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       # taz.de -- Irgendwo zwischen einsam und allein: Einsamkeit ist eine Zelle
       
       > Menschen können in der Großstadt unsichtbar sein, eweil sich alle um sie
       > herum entscheiden, sie nicht sehen zu wollen. Manche finden Wege heraus.
       
   IMG Bild: Einsamkeit ist eine Zelle und manche Menschen können da nicht alleine herauskommen.
       
       HAMBURG taz | Der einsame Mensch in der Großstadt – das ist Stoff von
       Romanen, Geschichten, Gedichten. Denn es ist anscheinend besonders schlimm,
       wenn ein Mensch inmitten von vielen Menschen einsam ist. Einsam im Wald?
       Darüber muss man sich nicht wundern. Einsam im Dorf, kann passieren. Aber
       einsam in der Großstadt, das ist tragisch. Das taugt für Kunst und auch für
       Pathos.
       
       Es ist immer wieder von der Vereinsamung der Menschen in der Großstadt die
       Rede, und es gibt diese Vereinsamung. Aber ist sie größer als anderswo? Ich
       bin in einem Dorf aufgewachsen, das 300 Einwohner hatte. Ich verbrachte
       meine Freizeit mit meinen Geschwistern und den ca. fünf Kindern meines
       Alters. Keines dieser Kinder bedeutete mir viel. Ähnlich war mein
       Verhältnis zu den anderen Menschen im Dorf. Ich dachte nicht einmal darüber
       nach, wie sie waren. Es war egal, denn man konnte sie sich nicht aussuchen.
       
       Tatsächlich war ich selten allein, aber niemand von meinen Kameraden las
       auch nur eines der Bücher, die ich las, interessierte sich für die Dinge,
       für die ich mich interessierte. Intellektuell war ich einsam, würde ich
       heute sagen. Ich habe in der Kindheit viele Selbstgespräche geführt.
       Freunde, von denen ich mich verstanden fühlte, fand ich in der Großstadt,
       wo ich sie mir unter vielen Menschen selbst ausgesucht habe. Ich fühle mich
       in der großen Stadt weniger einsam als in meinem Dorf, in dem ich jeden
       Menschen kannte. Aber Einsamkeit hat so viele Aspekte. Man könnte einen
       langen, ein sehr viel längeren Text darüber schreiben, man könnte sein
       Leben dieser Aufgabe widmen.
       
       Gestern Abend saß ein Mann in der Hamburger U1, der popelte wild in der
       Nase und hatte ein blutendes Bein, er war so auffällig und fern der Norm –
       trotzdem die Bahn voll war, hatte er seine vier Plätze für sich. Alle sahen
       an ihm vorbei, als würden sie seine Auffälligkeit gar nicht wahrnehmen, als
       dächten sie an etwas anderes. Dieser Mann war an diesem Ort, zu dieser
       Zeit, zwischen all diesen Menschen, absolut einsam. Er war auffällig und
       zugleich unsichtbar, weil die Menschen sich alle gleichzeitig dafür
       entschieden hatten, ihn nicht sehen zu wollen. Wer auf diese Art unsichtbar
       wird, der ist absolut einsam. Er ist isoliert, er lebt in einer Zelle. Wie
       soll er dort herauskommen, ohne andere Menschen? Wer soll ihn lieben
       können?
       
       Vielleicht ist das ein Grund, warum Jesus immer noch so beliebt ist, auch
       unter den Nichtchristen. Jemand wie Jesus würde auch diesen popelnden,
       blutenden Mann sehen, er würde ihn sogar lieben können. Das ist vielleicht
       auch der Ursprung der Sehnsucht nach Gott.
       
       ## Automatisch einsam?
       
       Und dann gibt es die Alten. Es ist ein Mythos, oder vielleicht stimmt es
       auch, dass die Alten einsam werden, sie sind es nicht von Anfang an, aber
       irgendwann sterben die Freunde, die Geschwister, und dann werden sie
       einsam. Es ist ein Mythos, dass sie einsam sterben, in der Wohnung neben
       uns, und wir merken es nicht. In meinem Haus starb tatsächlich letztes Jahr
       eine Frau, die ich nie zuvor gesehen hatte. Ich sah nur manchmal den
       Pflegedienst im Treppenhaus. Muss ich davon ausgehen, dass sie einsam war?
       Sind Menschen, die allein leben, automatisch einsam? Und haben nicht auch
       die alten Menschen in der Großstadt mehr Möglichkeiten als in einem kleinen
       Dorf?
       
       Ich habe mir vor zwei Jahren die Filmmusik von „Fahrstuhl zum Schafott“
       („Ascenseur pour l’échafaud“, Louis Malle) gekauft, sie ist von Miles
       Davis. In dem Film rennt Jeanne Moreau durch Paris, das ist in diesem Film
       eine düstere, eine kalte Stadt, und sie fühlt sich sehr einsam, weil ihr
       Geliebter nicht kommt. Er kommt nicht, weil er in einem Fahrstuhl
       feststeckt (in einer Zelle). Es ist eine großartige Platte, man kann sie
       sich anhören, wenn man einsam ist. Die Miles-Davis’sche Einsamkeit ist
       voller Schönheit. Musik ist ein Trost. Kunst ist ein Trost. Sie legt eine
       Erhabenheit über den Schmerz.
       
       ## Erbarmungslose Frauen
       
       In derselben U1, in der der popelnde, blutende Mann saß, unterhielten sich
       zwei Frauen über einen, der schüchtern bettelnd durch die Gänge lief. Sie
       waren sich einig, dass alle Menschen mehr oder weniger selbst an ihrem
       Schicksal Schuld seien, denn sie könnten es ja machen wie sie, arbeiten
       gehen zum Beispiel, sich strecken, normal sein. Sie selbst wären ja
       schließlich auch normal. Ich habe das mal gekürzt. Aber das war das Fazit
       dieser recht erbarmungslosen Frauen.
       
       Sie waren erbarmungslos und auch ein bisschen dumm, kurzsichtig jedenfalls,
       denn so normal sie sich auch vorkommen mochten, die eine von ihnen redete
       ein bisschen zu viel, ein bisschen zu schnell und wiederholte sich zu oft.
       Sie merkte es vielleicht noch nicht, aber sie war schon ein ganz klein
       wenig vom Pfad der Normalen abgekommen, sie war schon irgendwann falsch
       abgebogen. Nach ihren Begriffen. Nicht nach meinen. Mein Begriff von
       Normalität ist weiter. Ich spüre in mir immer die Gefahr, den leichten
       Wahnsinn in meinem Kopf, gerade in solchen Situationen. Es ist vielleicht
       auch wichtig, das zu spüren, um ein Mensch zu bleiben.
       
       Ich möchte diesem armen Jungen, der, ich nehme mal an, ein Drogenproblem
       hatte, nicht helfen, aber ich will ihn auch nicht verurteilen. Es ist nicht
       allen Menschen möglich, was mir möglich ist. Ich weiß nicht, warum ein
       Mensch so oder so ist. Wir sind alle einsam, ganz tief in uns, weil ganz
       tief in uns niemand anderes Platz hat als wir selbst. Die Stadt bietet uns
       so viel. Sie zeigt uns so viele Menschen mit so vielen Gesichtern. Wir
       können uns wegdrehen und uns verschließen, und das ist uns vielleicht auch
       oft nicht anders möglich, weil unsere Kapazitäten begrenzt sind, aber wir
       müssen auch immer uns selbst in diesen Menschen sehen. Das ist der einzige
       Ausweg. Erbarmen.
       
       ## Da wird sie einem brutal bewusst
       
       Bei Massenveranstaltungen fühlt man sich meistens einsam. Mit Freunden kann
       man sich einsam fühlen, in der Liebe, mit den Kindern und der Familie.
       Einsamkeit ist eine Zelle. In der Großstadt, unter Menschen, zwischen all
       diesen Möglichkeiten, da wird sie einem auf eine vielleicht etwas brutale
       Art bewusst. Wenn es nämlich all diese Möglichkeiten gibt, die es objektiv
       zu geben scheint, dann liegt es doch an uns, sie zu nutzen, dann könnten
       wir doch Freunde finden, geliebt werden, dann könnten wir doch einfach,
       sozusagen, normal sein und nicht einsam, denn normale Menschen sind nicht
       einsam, sie sind nicht obdachlos und sie popeln sich nicht in der U1 in der
       Nase, oder?
       
       Vielleicht ist es das spezielle Großstadtproblem, dass wir unsere
       Möglichkeiten falsch einschätzen, manchmal schaffen wir es einfach nicht,
       diese Möglichkeiten zu nutzen, manchmal sind diese Möglichkeiten nicht
       unsere Möglichkeiten. Denn die Einsamkeit ist eine Zelle. Und manche
       Menschen können da einfach nicht von allein herauskommen, egal wie
       verlockend die Welt vor den Gitterstäben scheint.
       
       Den ganzen Schwerpunkt der taz nord über das Phänomen der Vereinsamung in
       Hamburg und Bremen lesen Sie in der taz am Wochenende am Kiosk oder am
       [1][e-Kiosk].
       
       11 May 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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