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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Große Liebe Sibirien
       
       > Konstantin Milash lebt in der kleinsten Stadt Baden-Württembergs.
       > Eigentlich kommt er aus Sibirien – und will zurück.
       
   IMG Bild: Seine Familie nennt Konstantin Milash sein größtes Projekt. Oskar ist fünf
       
       Auf der Hohenloher Ebene liegt die kleinste Stadt Baden-Württembergs.
       Langenburg heißt sie. Dort wohnt Konstantin Milash und fühlt sich – da er
       die Weite Sibiriens kennt – eingeengt.
       
       Draußen: Im 1.800-Einwohner-Ort gibt es ein Schloss, sogar die britische
       Queen war schon zu Besuch. Dazu ein Stadttor im Fachwerkstil, durch das
       kein Traktor passt, und Bäcker, die noch selbst Brötchen backen. „Jeder
       kennt jeden, es ist dicht hier“, sagt Konstantin Milash in einer Mischung
       aus schwäbischem und russischem Akzent.
       
       Er ist zugezogen. Erst waren sie Außenseiter im Ort. Nach einem Jahr
       standen Marzipankugeln vor der Türe des alten Schmiedhauses, Baujahr 1907,
       drei Stockwerke, keine rechten Winkel. Da wusste Konstantin Milash, dass
       sie akzeptiert sind. Die Hintertür ist immer offen.
       
       Drinnen: Es riecht nach frisch gekochten Erbsen und Räucherstäbchen. Die
       Wände in der Stube sind mit Kinderbildern tapeziert. Glitzernde Sticker
       hängen im Türrahmen. Dahinter liegt die Küche. Eine steile Holztreppe führt
       ins zweite Geschoss. Es gibt ein Geländer für Erwachsene, daneben eines für
       die Kinder. Im Fenstersims liegt eine Dinosaurier-Zahnbürste.
       
       Rechts ist ein Schlafzimmer, an deren Decke eine Wurzel hängt. Links ist
       das Kinderzimmer voller Spielautos, die auf dem Dach liegen, ein Stockbett
       aus Holzstämmen, der Geruch von Holzofen. Es sei das wärmste Zimmer im
       Haus, erklärt Konstantin Milash und erinnert sich an Winter, in denen die
       ganze Familie hier in Decken verbrachte und ins Feuer starrte.
       
       Feierabend: Konstantin Milash kommt gerade nach Hause von der Arbeit und
       lässt sich auf die Couch fallen, die Hände an den Schläfen. Sofa und Tisch
       sind in Kinderbeinhöhe. Der 35-Jährige ist Schreiner und gewohnt, Möbel für
       verschiedene Bedürfnisse zu konstruieren. Früher baute er Kanus aus
       Holzstämmen, heute Küchen.
       
       Die Familie: Oskar, fünf Jahre alt, war heute das erste Mal in der
       Vorschule. Mit schokoladenverschmiertem Mund tobt er um seinen Vater herum.
       Auf dem Schafsfell neben ihm schnarcht die Tochter Elsa. Seine Familie
       nennt Milash sein bislang „größtes Projekt“: „Meine Kinder haben alles
       verändert“, sagt er und zieht seine Tochter – Rotznase und Kapuzenpulli –
       zu sich. Die Dreijährige reibt sich die Augen, dann fängt sie an zu weinen.
       
       Liebe: In der Küche steht Maria Milash und schält Möhren. Mit dem Topf in
       der Hand kommt sie immer wieder in die Stube, um Elsa zu trösten. „Kosik“
       nennt sie Konstantin, er sie „Manuschki“. Getroffen haben sie sich in
       Sibirien, da war er 27 und Kanubauer. Sie 22 und Freiwillige bei einem
       Verein. Dass Maria schwanger wurde, war nicht geplant.
       
       Die erste Auswanderung: Deutschland hätte Milash sich nicht ausgesucht. Als
       Oskar auf die Welt kam, wurde der Ort Langenburg ein Kompromiss, der eine
       bessere Absicherung für die Familie versprach. An der Wand hängt ein Foto
       vom Probeschlafen im Haus vor eineinhalb Jahren. Die Kinder versteckten
       sich im Kleiderschrank, weil sie nicht mehr wegwollten.
       
       Alltag: Seitdem ist Routine eingekehrt. Sie beginnt um 6 Uhr morgens. Wenn
       die Kinder noch schlafen, schleicht Maria aus dem Haus und fährt
       Demeter-Brötchen aus. Zur Übergabe drückt sie Konstantin ihren Kaffee in
       die Hand. Meist steht dieser abends kalt und ungetrunken auf dem
       Küchentisch.
       
       Durch den Wald radelt Konstantin ins Nachbardorf zu seinem Betrieb. Sein
       normaler Arbeitstag geht zehn Stunden. „Wir sind alle müde“, sagt er und
       legt die Beine auf die Couch. Auch diese Nacht konnte er schlecht schlafen.
       Durch das Schlafzimmerfenster schienen die Sterne – er konnte nicht anders,
       musste aufstehen, um unter dem Nachthimmel eine zu rauchen: „Wenn ich so
       etwas sehe, vermisse ich Sibirien.“
       
       Sehnsucht : Seit Jahren träumt sich Milash „weit weg“, wieder zurück in die
       sibirische Taiga. Als Erinnerung hängt am Kühlschrank ein Magnet: Er zeigt
       einen Wald, Berge, einen See mit 27 kleinen Inseln. Mitten in der Natur,
       200 Kilometer zum nächsten Bahnhof. Dort verbrachte Milash seine Jugend.
       Als die Sowjetunion zusammenbrach, zogen seine Eltern mit ihm, er war 14,
       an diesen Ort, der schon ihr Sehnsuchtsort war. Ihr gesamter Besitz hatte
       in einen Kleinbus gepasst. Es gebe dort freilaufende Pferde, Wälder voller
       Nebelwolken, ältere Herren mit Eiszapfen im Bart. „Es riecht nach
       Zedernholz und Sonne“, sagt Milash. „Luft, die mir hier fehlt“.
       
       Die zweite Auswanderung: Der Traum, wieder zurückzuziehen, begann für
       Konstantin mit einem Kanu, das er einem Bootsliebhaber verkaufte. Es ist
       das Startkapital für das eigene Haus, 1.000 Autostunden entfernt, in der
       alten Heimat. Zehn mal sechs Meter Holzfundament stehen schon. Im Sommer
       soll das Dach folgen. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass Milash
       einen Monat lang seine Familie nicht sieht.
       
       Das dritte Kind könnte schon in Sibirien geboren werden – Maria ist
       schwanger. „Ich glaube, es wird ein Junge“, sagt Konstantin. Dann isst er
       den letzten Reisberg in einer Schlagsahnenpfütze, die Essensreste seiner
       Kinder, und blickt hinter sich auf die tickende Wanduhr. Acht Uhr, „Zeit
       für das Schlafglöckchen“, die Kinder müssen ins Bett.
       
       Zeit: Die Treppe knarzt, als Maria Oskar und Elsa nach oben bringt. Alleine
       auf der Couch sagt Konstantin, er sehe seine Kinder nur zwei, drei Stunden
       pro Tag: „Keine Zeit für die Kinder zu haben ist doch kacke.“ Er könnte
       sich nur um den Lebensunterhalt seiner Kinder sorgen, nicht aber um sie.
       Deutschland sei nicht für Kinder gemacht. Seit er aber an Sibirien denkt,
       frustriere ihn der Gedanke an den täglichen Job nicht mehr. Früher hätte er
       gearbeitet, um Rechnungen zu zahlen, jetzt für ein Leben mit mehr Zeit.
       
       Überforderung: „Die letzten Jahre waren zu viel“, sagt Milash, balanciert
       auf den Fingerkuppen die Teller in die Küche: „Ich war kaputt.“ Zwei
       Kinder, die Ausbildung als Schreiner, Geldsorgen, Überarbeitung. Sein
       Burn-out versuchte er zu verstecken. Dann fuhr die gesamte Familie nach
       Sibirien. Erst im „Blickkontakt mit der Natur“ ging das beklemmende Gefühl
       fort. „Die Sonne geht auf und unter, dazwischen macht man den Garten“,
       erklärt er, „so einfach, man trifft sich selbst“. In der nackten Natur gebe
       es den ganzen anderen „Spam“ nicht – wie Big Macs und sinnlose
       Versicherungen.
       
       Der große Traum: Mit Freunden gründet Konstantin gerade den
       „Burn-out-Verein“. Der Traum: ein Kurort für Ausgelaugte aus der ganzen
       Welt. Per Boot setzen sie die Menschen auf den Inseln aus und holen sie
       erst nach ein paar Tagen wieder ab. „Visionssuche“ nennt er die Methode.
       Kanus möchte er weiter bauen und zu Hause seine Kinder unterrichten. „Ich
       will nicht, dass die Kinder in Deutschland zur Schule gehen“, sagt er. Es
       wäre auch nur dasselbe Hamsterrad.
       
       Deutschland: Was er von Deutschland nicht vermissen wird, ist der viele
       Verkehr, „ein ständiger Schall“, sagt Milash und blickt durch die Wohnstube
       vorbei an den undichten Fenstern, durch die man die Durchfahrtsstraße hört.
       „Aber das Haus werde ich vermissen“, sagt er schließlich. Alles in
       Deutschland sei alt. Mittelalterliche Spuren, das gebe es in Sibirien
       nicht. Aber das Leben sei hier zu stressig. „Nach Deutschland komme ich nur
       noch für Käffchen und Tiramisu.“
       
       Glück: „Ich habe mich in meiner Glücksvorstellung verlaufen“, sagt Milash
       hinterm Haus und pafft den Rauch seiner Zigaretten in die Luft, in der eine
       Hummel Pirouetten dreht. Früher war es Freiheit und „Draußensein“. Heute
       sei es ganz banal: die Kinder zu sehen, Freunde zu treffen und Zeit zu
       haben. Bald, sagt er, könnte beides zusammenkommen.
       
       15 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ann Esswein
       
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