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       # taz.de -- Dirigent Yoel Gamzou über die Oper für alle: „Ich bin ein absoluter Anarchist“
       
       > Yoel Gamzou ist Generalmusikdirektor des Bremer Theaters – aber statt als
       > Orchesterdiktator bekämpft er Opern-Ängste lieber als aufsuchender
       > Kulturarbeiter.
       
   IMG Bild: „Vor einem Orchester zu stehen, liegt mir gar nicht“: Dirigent Yoel Gamzou
       
       taz: …und Sie mögen also Kritiker, Herr Gamzou?! 
       
       Yoel Gamzou: Klar. Es gibt sogar ein hebräisches Verb, das sich von meinem
       Familiennamen ableitet und „scharf rezensieren“ bedeutet.
       
       … von Ihrem Namen?
       
       Ja, von meinem Großvater. Der lebte lange in Frankreich, und als er in den
       1940er-Jahren nach Israel kam, gab es dort fast kein Bühnenleben. Trotzdem
       besprach er die Produktionen nicht mit dem Maßstab von Tel Aviv – sondern
       mit dem von Paris.
       
       Wie hart! 
       
       Ja, aber immer sachlich. Das stachelt viel mehr an, als wenn man versucht,
       es allen recht zu machen. Was heute fehlt, ist, dass sich die Leute selbst
       starke Meinungen zutrauen. Gerade bei Musik. Da gehen viele hin und sagen:
       Das kann ich nicht beurteilen, das traue ich mir nicht zu. Ich sage dann:
       Doch! Du kannst sagen, ob es dir gefallen hat – und darum geht’s.
       
       … und nicht so sehr um Wissen?
       
       Es geht gar nicht um Wissen. Sie müssen doch nicht wissen, welche Technik
       ein Maler benutzt hat, damit das Bild Sie anspricht.
       
       Na ja, aber Sie wissen doch auch was über Musik, oder? 
       
       Aber das macht mir das Leben fast schwieriger: Ich kann fast nicht ohne das
       Fachliche Musik als Erlebnis wahrnehmen. Ich höre die Details, wie ein
       Koch, der schmeckt, was an dem Rezept nicht stimmt. Dabei sind die Stücke
       komponiert für Menschen, die nichts davon verstehen. Für die mache ich
       Musik.
       
       Wie haben Sie gemerkt, dass Sie Dirigent werden wollen? 
       
       Das ging bei mir über den Stoff. Die Musik, die mich immer am meisten
       interessiert hat, war symphonische Musik, vor allem von Gustav Mahler. Zu
       der hatte ich relativ früh schon eine sehr starke Verbindung.
       
       Was heißt relativ früh? 
       
       Ich war sieben, als ich erstmals mit Mahler in Begegnung kam.
       
       … und sahen Sie sich im Geist am Pult vorm Orchester? 
       
       Nein, gar nicht. Ich hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, wie ich
       diese Musik hören wollte, andererseits war mir immer schon klar, dass ich
       kein Instrumentalist werden würde. Wenn ich also diese Stücke musizieren
       wollte, ging das also nur übers Dirigat. Aber die Idee eines Dirigenten,
       also vor einem Orchester zu stehen, im Mittelpunkt zu sein – das liegt mir
       eigentlich nicht.
       
       Ein Kind, das sich in symphonische Partituren vertieft …? 
       
       Ja. Ich hatte als Kind keinerlei sozialen Kontakte. Meine Welt bestand aus:
       zu Hause sitzen und Noten [1][angucken]. Ich sah die Noten und hörte im
       Kopf, dass sich in diesen Noten, in dieser Musik eine unglaubliche Freiheit
       und Sinnlichkeit entfaltet, die deutlich im Widerspruch steht zu den Regeln
       und Verboten, die mir später in der akademischen Musikausbildung begegnet
       sind.
       
       Klingt, als hätten Sie, [2][obwohl selbst Dirigent], eher Schwierigkeiten
       mit Autoritäten? 
       
       Absolut! Ich bin ein absoluter Anarchist, von Grund auf. Die Idee eines
       Diktators, der etwas vorgibt, ist mir sehr fremd. Klar, wenn ich eine
       Vorstellung von einem Stück habe, möchte ich sie realisieren, und dafür
       braucht es eine Struktur. Die muss man bedienen können. Aber das geht nur,
       solange es um die Musik als gemeinsame Sache geht.
       
       Dann ist es okay, wenn Instrumentalisten sagen: Ich möchte das Stück gern
       anders spielen? 
       
       Es ist eine Frage des Maßes: Wenn jeder in jeder Probe eine Meinung zu
       jeder Stelle hätte, wäre das nur Chaos. Dann bräuchten wir für jedes Stück
       30 Proben und würden doch nicht fertig. Aber wenn die Musiker ihre Sicht
       einbringen, begrüße ich das. Sehr! Das sind ja keine Maschinen, sondern
       Menschen …
       
       … in einer klaren Hierarchie?
       
       Wenn Sie mich nach meinem Ideal fragen: Das wäre ein Orchester, in dem die
       Leute permanent rotieren und verschiedene Positionen einnehmen, damit alle
       das Gefühl von Verantwortung kennenlernen.
       
       Allerdings bleibt so ein Symphoniekonzert auch fürs Publikum eher eine
       zwanghafte Veranstaltung. Wie gehen Sie damit um? 
       
       Gehen Sie in Symphoniekonzerte?
       
       Wenn ich’s vermeiden kann: Nein.
       
       Aber Sie mögen die Inhalte?
       
       Sehr. 
       
       Hm. Also ich glaube, es hat zwei Ebenen: Einerseits haben Konzerte die Form
       mit Stillsitzen in schicker Kleidung, die sich seit 1850 nicht verändert
       hat. Andererseits ist aber auch zu fragen, was unsere Stoffe mit uns heute
       zu tun haben. Da kommen wir sehr schnell auf die Frage nach neuer Musik.
       
       Wie lautet die denn? 
       
       Wir werden das Problem des Publikums nicht lösen, solange wir unsere
       Probleme mit neuer Musik nicht lösen: Seit über einem Jahrhundert haben wir
       eine völlig künstliche Trennung zwischen so genannter U- und E- Musik –
       dabei ist die vermeintliche Avantgarde oft unzugänglich und abgehoben. Eine
       zeitgenössische Musik muss aber alle Einflüsse ihrer Zeit aufnehmen und
       bearbeiten dürfen. Heutzutage reicht es ja schon, wenn ein Komponist etwas
       mit einer E-Gitarre in ein Werk einschreibt, damit die Hälfte des
       Orchesters mit den Augen rollt und das Publikum sich fragt, was hat das
       hier zu suchen? Von dieser elitären Arroganz müssen wir uns verabschieden,
       aber dringend. Denn für eine rein-museale Unternehmung wird sich auf die
       Dauer kein Mensch interessieren.
       
       Trotzdem gibt’s in Bremens Oper auch kommende Spielzeit keine Uraufführung?
       
       Das kommt. Ganz sicher. Mein Ziel ist, ab 2020 jede Spielzeit eine
       Uraufführung zu machen. Das finde ich dringend notwendig.
       
       Ehrlich gesagt: Ich bin ja schon happy, dass Sie aus dem 19. Jahrhundert
       statt der x-ten Wagner-Oper … 
       
       Sie mögen Wagner nicht?
       
       Nein. 
       
       Dann habe ich endlich einen Seelenverwandten! Ich dachte schon, ich bin der
       einzige hier: Ich kann nämlich mit Wagner auch nicht sehr viel anfangen,
       nicht nur musikalisch: Der ganze Ansatz ist mir sehr fremd und grenzt an
       Faschismus. Ich habe damit große Probleme, und nicht, weil ich Jude bin,
       sondern generell: Das ist alles, was ich nicht bin und nicht sein möchte –
       sozial, ästhetisch, psychologisch und politisch.
       
       Stattdessen graben Sie Emmanuel Chabrier aus. 
       
       Ja, „L’Étoile“: Die Oper habe ich vor vier Jahren durch Zufall in Amsterdam
       [3][kennengelernt], und das war eines der tollsten Opernerlebnisse meines
       Lebens. Die Musik ist wunderschön, wie Offenbach hoch zehn, nur besser! Ich
       liebe diesen filigranen, feinen Operetten-Stil, diese Leichtigkeit und
       Plastizität, die zugleich wichtige Inhalte und große Tiefe transportieren.
       Da die Agogik zu suchen, die richtige Schärfe, die Sinnlichkeit ergründen –
       das ist eine viel größere Herausforderung als eine Wagner-Oper.
       
       Aber Sie suchen auch nach neuem Publikum? 
       
       Das ist mit das Wichtigste in der kommenden Spielzeit: Ich mache
       Jugendkonzerte und Kinderkonzerte und ich gehe einmal im Monat zu Menschen
       nach Hause, die noch nie im Theater waren.
       
       Echt jetzt? 
       
       Ja. Jeder darf mich einmal im Monat haben, für zwei Stunden, unter der
       Bedingung, dass die in ihrem Freundeskreis Leute finden, die noch nie in
       der Oper waren, und sie alle einladen. Dann gehe ich hin und erzähle, wie
       so eine Produktion bei uns aussieht.
       
       Viele haben vor Oper regelrecht Angst. 
       
       Aber das wird nicht besser, wenn wir den Leuten bloß sagen: braucht ihr
       nicht zu haben. Die Angst nimmt nur ab, wenn die Oper sozusagen persönlich
       zu ihnen kommt, wenn ich mich zu den Leuten aufs Sofa setze, und sie
       erleben, das ist ein Mensch, mit dem kann man reden, und der macht Oper.
       Wir haben deshalb auch ein Format geplant, das heißt: Oper im Koffer, wo
       wir ab November mit Kurzversionen von Opern in Krankenhäuser, Altenheime
       oder Stadtteilzentren gehen: Ein Klavier, drei Instrumente, fünf Sänger –
       dafür ist überall Platz.
       
       Warum ist Bremen dafür die richtige Stadt? 
       
       Besseres Publikum als hier kann man sich gar nicht wünschen. Hier suchen
       die Leute nicht nach einer Oper, die so ist, wie sie schon immer war. Die
       suchen nicht nach netter bürgerlicher Unterhaltung. Die wollen
       [4][herausgefordert werden], die wollen Auseinandersetzung. Das finde ich
       toll. Und das ist längst nicht in jeder Stadt möglich. Es fiele mir viel
       schwerer, in einer Stadt wie Mailand Theater zu machen…
       
       Dabei haben Sie zu Mailand sogar eine Beziehung, wenn die Geschichten
       stimmen, die … 
       
       Ja, die stimmen. Nur ich rede inzwischen so ungern darüber. Seit zehn
       Jahren muss ich jedes Interview damit bestehen, zu bestätigen, was ich
       einmal unvorsichtigerweise erzählt habe: Stimmt es, dass du mit 15 im
       Bahnhof von Mailand campiert hast? Stimmt es, dass …? Ja, es ist alles
       wahr. Ich habe auch tatsächlich alle Giulinis im Telefonbuch von Mailand
       durchtelefoniert, um Carlo Maria Giulini zu kontaktieren, den ich sehr
       verehrt habe. Ich würde nur heute den Fokus lieber auf die Musik legen,
       statt ständig diese hollywoodartige Erzählung zu wiederholen. Sonst werde
       ich genau einer von den Musikern, die ich selbst so sehr hasse: Bei denen
       es nur darum geht, dass sie im Mittelpunkt stehen. Darum geht es mir nicht.
       
       Klar, sorry. Es ist ein etwas schäbiger Impuls, danach zu fragen. 
       
       Wir leben in einer Zeit, in der jeder ein Markenzeichen haben soll: Man
       wird von PR-Agenturen regelrecht gecoacht, wenigstens lustige Klamotten zu
       tragen, um ein schräger Typ zu sein, der sich besser verkaufen lässt. Um
       Inhalte geht es dabei gar nicht. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie
       sehr mir das zuwider ist. Mir geht es darum, dass ich mit meinen Inhalten
       willkommen bin.
       
       8 May 2018
       
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