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       # taz.de -- Ungebrochener Mythos Klaus Störtebeker: Vom Kaperfahrer zum Märtyrer
       
       > Klaus Störtebeker hat es wohl nie gegeben. Und wenn doch, dann war er
       > sicher kein Wohltäter. Zum „Robin Hood“ der Meere wurde er trotzdem.
       
   IMG Bild: Zur Abschreckung genagelt und gepfählt: Angeblicher Störtebeker-Schädel
       
       Johann Störtebeker war ein ehrbarer Kapitän und Kaufmann. Trieb Handel und
       Wandel im damals pommerschen Danzig und umzu, das Geschäft florierte. Nur
       manchmal, da lief es nicht so gut, war er nicht ganz so ehrbar. Dann war er
       nicht abgeneigt, wenn ihn der Herzog des nahen Mecklenburg fragte, ob er
       für ihn kaperfahren könne. Ob er als „Gewaltunternehmer“ ein Schiff führen,
       eine Mannschaft anheuern und gegen Dänemarks Königin kämpfen wolle.
       
       Die stritt sich nämlich Anfang der 1390er-Jahre mit Mecklenburg um den
       schwedischen Thron und hatte eine Hungerblockade gegen Stockholm verhängt.
       Die Kaperfahrer sollten den Ring durchbrechen und Lebensmittel
       hineinbringen, weshalb sie auch Vitalienbrüder hießen,
       „Lebensmittelbrüder“.
       
       Störtebeker tat, wie ihm geheißen, sammelte eine Mannschaft, zu der auch
       Godeke Michels gehörte, und wurde einer der vielen mittelalterlichen
       Seeräuber auf der Ostsee. Legal war das Ganze außerdem, denn eine
       rechtliche Definition illegitimer Gewalt existierte noch nicht. Anstelle
       des staatlichen Gewaltmonopols herrschte Fehderecht; letztlich eine Art
       Selbstjustiz. Und die „Kaperbriefe“ der jeweiligen Auftraggeber waren ja
       Legitimation und Vertrag in einem.
       
       Auch preisgünstig waren diese Meeressöldner, die ihr Einkommen durch
       Schiffsraub sicherten und im Gegenzug bloß Schutz sowie Absatzmärkte und
       -häfen für ihre Beute forderten. Allerdings waren die Vitalienbrüder schwer
       kontrollierbar, denn Loyalität war nicht ihr Ding: Obwohl von den
       mecklenburgischen Hansestädten Rostock und Wismar beauftragt, kaperten sie
       gern auch Schiffe anderer Hansestädte, inszenierten sich, pseudomoralisch,
       als „Gottes Freund und aller Welt Feind“.
       
       Rostock und Wismar ließen sie gewähren, weshalb sie bald Probleme mit den
       anderen Hansestädten bekamen. Aber was kümmerte das die Seeräuber, solange
       sie in offiziellem Auftrag rauben konnten?
       
       Schwierig wurde es, als Dänemark und Mecklenburg 1395 Frieden schlossen und
       die Vitalienbrüder überflüssig wurden. Die oft adligen Schiffsführer gingen
       dann an Land, zurück auf ihre Burgen. Die anderen – plötzlich arbeitslose
       Abenteurer, Kriminelle, Outlaws – machten auf eigene Faust weiter und
       kaperten fröhlich die Koggen der Hanse – die diese Freibeuter ja selbst
       herangezüchtet hatte.
       
       ## Piraten schädigten die Armen
       
       Dabei störten sie den Schiffsverkehr so massiv, dass die Hanse zwischen
       1392 und 1395 nicht mehr ins südschwedische Schonen segelte, was das Aus
       für den Heringshandel bedeutete. Heringe – traditionelle Speise der Armen –
       wurden knapp, verteuerten sich. Die sozial Schwachen müssen darunter
       gelitten, vielleicht sogar gehungert haben, derweil sich die Vitalienbrüder
       auf Gotland einrichteten.
       
       Irgendwann wehrte sich die Hanse und drängte die Seeräuber in die Nordsee
       ab. Dort kämpften sie für wechselnde, teils verfeindete ostfriesische
       Häuptlinge, raubten aber auch immer wieder im Auftrag diverser Hansestädte.
       
       An all dem soll auch Störtebeker beteiligt gewesen sein, der vielleicht
       sogar die Tochter des Ostfriesenhäuptlings Keno tom Brook heiratete und den
       Kirchturm von Marienhafe finanzierte, den heutigen „Störtebeker-Turm“.
       Später soll Störtebeker, gemeinsam mit 30 bis 70 Vitalienbrüdern auf
       Helgoland von der Hanse gefasst und 1401 auf dem Grasbrook im Hamburger
       Hafen geköpft worden sein.
       
       Von der Hinrichtung existieren tatsächlich Unterlagen – einschließlich der
       Rechnung des Scharfrichters, der auch Godeke Michels geköpft haben soll.
       Ein Klaus Störtebeker wird allerdings dort nicht erwähnt; vielleicht war er
       gar nicht mitgefangen.
       
       Dass der inzwischen Klaus heißt, hat übrigens mit einer zweiten, irgendwann
       hineingemischten Überlieferung zu tun. 1380 nämlich wurde in einem Wismarer
       Gerichtsprotokoll über eine Schlägerei ein Nikolao Stortebeker erwähnt.
       Klaus ist die Abkürzung von Nikolao. Vielleicht war er der spätere Pirat,
       vielleicht war es der anfangs erwähnte Johann, vielleicht ein Mix aus
       beiden. Tatsache ist jedenfalls, dass Johann Störtebeker noch lange nach
       der angeblichen Hinrichtung Klaus Störtebekers lebte.
       
       ## Fast keine Quellen
       
       In anderen Worten: Es gibt so gut wie keine Quellen für die Existenz Klaus
       Störtebekers, dafür ein munteres Tohuwabohu aus Sagen und
       Gelehrtenmeinungen. Letztere sind nicht mal sicher, ob Störtebeker
       tatsächlich aus Wismar stammt, wo am angeblichen Geburtshaus ein
       „Störtebeker“-Relief prangt. Genauso gut könnte er in Rotenburg an der
       Wümme oder in Verden an der Aller geboren worden sein.
       
       Wer also war Störtebeker – zu Niederdeutsch „Stürz den Becher“? „Das
       wüssten wir auch gern“, sagt Rolf Hammel-Kiesow, der bis zur Rente 2016 die
       Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse und des Ostseeraumes am
       Europäischen Hansemuseum Lübeck leitete. „Über Störtebeker ist fast nicht
       Schriftliches überliefert.“ Zudem habe es damals etliche Kaperfahrer und
       Seeräuber namens Störtebeker gegeben, aber keinen Klaus – weder als
       einfachen Seemann noch als Schiffsführer.
       
       Warum liegt dann aber ein „Störtebeker“-Schädel mit Nagel im Kopf im Museum
       für Hamburgische Geschichte? Und daneben sein rekonstruiertes Antlitz, ein
       blauäugiger Blondschopf, der eher Jesus gleicht als einem Piraten (was
       daran liegt, dass man zur Rekonstruktion Altarbilder des 14. Jahrhunderts
       heranzog, denn Porträts gab es damals noch nicht).
       
       „Wir haben nie gesagt, dass das Störtebeker ist“, beteuert der zuständige
       Museumskurator und Hanseforscher Ortwin Pelc. „Aber seit die Schädel 1878
       beim Bau der Speicherstadt auf der einstigen Hinrichtungsstätte gefunden
       wurden, vermutete man, dass es Seeräuber seien. Dabei wurde erst vor zehn,
       zwölf Jahren wissenschaftlich nachgewiesen, dass es die Schädel zweier 1401
       enthaupteter Männer sind, 30 und 40 Jahre alt.“
       
       ## Prominenter Schädel
       
       Dass einer von ihnen besonders gut erhalten ist, legt anderen Forschern
       zufolge den Verdacht nahe, das es ein damals prominenter Verbrecher war. Er
       sollte, zur Abschreckung an der Hafeneinfahrt auf einen Pfahl geschlagen,
       lange kenntlich bleiben und zugleich das Böse bannen.
       
       Der Mythos hat das Böse dann auf seine Art gebannt, indem er das
       Störtebeker-Bild ins Gegenteil verkehrte. Langsam, aber sicher ist er vom
       Staatsfeind zum Held der Armen geworden, zum Robin Hood der Meere. Was
       schon verwundert, wenn man bedenkt, dass gerade die Armen unter dem
       seeräuberbedingten Stopp des Heringshandels gelitten hatten.
       
       Auch haben die Vitalienbrüder ihr Raubgut nicht an Bedürftige verschenkt
       wie Robin Hood, sondern gewinnbringend verkauft. Und dass sie „Likedeeler“
       – Gleichteiler – waren, bedeutete bloß, das sie untereinander teilten. Das
       war nichts Besonderes: Schiffsbesatzungen waren im Mittelalter – der
       gemeinsamen Haftung wegen – stets genossenschaftlich organisiert.
       
       Mit den historischen Tatsachen hat der Mythos also wenig zu tun, und das
       liegt vor allem daran, „dass diese Geschichten lange nach den Ereignissen
       entstanden“, sagt Hammel-Kiesow. Auch sei erstaunlich, „dass die
       Beschreibungen des ersten Chronisten, des Lübecker Dominikaners Hermann
       Korner, mit zunehmender zeitlicher Entfernung zum Geschehen immer
       detaillierter wurden“, sagt er schmunzelnd. „Irgendwann nennt Korner den
       Piraten dann plötzlich Klaus, und alle folgenden Chronisten übernehmen
       das“, ergänzt Störtebekerforscher Gregor Rohmann, Geschichtsprofessor an
       der Uni Göttingen.
       
       „Störtebeker ist ein typisches Beispiel dafür, wie sich um eine historisch
       nicht belegte Figur immer mehr Legenden bilden, die mehr über die
       Hoffnungen und Wünsche der jeweiligen Gesellschaft aussagen als über die
       historische Persönlichkeit“, sagt Hammel-Kiesow. Und in diesem Fall wollte
       die Volkserzählung eben einen, der anarchisch war, gegen Konventionen
       verstieß und es mit der Obrigkeit, den verhassten reichen Pfeffersäcken
       aufnahm.
       
       In dieses Bild passt die Legende, der zufolge Störtebeker vor Helgoland nur
       deshalb besiegt wurde, weil ein Verräter flüssiges Blei in die Ruderösen
       seines Schiffs gegossen hatte. „Der Subtext lautet: Wäre das Schiff intakt
       gewesen, hätten ihn die Pfeffersäcke, hätte die Hanse diesen Helden nie
       besiegt“, sagt Hammel-Kiesow.
       
       ## Nur Ehrenmänner wurden geköpft
       
       Wobei die Vitalienbrüder im Mittelalter trotz allem noch als Ehrenmänner
       galten, sonst wären sie nicht geköpft, sondern verbrannt oder gehängt
       worden. „Köpfen galt als ehrliche Strafe für ehrliche Verbrecher, die in
       die offene Konfrontation gingen – wie die Kaperfahrer“, erklärt Pelc.
       „Diebe und andere als hinterhältig geltende Verbrecher wurden gehängt. Das
       galt als hinterhältige Strafe und war auch weit qualvoller.“
       
       Peu à peu ist Störtebeker also zum Märtyrer für eine „gute Sache“ geworden;
       noch heute feiert Verden an der Aller jährlich die „Lätare“-Spende, bei der
       kostenlos Brot und Heringe verteilt werden – angeblich auf Weisung
       Störtebekers. Zudem soll Störtebeker noch im Tod Menschenleben gerettet
       haben: Der Sage nach hatte er gebeten, all jene Kameraden zu begnadigen, an
       denen er ohne Kopf vorbeilaufen könnte. Die elf, die er schaffte, wurden
       trotzdem geköpft, aber der gute Wille war da.
       
       Kein Wunder also, dass der gefesselte Störtebeker auf einem Gemälde des 19.
       Jahrhunderts wie der gekreuzigte Jesus am Schiffsmast kauert: Ein „Christus
       der Meere“ war geboren, vergessen Brutalität, Egoismus und Opportunismus
       der Seeräuber.
       
       In Jugendbüchern und Comics des 19. und 20. Jahrhunderts galt Störtebeker
       sogar als ein Idol jugendlicher Weltverbesserer. Und 1927 inszenierte Erwin
       Piscator Ehm Welks Störtebeker-Drama „Gewitter über Gotland“ so
       sozialkritisch, dass es in der Weimarer Republik einen Skandal auslöste und
       abgesetzt wurde.
       
       Die DDR-Autoren Willi Bredel und Kurth Barthel machten Störtebeker dann
       vollends zum kommunistischen Messias; bis heute ist er bei den Rügener
       Störtebeker-Festspielen eine positive Figur.
       
       Wobei dieser germanisch-rücksichtslose Kraftmensch auch gut zur Ideologie
       des NS-Regimes passte. Dessen Ideologen nutzen die Figur zwar nicht
       explizit, aber eine Grundsympathie war da. Sonst hätte der linientreue
       Autor Wilhelm Lobsien nicht schon 1927 prophylaktisch geschrieben, dass in
       Störtebekers Adern „junges Führerblut“ fließe. Herausgefunden hat das
       Störtebeker-Forscher Rohmann, der auch auf das immer noch aktive
       Neonazi-Internet-Forum „Störtebeker-Net“ verweist.
       
       ## Vereinnahmt von rechts und links
       
       Eigenartig ist allerdings, dass auch die Linke Störtebeker für sich
       reklamiert: Noch 1985 haben Bewohner von Hamburgs Hafenstraße die dortige –
       inzwischen reparierte – Simon-von-Utrecht-Skulptur geköpft und
       draufgesprüht „Nicht alle Köpfe rollen erst nach 500 Jahren“, „Störtebeker
       lebt“, „Wir kriegen alle Pfeffersäcke“. Das A ist eingekreist, ein
       Anarchisten-Symbol.
       
       Simon von Utrecht, den es ausnahmsweise mal wirklich gab, soll Befehlshaber
       jener Hanseflotte gewesen sein, die die Vitalienbrüder besiegte. Angeblich
       hat er sogar das Schiff „Bunte Kuh“ geführt, auf dem man die Seeräuber zur
       Hinrichtung nach Hamburg brachte. Aber auch hier irrt die Sage: Kapitän der
       „Bunten Kuh“ war Herman Nyenkerken.
       
       Und wo wir gerade bei Unstimmigkeiten sind: Auch das angebliche Antlitz
       Störtebekers, das sich auf etlichen Münzen sowie in den modernen
       Störtebeker-Skulpturen in Hamburg und Marienhafe findet, ist ein Fake.
       Auslöser war ein einer genialer Marketing-Trick: Um 1682 nämlich brachte
       ein Nürnberger Kunsthändler ein Kupferstichporträt auf den Markt, das einen
       bärtigen, urwüchsig wirkenden Mann zeigt. Drunter stand „Claus Stürtz den
       Becher.“ In Wirklichkeit war es ein 1515 geschaffenes Porträt Kunz von der
       Rosens, des Hofnarren des Kaisers Maximilian.
       
       Doch obwohl diese Diskrepanz inzwischen bekannt ist, geht das Bild selbst
       in manchem Schulbuch bis heute als Störtebeker-Porträt durch. Mal ganz
       abgesehen davon, dass es der blonden Rekonstruktion im Museum für
       Hamburgische Geschichte so gar nicht ähnelt.
       
       Aber solche Unstimmigkeiten interessieren nicht; die Vermarktung des Mythos
       funktioniert: An die 200 Orte von Mecklenburg-Vorpommern bis Ostfriesland
       behaupten, dass Störtebeker sich dort versteckte, einen Schatz barg oder
       sonstwie dort weilte; einige ostfriesische Orte haben sich gar zum
       „Tourismusverband Störtebekerland“ zusammengeschlossen. Und auch ins Museum
       für Hamburgische Geschichte kämen weniger Besucher, wenn es den
       geheimnisvollen Schädel dort nicht gäbe.
       
       Das heißt, eine Zeitlang ist der sogar wirklich aushäusig gewesen. Im
       Januar 2010 stahlen Diebe den Schädel – vielleicht, um ihn in der okkulten
       Szene zu verhökern, man weiß es nicht. Als man die drei Männer 2012 fasste,
       erzählten sie, dass sie den Schädel in einer Plastiktüte zur Grillparty
       mitgenommen und dann in wechselnde Verstecke gebracht hätten, bis er ihnen
       lästig wurde.
       
       Verurteilt wurden sie milde. Denn obwohl der millionenschwer versicherte
       Schädel zentraler Besuchermagnet des Museums ist, war er erstens kaum
       gesichert und also leicht zu entwenden. Und zweitens fanden die Richter
       plötzlich, das sei ja eigentlich ein anonymer Schädel von undefinierbarem
       Wert …
       
       8 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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