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       # taz.de -- Debatte Afghanische Staatsbürgerschaft: Im Würgegriff der Ethnien
       
       > In der Einführung elektronischer Personalausweise sehen viele
       > Minderheiten in dem Vielvölkerstaat die ewige Dominanz der Paschtunen am
       > Werk.
       
   IMG Bild: In einem Land, das durch Terroranschläge zerrüttet ist, sind ethnisch aufgeheizte Debatten hoch gefährlich
       
       „Wir sind alle Afghanen.“ Auf den ersten Blick mag dieser Satz
       unproblematisch erscheinen. Doch seit die afghanische Regierung beschlossen
       hat, elektronische Personalausweise einzuführen (die ersten werden bereits
       ausgegeben), herrscht in Teilen der Bevölkerung Unmut.
       
       Der Umstieg an sich hat gute Gründe. Bis heute benutzen viele Afghanen
       lediglich, wenn überhaupt, ihre Geburtsurkunde (tazkira), ein
       handgeschriebenes DIN-A4-Blatt, um sich auszuweisen. Der neue E-Ausweis
       würde dieses Problem aus der Welt schaffen und zudem Problemen wie
       Wahlbetrug – bald stehen sowohl Parlaments- als auch Präsidentschaftswahlen
       an – entgegenwirken.
       
       Im Schatten dieser Pläne läuft eine völlig andere Debatte. Geplant ist
       nämlich auch, die Nationalität der Bürger als „afghanisch“ zu vermerken.
       Konkret geht es um das Wort „Afghane“, das auf den neuen Ausweisen zu lesen
       ist. Einige Minderheiten Afghanistans lehnen die Bezeichnung allerdings ab.
       In ihren Augen war „Afghane“ einst ein Synonym für die Paschtunen, die
       dominierende Ethnie Afghanistans. Ihr Vorwurf: Ihnen wird eine Identität
       aufgezwungen. Denn anfangs war vorgesehen, es bei „Afghane“ zu belassen,
       die ethnische Zugehörigkeit sollte nicht benannt werden. Nach Protesten
       soll die Ethnie nun ausdrücklich vermerkt werden, „Afghane“ bleibt
       allerdings ebenfalls erhalten.
       
       Aus historischer Sicht ist Afghanistan stets ein Vielvölkerstaat gewesen.
       In dem Land leben Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und andere Völker seit
       Jahrhunderten, auch schon vor der Entstehung des modernen afghanischen
       Nationalstaats. Dieser wurde allerdings stets von Paschtunen geprägt. Die
       großen Dynastien des Landes sind stets paschtunische gewesen. Der
       politische Umgang mit den ethnischen Realitäten änderte sich allerdings mit
       der Zeit, vor allem während des Zeitalters des Kolonialismus. Wie in vielen
       anderen postkolonialen Nationalstaaten in der Region spielte die
       europäische Idee des Nationalismus auch in Afghanistan eine große Rolle.
       
       ## Nach dem Vorbild der Türkei
       
       Der afghanische König Amanullah, der Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die
       Briten im Dritten Anglo-Afghanischen Krieg kämpfte, nahm sich beim Aufbau
       des Staates die Türkei und den Iran zum Vorbild. Kemal Atatürk und Reza
       Pahlavi zählten zu seinen engsten Freunden. Auch der Iran und die Türkei
       sind Vielvölkerstaaten, in denen ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung
       keine ethnischen Türken oder Iraner sind. Im Lauf der Zeit beschrieben die
       Wörter allerdings nicht mehr eine einzelne Ethnie, sondern das
       Nationalvolk. Da diese Entwicklung zum Teil mit brutaler Gewalt verbunden
       war, waren Probleme wie etwa der Kurdenkonflikt in der Türkei
       vorprogrammiert. Fakt ist auch, dass diese nationalen Identitäten von der
       herrschenden Elite geschaffen und vielen Menschen aufgezwungen wurde.
       
       Die 2004 erneuerte afghanische Verfassung besagt, dass jeder Bürger
       Afghanistans als „Afghane“ zu bezeichnen ist. In den vergangenen
       Jahrzehnten wurden auch in manchen innerafghanischen Debatten lediglich
       Paschtunen als Afghanen bezeichnet. Doch seit den 1950er Jahren galten
       immer stärker alle Bürger des Landes als Afghanen.
       
       Viele ethnische Kategorisierungen sind ohnehin problematisch. Zum Beispiel
       übernimmt man in Afghanistan automatisch die Ethnie des Vaters, obwohl
       Mischehen seit je zum Alltag gehören. Warum sollte sich jemand, der einen
       paschtunischen Vater und eine tadschikische Mutter hat, nicht auch als
       Tadschike betrachten? Zudem ist auch aus wissenschaftlicher Sicht die
       Herkunft vieler Völker ungeklärt. „Reinblütig“ – wenn man das so überhaupt
       sagen kann – ist niemand.
       
       Es waren die Briten, die während der Anglo-Afghanischen Kriege im 19. und
       20. Jahrhundert nur die Paschtunen Afghanen nannten. Es ist eine Ironie,
       dass die damaligen Kolonialisten, die auch die Grenzen festlegten, nun
       abermals die Debatte mitbestimmen. Vertreter einiger Minderheiten verwenden
       genau diese Argumentation. Teils steht sogar der Vorwurf im Raum, die
       Identität von Minderheiten auslöschen zu wollen. Verständlich erscheint
       dies vor allem aus Sicht der Hazara, einer schiitischen Minderheit, die
       eine Historie der Unterdrückung hat. Dies hat weniger mit ihrer Konfession
       zu tun – die Mehrheit Afghanistans ist sunnitisch – als vielmehr mit purem
       Rassismus, der sich an den mongolischen Gesichtszügen der Hazara festmacht.
       
       ## Hochgefährliche Debatten
       
       Ethnisch motivierte Debatten in Afghanistan haben zugenommen, seit
       Präsident Aschraf Ghani 2014 das Amt übernommen hat. Ghani, Paschtune wie
       sein Vorgänger Karsai, wird vorgeworfen, gegen andere Ethnien vorzugehen
       oder sie ausschließen zu wollen. Ghanis Regierung der „Nationalen Einheit“
       besteht zur Hälfte aus seinen eigenen Leuten, hauptsächlich Paschtunen, zur
       anderen Hälfte jedoch zunehmend aus Tadschiken der Partei
       Dschamaat-i-Islami. Doch auch Angehörige anderer Ethnien finden sich in
       Ghanis Kabinett. Sein erster Stellvertreter, der berüchtigte Warlord Abdul
       Raschid Dostum, ist Usbeke, er [1][befindet sich wegen
       Vergewaltigungsvorwürfen zurzeit allerdings in türkischem Exil]. Ghanis
       zweiter Vizepräsident Sarwar Danisch, stammt aus der Minderheit der Hazara.
       
       Für die afghanische Gesellschaft sind derartige Debatten hochgefährlich. Zu
       labil ist die gegenwärtige Lage. Durch soziale Medien, YouTube und
       Fernsehsender, die in den urbanen Gebieten, allen voran in Kabul,
       omnipräsent sind, wird zusätzlich Öl ins Feuer gegossen.
       
       Hinzu kommt, dass Afghanistan als postkolonialer Staat die ethnischen
       Grenzen überwinden muss, um voranzuschreiten. Viel zu viele Politiker im
       Land haben den Drang, sich über ihre Ethnie zu definieren und sich als
       deren Vertreter zu präsentieren. Dies vergiftet nicht nur das
       gesellschaftliche Klima, es hat auch wenig mit den alltäglichen Problemen
       der Bürger zu tun. Denn weiterhin herrschen Hunger, Krieg und Armut.
       
       16 May 2018
       
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