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       # taz.de -- US-Whistleblowerin in Berlin: Popstar Chelsea Manning
       
       > Die Whistleblowerin ruft auf der Digitalkonferenz re:publica in Berlin
       > zum Widerstand gegen das Silicon Valley auf – und wird gefeiert.
       
   IMG Bild: Früher Nachrichtenanalystin der US-Armee, heute IT-Mahnerin: Chelsea Manning
       
       BERLIN taz | Die Eröffnungsveranstaltung an der Hauptbühne läuft noch, doch
       im Publikum entsteht Unruhe. Immer wieder schieben sich Menschen durch die
       Stuhlreihen und suchen nach letzten freien Plätzen. Die
       Medienwissenschaftlerin danah boyd lässt sich nicht beirren und spricht
       weiter darüber, wie Algorithmen unsere Welt verändern. Nach ihrem
       abschließenden Plädoyer verlässt keiner den Saal – niemand möchte den
       nächsten Programmpunkt verpassen. Denn Whistleblowerin Chelsea Manning
       spricht auf der re:publica.
       
       Schon seit einer Stunde sitzt Manning in der ersten Reihe im Raum und hört
       dem Vortrag von danah boyd zu. Sie selbst soll im Anschluss mit Geraldine
       de Bastion, Mitglied aus dem Programmteam der re:publica, und Theresa
       Züger, Projektleiterin des Media Policy Lab, über künstliche Intelligenz,
       zivilen Ungehorsam und die Folgen unkontrollierter Staatsmacht sprechen.
       Doch am Ende wird es vor allem eines – persönlich und appellhaft.
       
       Manning betritt nur wenige Minuten verspätet die Bühne – zu pünktlich für
       einen Popstar. Genauso fühlt sich die Stimmung im Raum aber an. Tosender
       Applaus, die Leute setzen sich auf den Boden, um noch einen Platz zu
       bekommen, überall sind Handykameras gezückt für ein Foto der wohl
       bekanntesten Whistleblowerin der Welt. Es ist ihr erster Auftritt außerhalb
       der USA seit ihrer Haftentlassung.
       
       Seit 351 Tagen ist Manning eine freie Frau. Sieben Jahre saß sie im
       Gefängnis. Seit 2009 war sie als Nachrichtenanalystin der US-Armee im Irak
       stationiert mit Zugang zu „Top Secret“-Informationen. Rund 720.000 Daten
       brannte sie auf CDs und gab sie der Enthüllungsplattform WikiLeaks.
       
       Die Dokumente beinhalteten Militärinformationen – unter anderem ein Video,
       das zeigt, wie aus einem Hubschrauber des US-Militärs auf wehrlose
       Zivilisten gefeuert wird. Ursprünglich wollte sie die Daten an die
       Washington Post und New York Times weitergeben, doch die größten Zeitungen
       der USA zeigten keine Interesse. Wie so etwas sein kann, fragt eine
       Zuschauerin aus dem Publikum. Ihre Antwort: „Versuchen Sie mal einen
       Reporter dazu zu bringen, verschlüsselt zu kommunizieren“, wird mit Lachen
       von den Zuhörenden belohnt.
       
       „Doch die Zeiten haben sich geändert“, so Manning. Die Situation von
       Manning ist eine andere als noch vor knapp zehn Jahren, aber auch die
       Arbeit mit Big Data. Das zeigen nicht nur die Auswirkungen des
       Datenschutzskandals rund um Cambridge Analytics und Facebook. Manning warnt
       vor großen Datensammlungen: „Big Data und künstliche Intelligenz bestimmen
       einen Großteil unseres Lebens. Sie sind mehr als nur ein Hype. Sie sind
       gefährlich.“
       
       Wer dafür verantwortlich ist, steht für Manning außer Frage: Es sind die
       großen Firmen, wie Facebook und Google. „Wir brauchen ethische Standards
       wie bei Ärzten. Denn weiße Männer aus dem Silicon Valley bringen Software
       auf den Markt und kümmern sich nicht weiter darum. Dabei sind sie
       mitverantwortlich dafür, wie die genutzt wird und auch wie sie missbraucht
       werden kann.“ Da brächten auch Gesetze wenig, denn durch Lobbyarbeit würden
       diese immer wieder nach den Wünschen der Firmen angepasst.
       
       Doch Manning appelliert auch an jede einzelne Nutzer*in. „Wir müssen sie
       dazu zwingen, etwas zu verändern und zwar jetzt. Denn die Zeit der Hoffnung
       und der Wünsche nach Reformen ist vorbei.“ Und am besten funktioniere
       Wandel, wenn man sich zusammenschließe.
       
       ## Im Gefängnis
       
       Das ist Mannings Credo: Solidarität. Nur so habe sie die Zeit im Gefängnis
       überlebt. Im Jahr 2011 wird Manning vom Militärgericht angeklagt, nach
       einem Teilgeständnis folgt im August 2013 das Urteil: 35 Jahre Gefängnis.
       In der Isolationshaft erlebte sie ständig erniedrigende Behandlung. 23
       Stunden täglich in Einzelhaft, keinen Zugang zu Nachrichten, kein Bettlaken
       und kein Kissen. Vor den Wärtern musste sie sich zu Beginn immer wieder
       nackt aufstellen. Journalist*innen, Trans-Aktivist*innen und auch der
       Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Bundestags
       kritisierten die Haftbedingungen.
       
       Die meiste Zeit war sie in Fort Leavensworth untergebracht – einem
       Militärgefängnis für Männer. Doch 2013 verkündete Manning in einer
       öffentlichen Erklärung, eine Frau zu sein, künftig Chelsea zu heißen und
       mit dem weiblichen Pronomen angesprochen werden zu wollen. Erst zwei Jahre
       später wurde ihr eine Hormonersatztherapie genehmigt. Nach einem
       [1][fünftägigen Hungerstreik] kam die [2][Bewilligung einer
       geschlechtsangleichenden Operation]. Am 17. Mai 2017 [3][kam Manning
       schließlich frei]. Der damalige Präsident Barack Obama, verkündete kurz
       zuvor, dass ihre 35-jährige Haftstrafe verkürzt werde.
       
       Manning verdient Bewunderung – und die bekommt sie in Berlin. Die Themen
       der Veranstaltung werden dagegen nur angerissen. Immer wieder appelliert
       sie ans Publikum: „Jeder kann etwas tun. Wir Menschen sind wie Algorithmen.
       Wir können jeden Tag dazulernen.“ Und damit meint sie, mit Menschen
       sprechen, die weniger Privilegien haben, und ihnen zuhören. Skeptisch sein
       im Umgang mit sozialen Medien. Und die Werte der Demokratie wie
       Redefreiheit hochhalten. „Doch Redefreiheit bedeutet nicht, jedem ein
       Mikrofon in die Hand zu geben, der eine Meinung hat.“ White Supremacists
       oder Leute, die einen Genozid wollen, dürfe und solle man aus der
       Diskussion ausschließen.
       
       Das Publikum bleibt bis zum Schluss gespannt sitzen. Eines ist Manning dann
       besonders wichtig: „Der beste Weg, eine Transperson zu behandeln, ist, sie
       nicht in ein Gefängnis zu stecken und sie ihr Leben leben zu lassen. Und
       das sollte für jeden Menschen gelten.“ Manning hat schon seit einigen
       Minuten die Bühne verlassen, der Applaus bricht nicht ab. Vereinzelt gibt
       es Standing Ovations. Es fehlen nur noch die Zugaberufe. Wenn der
       US-Bundesstaat Maryland Manning genauso feiert, wie die Besucher der
       re:publica es tun, hat sie gute Chancen bei der Wahl zur Senatorin. Im
       Januar gab sie ihre Kandidatur für den Posten bekannt.
       
       2 May 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Carolina Schwarz
       
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