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       # taz.de -- Demirtaş über die Wahl in der Türkei: „Ich bin eine politische Geisel“
       
       > Der Präsidentschaftskandidat der prokurdischen HDP organisiert den
       > Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus. Er ist sich sicher, dass er die
       > Stichwahl erreicht.
       
   IMG Bild: Auch im Gefängnis ist Selahattin Demirtaş gut beschäftigt
       
       taz gazete: Herr Demirtaş, Sie kandidieren als Präsidentschaftskandidat
       [1][aus dem Gefängnis für Ihre Partei], die prokurdische HDP. Fühlen Sie
       sich nicht politisch angeschlagen? 
       
       Selahattin Demirtaş: Ich bin in einer guten Verfassung und fühle mich stark
       genug. Das ist eine große Ehre für mich. Grund, sich zu schämen, haben in
       dieser Sache die AKP-Regierung und Erdoğan. Sie waren es schließlich, die
       mich verhaften ließen, Einfluss auf die Justiz ausübten und so die
       Unabhängigkeit der Justiz ausgesetzt haben. Meine Verfassung ist besser als
       draußen, ich fühle mich stärker. Auch hier habe ich enorm viel zu tun,
       deshalb kann ich nicht sagen, dass ich viel zum Ausruhen komme. Gut ist,
       dass ich nicht mehr reisen muss. Vorher war ich Tag und Nacht unterwegs.
       
       Den Wahlkampf werden Sie nicht öffentlich, also auf Straßen und Plätzen,
       führen können. 
       
       Draußen sind die Bedingungen auch nicht fair und gleich. Staatspräsident
       Erdoğan kontrolliert nahezu 90 Prozent der Medien. Die Türkei befindet sich
       seit dem Putschversuch im Sommer 2016 im Ausnahmezustand, und es stehen
       alle unter Druck: die Gesellschaft, die Hochschulen, die Intellektuellen.
       Auf allen anderen Anwärtern für das Präsidialamt lastet ebenfalls ein
       erheblicher Druck – ich bin leider am stärksten benachteiligt. Briefe und
       Botschaften schleuse ich ausschließlich über meine Anwälte heraus.
       
       Wie wollen Sie sich dann Gehör verschaffen und Wahlkampf führen? 
       
       Sehr viele Ehrenamtliche, vor allem junge Menschen und Frauen werden den
       Wahlkampf anführen. Sie werden mit Hausbesuchen Wählerinnen und Wähler
       direkt ansprechen. Ich habe großes Vertrauen in die Jugend und die Frauen,
       die mir bei diesem Wahlkampf helfen werden. Ihre Begeisterung und ihr Mut
       werden alle Hindernisse überwinden.
       
       Es gibt nun zwei Wahlbündnisse für die Parlamentswahlen, die ebenfalls am
       24. Juni stattfinden. Einerseits die „Allianz der Nation“, wo die
       oppositionellen Parteien wie die CHP und die İyi-Partei vertreten sind, und
       das Bündnis der Regierungspartei AKP mit der ultranationalen MHP. Ihre
       Partei, die HDP, wurde nicht in die Wahlbündnisse der anderen Parteien
       aufgenommen, sondern tritt einzeln an. Wird das Folgen haben für die
       Politik in der Türkei? 
       
       Das haben die Parteien eben so entschieden, dass sich diese beiden
       Wahlbündnisse unter Ausschluss der HDP gebildet haben. Die HDP ist somit
       die einzige linksdemokratische Alternative zur Wahl. Der aktiven Politik
       ist es bei dieser Wahl erneut nicht gelungen, Monokulturalismus und
       türkischen Nationalismus hinter sich zu lassen. Die HDP dagegen wird mit
       ihrer pluralistischen Haltung weiterhin Politik für die gesamte Türkei
       machen.
       
       Wahlmanipulation ist ein großes Thema vor den Wahlen. Wie wollen Sie die
       Wahlurnen gegen mögliche Betrugsversuche schützen? 
       
       Die Beobachtung der Stimmauszählung am Wahlabend ist eine der
       Hauptaufgaben der politischen Parteien und der Wähler*innen. Dessen sind
       sich alle Parteien genau wie die Bürger*innen sehr bewusst. Was die
       Sicherung der Stimmen angeht, werden auch wir als HDP uns als
       Wahlhelfer*innen an den Wahlurnen kümmern. Auch wenn viele denken: „Man
       klaut uns unsere Stimmen sowieso“, sollte uns das nicht egal sein.
       
       Für die türkische Linke scheint es nun eine Chance zu geben, dass die CHP
       im Verbund mit rechten Parteien jetzt ins Rennen gegen den ebenfalls
       rechten AKP-MHP-Block geht. Würden Wähler*innen dieser Parteien für Sie
       votieren, falls Sie in die Stichwahl in der zweiten Runde kommen? 
       
       Ja. Ich komme in die Stichwahl, davon bin ich zutiefst überzeugt. Die
       anderen Kandidaten und Wähler*innen werden mich in der Stichwahl offen
       unterstützen. Als HDP treten wir für die Rechte aller unterdrückten
       Klassen, Identitäten und Geschlechter ein. Alle anderen Kandidaten sind
       sich in ihrer politischen Ausrichtung viel zu ähnlich. Unser Vorteil ist,
       dass wir anders sind.
       
       Sie befinden sich seit über anderthalb Jahren in der Untersuchungshaft.
       Glauben Sie, dass Sie demnächst freikommen? 
       
       Ich bin eine politische Geisel. Alle sogenannten Anschuldigungen sind
       öffentliche Reden, in denen ich die Regierung und Erdoğan kritisierte. Die
       AKP verhindert, dass die Menschen meine Verteidigungsreden in den
       Verhandlungen hören und lesen können. Sie übt in dieser Sache eine totale
       Kontrolle auf die Medien aus.
       
       Bei den letzten Wahlen im November 2015 wurde die HDP zweitstärkste Partei
       bei den Wähler*innen in Deutschland, in einigen anderen Ländern Europas
       sogar die stärkste. Was glauben Sie, woran das liegt? Und gibt es konkrete
       Überlegungen Ihrer Partei, das Stimmenpotenzial in der Diaspora zu erhöhen? 
       
       Es ist sehr wichtig, dass die türkischen Staatsbürger*innen im Ausland
       Verantwortung für die Zukunft und die Demokratie in der Türkei übernehmen
       und zur Wahl gehen. Als HDP werden wir uns mit unseren Auslandsvertretungen
       und auch mit der Unterstützung etlicher Freiwilliger bemühen, die
       Wähler*innen im Ausland zu motivieren, ihre Stimme abzugeben.
       
       Neben Ihrer politischen Arbeit interessieren Sie sich sehr für Kunst und
       Literatur. Erst vor wenigen Monaten wurden Ihre in der Haft entstandenen
       Kurzgeschichten als Buch veröffentlicht. Wie sieht Ihr Alltag im Gefängnis
       aus? 
       
       Fast den gesamten Tag verbringe ich in einer kleinen Zelle. Mein Leben im
       Gefängnis ist ruhig. Ich teile meine Zelle mit meinem Abgeordnetenkollegen
       Abdullah Zeydan, Kontakt zu anderen Gefangenen kann ich nicht aufnehmen.
       Eine Stunde pro Woche kann mich die Familien besuchen. Meine Anwälte dürfen
       mich für einige Stunden in der Woche sehen. Den Rest der Zeit verbringe ich
       mit der Lektüre von Zeitungen und Büchern und sehe fern. Vier Stunden in
       der Woche treiben wir Sport. Aber gerade konzentriere ich mich auf den
       Wahlkampf. Mit etwas anderem beschäftige ich mich derzeit nicht.
       
       Übersetzung Sabine Adatepe
       
       8 May 2018
       
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   DIR Hayri Demir
       
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