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       # taz.de -- Otto Schily über die Revolution von 1848: „Schily hat Marx bewundert“
       
       > Viktor Schily nahm an der Revolution 1848 teil und tauschte Briefe mit
       > Karl Marx aus. Ein Gespräch mit seinem Urgroßenkel, der nie „Das Kapital“
       > gelesen hat.
       
   IMG Bild: Otto Schily im Jahr 2015
       
       Otto Schily kommt zu spät, wie früher zu seinen Prozessen. Mit wehender
       Robe lange nach Prozessbeginn in den Gerichtssaal zu stürmen, das war sein
       Markenzeichen als Rechtsanwalt in den 70er Jahren. „Eine Viertelstunde zu
       spät ist noch im akademischen Bereich“, sagt er im Café Einstein Unter den
       Linden, wo man sich trifft, um zu sehen und gesehen zu werden. Er ist 85
       Jahre alt, gut gelaunt. Die Kellner kennen ihn, er ist Stammgast. 
       
       taz am wochenende: Herr Schily, wer war Viktor Schily? 
       
       Otto Schily: Mein Urgroßonkel. Ein 48er, ein Akteur der Revolution von
       1848.
       
       Spielte Viktor in der Tradition Ihrer Familie eine Rolle? Gibt es
       Erinnerungsstücke, Briefe, Bilder? 
       
       Leider nein. Ich hätte immer gern ein Bild oder Scherenschnitt von ihm
       gehabt. Aber es existiert nichts. Auch in den Erzählungen in unserer
       Familie war er kaum vorhanden.
       
       Warum nicht? 
       
       Der Familienstolz war der Komponist Peter Cornelius, dessen
       Weihnachtslieder wir gesungen haben. Oder mein Großvater Schmuz-Baudiss,
       der die Königliche Porzellan-Manufaktur geleitet hatte. Die waren
       leuchtende Figuren der Geschichtserzählung. Von Viktor war nicht viel die
       Rede. Er galt ein wenig als schwarzes Schaf. Das kam mir als Kind so vor.
       
       Haben Sie sich später für ihn interessiert? 
       
       Ja, in den sechziger Jahren, als ich Anwalt war und Studenten und 68er
       verteidigt habe. Viktor war ja auch Rechtsanwalt und Revolutionär gewesen.
       Da lag das nahe.
       
       Er war ein gescheiterter Revolutionär. 
       
       Er hat 1848 in Prüm in der Eifel den Sturm auf das Zeughaus angeführt und
       das preußische Waffenarsenal leer geräumt. Allerdings hat er, nachdem der
       Aufstand gescheitert war, die erbeuteten Gewehre eingesammelt und bei den
       Behörden abgegeben. Er war ein sehr deutscher Revolutionär.
       
       Und ein Brieffreund von Marx. 
       
       Ja, er musste wie Marx nach der gescheiterten Revolution 1848 emigrieren.
       Marx war in London, Viktor Schily in Paris. In den blauen Bänden, den
       Werken von Marx und Engels, sind die Briefwechsel zwischen ihm und Marx
       abgedruckt. In den Bänden wird er von den Herausgebern als Radikaldemokrat
       bezeichnet. Das war er wohl.
       
       War das Verhältnis zwischen Marx und Viktor Schily eines auf Augenhöhe? 
       
       Schily hat Marx bewundert, als Autor und Denker. Marx bezeichnet ihn in
       einem Brief als „treuen Freund“. Er war Delegierter in der von Marx
       begründeten Internationalen Arbeiter Assoziation. Die Briefe sind
       lesenswert, auch wenn der dauernde Wechsel von Französisch, Englisch und
       Deutsch ungewöhnlich ist.
       
       Sie haben 1967 Ihre Tochter Jenny genannt – nach Jenny von Westphalen, der
       Frau von Marx. War das eine Referenz an den in Ihrer Familie vergessenen
       Urgroßonkel? 
       
       Nein, das war die Zeit. Meine Frau Christine war im SDS, dem
       Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Ich bin über sie in Kontakt mit
       der Studentenbewegung gekommen. Wir fanden, dass Jenny eine sympathische
       Figur war. Dass Marx seine Frau nicht immer gut behandelt hatte, war ein
       Motiv mehr. Der zweite Name unserer Tochter ist Rosa, nach Rosa Luxemburg,
       deren Briefe aus dem Gefängnis mir immer imponiert haben. Zu Marx hatte ich
       damals eher ein romantisches Verhältnis.
       
       Und kein intellektuelles? 
       
       Nein, ich habe manches von den Frühschriften gelesen, aber nicht „Das
       Kapital“. Als Anthroposoph ist mir das rein Materialistische fremd
       geblieben.
       
       Haben Sie Parallelen zwischen sich und Viktor Schily gesehen? 
       
       Nicht direkt.
       
       Er hat Gewehre erbeutet, Sie haben Militante, die Waffen einsetzten, vor
       Gericht verteidigt. 
       
       Die Entwicklung der Roten Armee Fraktion war eine Tragödie. Ulrike Meinhof
       und Gudrun Ensslin waren ja brillante Köpfe.
       
       Viktor Schily starb verarmt 1875 in Paris. Marx schrieb kurz zuvor in einem
       Brief über ihn, dass dieser leider „vergrämt“ und „etwas konservativ“
       geworden sei … 
       
       Das wusste ich nicht …
       
       Von links nach rechts – erinnert Sie das an jemanden? 
       
       Vielleicht ist es eine logische Entwicklung, durch Erfahrung konservativ zu
       werden.
       
       6 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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