versprochene Horizonterweiterung nicht missen.
       Es braucht nur eben seine Zeit, sie zu erfahren. Insgesamt ist das Projekt
       anregend, überfällig, aber nicht grundstürzend. Die Nationalgalerie darf
       eine solche weiterhin bleiben.
       
       Das Studium der Vitrinen voller Zeitschriften, Bücher und Fotografien, die
       zeigen, wie absolut international vernetzt die Avantgarde noch nach dem
       Ersten Weltkrieg war, fällt in dem vom Gabriele Knappstein elegant und
       geradezu meditativ inszenierten Parcours der „Plattformen der Avantgarde.
       Der Sturm in Berlin und Mavo in Tokio“ leicht.
       
       Und wer ist schon einmal mit der von Tomoyoshi Murayama (1901-1977)
       gegründete Zeitschrift „Mavo“ bekannt gemacht worden? Oder mit seinen
       Ölgemälden und Arbeiten auf Papier, die jederzeit als vom russischen
       Konstruktivismus oder deutschen Dada beeinflusst erkannt werden? Zuvor geht
       man durch einen der anregendsten Räume, in dem Clémentine Deliss ihre
       Ergebnisse zu „Die tragbare Heimat. Vom Feld zur Fabrik“ vorstellt.
       
       Das Feld gehört dem Worpsweder Künstler Heinrich Vogeler, der ganz neu zu
       entdecken ist in seiner Rolle als „ästhetischer Makler“ (so das Booklet)
       zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Seine 1923 auf einer Moskaureise
       entstandenen Agitationstafeln, malerische Collagen aller denkbaren
       Errungenschaften der revolutionären Sowjetunion, sollten zur Migration
       ermutigen.
       
       Speziell bereiste er aber die Kaukasusregion und Armenien, auf das Deliss
       den Fokus gerichtet hat. Die Fabrik meint die Impuls-Fabrik in Dilidschan,
       in der seit den Sechzigern hochwertige Elektronikteile produziert wurden.
       Zur gleichen Zeit war die Kleinstadt, die schon im 19. Jahrhundert Besucher
       aus der Türkei, dem Iran und Georgien anzog, dank einer Vielzahl von
       Künstlerresidenzen Treffpunkt von Kunst und Kulturschaffenden.
       
       Lebendige Laborsituation 
       
       Schostakowitsch, Strawinsky, Benjamin Britten oder Andrej Tarkowski,
       Jean-Paul Sartre und Alberto Moravia sind nur einige der
       Kurzzeitresidenten. Dem Geist ihrer Dialoge sucht das Dilidschan Arts
       Observatory in unterschiedlichster medialer wie materieller Gestalt, also
       Filmen, Fotografien, Tonaufnahmen, Zeitschriften, Installationen et cetera
       habhaft zu werden.
       
       Das mündet in eine lebendige, teils unübersichtliche Laborsituation, die
       auch aufgrund der Leihgaben nicht unbedingt in einer Form ist, in der eine
       hauseigene Sammlung längerfristig zu präsentieren wäre. Wie ein
       achtsameres, gleichwohl auf seine Sammlung zurückgeworfenes Museum aussehen
       könnte, dafür war am Ende das Experiment mit der Sammlung Marx, „Das
       Menschenrecht des Auges“ genannt, aufschlussreich.
       
       Die Sammlung war als private Sammlung schlecht nach ihren Versäumnissen zu
       befragen. Stattdessen ging man den kulturellen und gesellschaftspolitischen
       Beziehungen nach, die sich anhand der Werke feststellen ließen und die in
       Anlehnung an Aby Warburg in assoziative Bildtafeln einflossen, die nun
       bekannte, aber auch aus dem Depot geholte Arbeiten – wie etwa ein Sichel
       und Hammer Bild von Andy Warhol – der Sammlung aufschlussreich ergänzen.
       Nur der olle Mao an der Wand stört den erfreulichen Eindruck einer frischen
       Hängung.
       
       4 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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