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       # taz.de -- Die neue Lust am Wandern: Ein potentes Antidepressivum
       
       > Mit dem Wandern gewinnen wir Fähigkeiten zurück, die mit der
       > Beschleunigung des Alltags verloren gehen. Ein Plädoyer für
       > Bewegungsfreiheit.
       
   IMG Bild: Das Grün der Natur genießen: Wanderweg in Bayern
       
       „Vom Wasser haben wir’s gelernt,Vom Wasser!Das hat nicht Rast bei Tag und
       Nacht, Ist stets auf Wanderschaft bedacht, Das Wasser … “ 
       
       Mit diesen Versen feierte der romantische Dichter Wilhelm Müller,
       Handwerkersohn aus Dessau, vor knapp 200 Jahren die unbändige Kraft des
       strömenden Wassers. Und setzt sie in eins mit der – Magie des Gehens. „O
       Wandern, Wandern, meine Lust …“
       
       Franz Schubert hat die Verse 1823 vertont und zum Volkslied gemacht. Die
       Wortfügung „Wanderlust“ ist eine Erfindung der deutschen Romantik. Um 1900
       wanderte sie als Lehnwort in die englische Sprache ein. Dort meint es noch
       heute vor allem: Lust am freien Schweifen, an selbstbestimmter Orientierung
       – Freiheitsdrang, Autonomie.
       
       Man höre sich den Song „Wanderlust“ der isländischen Pop-Sirene Björk an:
       Wie ihre Stimme vibriert und jubiliert, wenn sie, untermalt von
       Bläserfanfaren und Trommelwirbeln, das Wort in den Mund nimmt. „I feel at
       home. Whenever the unknown surrounds me. … Wanderlust!“ In fremder Umgebung
       zu Hause – die Essenz des Wanderns. Wir sind Bewegungswesen. Das Nomadische
       schlummert wohl in unseren Genen. In der globalisierten Kultur des 21.
       Jahrhunderts keimt es kräftig auf.
       
       Die Lust am Wandern ist plötzlich wieder sehr zeitgeistig. Der utopische
       Gehalt des Wanderns im 21. Jahrhundert: Wir gewinnen Fähigkeiten zurück,
       die mit der Beschleunigung des Lebenstempos verloren gehen –
       Zeitsouveränität, Bewegungsfreiheit, Naturverbundenheit und die
       Aufmerksamkeit für die innere Stimme. Das tut uns gut. Selbst wenn wir
       darauf ausgerichtet – und abgerichtet – sind, die Welt hauptsächlich durch
       die Windschutzscheibe oder auf Bildschirmen und Displays wahrzunehmen.
       Wandern ist ein Lebenselixier. Oder andersrum: ein potentes
       Antidepressivum.
       
       ## Leben in künstlichen Räumen
       
       Im Cyberspace regt sich kein Lüftchen. Mit Windows und Google öffnen wir
       uns Zugänge bis tief hinein in abgelegene, exotische und bizarre virtuelle
       Räume und Gedankenräume. Dort surfen wir auf einer Flut von Zeichen und
       Bildern, auf Kaskaden von synthetischen Klängen. Aber nirgendwo die
       leiseste Brise, die zarteste Duftnote, ein natürlicher Laut. In solchen
       künstlichen Räumen haben wir uns eingerichtet. Auf die Möglichkeiten, die
       sich dort auftun, will kaum jemand ganz verzichten.
       
       Doch je mehr sich unser Leben dort abspielt, desto notwendiger wird in
       Zukunft eine möglichst häufige und intensive Kontrasterfahrung. Friluftsliv
       (Freiluftleben) nennt man im Norwegischen den Rückzug auf Zeit in die große
       Landschaft, das Reich der wilden, freien Natur. Der Begriff meint alle
       Spielarten des Lebens „draußen“: paddeln, zelten, Ski laufen, angeln – und
       vor allem: Rucksack wandern.
       
       Friluftsliv ist fester Bestandteil der skandinavischen Alltagskultur und
       gilt als ein Weg zu höherer Lebensqualität. Seit einigen Jahren
       veröffentlicht die UNO einen jährlichen „World Happiness Report“. Dort geht
       es um die Messung von Glück, von „gutem Leben“, von Lebensqualität in den
       verschiedenen Ländern. 2017 eroberte in diesem Index Norwegen Platz 1, 2018
       hinter Finnland Platz 2. Sicherlich spielen viele Faktoren dabei zusammen.
       Doch nicht zuletzt ist es die Möglichkeit und die Kompetenz, „draußen zu
       Hause“ zu sein. „Ein reiches Leben mit einfachen Mitteln.“ So umschrieb der
       norwegische Philosoph Arne Næss die Grundidee von friluftliv. Heute spricht
       man von „nachhaltigen“ Lebensstilen.
       
       „Einsamste Wildnis“ ist der Titel eines Gedichts von Goethe. Es reflektiert
       seine lebenslange Lust am Zeichnen in freier Natur. Wolken, Pflanzen,
       Felsen waren seine häufigsten Motive. Das Gedicht beginnt mit dem Satz:
       „Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken / Und Welt und ich, wir
       schwelgten in Entzücken.“
       
       Es ist eine Art von Trancezustand, den Goethe hier beschreibt. Moderne
       Psychologen sprechen auch vom „Flow“-Gefühl. Dieser Zustand – und nicht der
       Punkt X am Ende einer Strecke – ist das eigentliche Ziel jeder Wanderung.
       Es ist der Bewusstseinszustand der Entrückung, wo Innenwelt, Leib, Geist,
       Seele und Außenwelt, Natur, Landschaft, Kosmos einen Moment lang eins sind.
       Das ist exakt die Gegenperspektive zu dem „Tunnelblick“ auf die Welt, der
       uns heute zu lähmen droht, in die Resignation treibt oder Hass und
       Gewaltbereitschaft schürt: die Fixierung auf die Horrormeldungen und
       Katastrophenbilder, die uns gegenwärtig rund um die Uhr multimedial
       kommuniziert werden.
       
       ## Neue Weltbeziehung
       
       Goethes empathische Zwiesprache mit der Welt ist hochaktuell. Der Jenaer
       Soziologe Hartmut Rosa entwickelte kürzlich „die Idee einer
       entgegenkommenden, antwortenden Welt, die uns berührt und der wir
       unsererseits entgegenzugehen vermögen“. Er spricht von einer neuen
       „Weltbeziehung“, deren Zentrum die „Resonanz“ ist. Eine neue Kunst des
       Wanderns, die sich von angestaubtem Brauchtum und von neuen Zwängen des
       Kommerzes frei gemacht hat, könnte sich als ein gangbarer Weg zur
       Annäherung an solche „Resonanzsphären“ erweisen.
       
       Zum einen sind es ausgedehnte Naturräume, die unterwegs als
       „Handlungssphäre“ und „eigenständiges Gegenüber“ ins Spiel kommen, „zum
       Klingen“ kommen, „mit eigener Stimme sprechen“ und „etwas zu sagen haben“.
       Zum anderen wird beim Wandern in der gewachsenen Kulturlandschaft die
       Geschichte zu einem Resonanzraum. Nicht zuletzt indem die Beziehungen der
       eigenen Biografie zu der sie tragenden „Kollektivgeschichte“ spürbar werden
       und ins Vibrieren kommen. Das wäre ein Hebel, um das grassierende Gefühl,
       „fremd im eigenen Land zu sein“, zu überwinden.
       
       Jeder Wanderer, jede Wanderin kennt das: Du blickst zurück und siehst den
       Waldrand, an dem du vor zwei Stunden gerastet hast. Du schaust nach vorn zu
       der Kammlinie am Horizont, die du morgen erreichen willst. Eine mehrtägige
       Wanderung erzeugt ein ganz besonderes Raum-Zeit-Gefühl. Nah und fern
       bekommen wieder eine sinnliche Qualität. Und damit auch die kosmischen
       Zeitgeber: Sonnenaufgang, Himmelsbläue, Mittag, Sonnenuntergang, nächtliche
       Schwärze, Mond und Sterne. Unter freiem Himmel, weg von den Lichtermeeren
       der urbanen Ballungsräume, klinke ich mich ein in den Hell-Dunkel-Rhythmus
       von Natur und Kosmos. Nicht die lineare Zeit von Uhr und Kalender ist hier
       maßgebend, sondern die zyklische Zeit, die von der Sonne und den Bahnen der
       Gestirne im Weltraum vorgegeben ist: die Echtzeit.
       
       ## Wo will ich hin?
       
       In diesem Licht bekommt der Raum um mich herum seine natürlichen
       Dimensionen wieder. Er gliedert sich in oben, unten, links, rechts, vorne,
       hinten. Die Sonne gibt die Himmelsrichtungen an. Diese werden auf die
       Links-rechts-Koordinaten des eigenen Blickfeldes übertragen. Wo bin ich? Wo
       komme ich her? Wo will ich hin? Wie komme ich dahin? Indem ich mich auf die
       Strukturen des Raumes und auf dessen Landmarken einlasse, lerne ich wieder,
       mich im Raum selbständig zu orientieren. Die Praxis des Wanderns erfordert
       es, sich in seinen Nahräumen, auch in Gegenden, in denen man noch nie war,
       zurechtzufinden. Man gewinnt ein Stück Kontrolle über sein Leben zurück.
       Darin besteht ein großer Reiz des Unterwegsseins.
       
       „Packt euren Rucksack leicht“, schrieb ein Berliner Wandervogelmädchen im
       Mai 1914 im Bulletin ihrer Gruppe, „zieht euch leicht und schön an!“ 2015,
       fast genau 100 Jahre später, feierte die Band Silbermond in einem Song den
       Mut zum weniger, die Kunst, mit wenigem auszukommen, die
       Selbstbeschränkung: „… denn es reist sich besser / mit leichtem Gepäck“.
       
       Vor jedem Aufbruch zu einer Wanderung, nämlich beim Rucksack packen, stellt
       sich immer wieder neu die Frage: Was brauche ich wirklich? Die
       Outdoorbranche hat einige tausend Artikel im Sortiment. Vieles ist schön
       und gut und praktisch. Aber es summiert sich zu einem bleiernen Gewicht.
       Kaum etwas ist unverzichtbar. Wanderglück hängt nicht vom Logo an der Jacke
       ab. Sich gegen alle Eventualitäten unterwegs abzusichern, ist illusionär.
       Der erfahrene Wanderer hat gelernt, zu reduzieren, Ballast abzuwerfen.
       Meine Faustregel: Mut zum weniger! Die Freude am Gehen nicht von der Qual
       des Tragens kaputtmachen lassen. Aber trotzdem genug dabei zu haben, um
       autark zu sein. Seinen Weg zum persönlichen Wanderglück muss jeder selbst
       suchen. Für sich selbst die Grenzen der Belastbarkeit zu finden und
       einzuhalten, kann einem niemand abnehmen.
       
       ## Wandern und Freiheit
       
       Ein sorgfältiger Minimalismus aber hilft, neue Handlungsräume und
       Erlebnisebenen beim Wandern zu erschließen. Das Prinzip des weniger wird
       ein Hebel zur Steigerung der Intensität. Und es reduziert die Kosten. Man
       lernt beim Wandern, mit wenigem auszukommen und trotzdem – oder gerade
       deswegen – die Fülle des Lebens zu genießen. Wandern hat mit Freiheit zu
       tun, aber auch mit Gleichheit. Es ist ein Element des guten Lebens, zu dem
       Menschen aus allen Schichten unabhängig von ihrer Kaufkraft gleichen Zugang
       haben und behalten sollten – jung, alt, männlich, weiblich, gebildet und
       bildungsfern. Die Lektion des Wanderns für die Einübung nachhaltiger
       Lebensstile wäre dann: die Überwindung der Verzichtangst. Und: dass es oft
       nur ein Minimum an Dingen braucht, um ein Maximum an Wohlbefinden zu
       erleben.
       
       Wandern ist ziemlich „nachhaltig“. Der CO2-Ausstoß auf 100 km ist minimal.
       Die Sauerstoffaufnahme phänomenal. Muskelkraft ist eine erneuerbare
       Energie. Sie speist sich aus nachwachsenden Rohstoffen. Wir sollten alles
       tun, um die neue Lust am Wandern in den urbanen Alltag mitzunehmen und dort
       in die Lust an der Eigenbewegung zu verwandeln. Die Wiederkehr des Wanderns
       macht erst richtig Sinn, wenn sie die „Mobilität aus eigener Körperkraft“
       überall befördert. Sie fängt dort an, wo wir den Schulweg der Kinder zu Fuß
       organisieren.
       
       Der Weg ins solare Zeitalter ist unausweichlich. Wer in frischer Luft und
       freier Landschaft seiner Freude am Gehen frönt, wird immer weniger auf die
       Idee kommen, daheim in die Blechkiste zu steigen, um Brötchen zu holen.
       Gehen und radeln, kombiniert mit Bus und Bahn, rücken so wieder ins Zentrum
       unserer Mobilitätsgewohnheiten. Die neue Lust an der autonomen Bewegung,
       nicht das selbstfahrende Auto, wäre dann der natürliche Ausgangspunkt, um
       die Mobilität der Zukunft neu zu denken.
       
       19 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Grober
       
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