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       # taz.de -- Kolumne Im Augenblick: Wendländer Spezialitäten
       
       > Ich bin ins Wendland zur Kulturellen Landpartie gefahren, um ein bisschen
       > Spaß zu haben. Aber es ist mehr daraus geworden.
       
   IMG Bild: Neue Lebendigkeit: Bei der Kulturellen Landpartie werden auch Besucher*innen aktiviert
       
       Jedes Jahr in dieser Zeit besuchen die Menschen die [1][Kulturelle
       Landpartie] im niedersächsischen Wendland. Vorletztes Jahr war ich mit
       Freund*innen und unseren Fahrrädern zum ersten Mal da. Die Zugfahrt mit
       vielen Familien und deren Kindern war sehr entspannt, das Wetter herrlich.
       Die Natur war komplett grün bekleidet. Ausgangspunkt unserer Fahrradtour
       war Hitzacker. Dort haben wir mit anderen Besuchern aus Lehm Figuren
       gebastelt. „So kann man die Erde spüren“, meinte der Mann, der fürs
       Lehm-Projekt zuständig war.
       
       In einem anderen Dorf haben wir Eselreiter beim Wettrennen beobachtet, im
       nächsten einen Abstecher in eine Brauerei gemacht: Ein schönes Gefühl ist
       es, Bier zu trinken, zu dessen Herstellung man selbst beigetragen hat. Ein
       Dorf nach dem anderen, ein Erlebnis nach dem anderen, eine Spezialität nach
       der anderen, so ging unsere Tour, bis wir schließlich in Gorleben
       angekommen waren. Dort haben wir etwas zu Essen gekriegt und dabei
       Live-Musik gehört. Weil ich mich auf unserer Tour daran gewöhnt hatte,
       wollte ich dann wissen, was denn die Spezialität von Gorleben ist?
       
       Die Antwort war: Atommüll.
       
       Anders als Eselreiten, Bierbrauen oder Bogenschießen möchte man von dieser
       Spezialität weglaufen. Die Gorlebener können das aber nicht. Das ist ja ihr
       Zuhause.
       
       Vor über 40 Jahren hatte der damalige christdemokratische Ministerpräsident
       Ernst Albrecht die Entscheidung getroffen, in Gorleben ein
       Entsorgungszentrum für Atommüll zu errichten. Ob der Salzstock in Gorleben
       dafür geeignet ist, war schon zuvor unter den Wissenschaftlern umstritten
       gewesen, genau wie der Einsatz von Atomkraft zur Energiegewinnung.
       
       Aber die Entscheidung wurde, wie viele andere, trotzdem getroffen. Um zu
       verstehen, wieso Gorleben, hilft vielleicht dieser Ausschnitt aus der taz:
       „Der – inzwischen gestorbene – Geologieprofessor Gerd Lüttig erinnerte sich
       in einem taz-Gespräch an eine Sitzung, in der Albrecht gesagt habe: ‚Jetzt
       haben wir dieses Morsleben direkt an der Zonengrenze. Wenn das mal absäuft,
       dann haben wir im Helmstedter Raum die verseuchten Wässer. Ich möchte jetzt
       die Ostzonalen mal richtig ärgern, nehmen wir Gorleben als Gegengewicht.
       Mal sehen, was herauskommt.‘“
       
       Wäre das damals der eigentliche Grund für die Standortentscheidung gewesen?
       Aber wenn Albrecht auf diese grausame Weise gedacht haben sollte, warum
       bleibt das Entsorgungszentrum auch nach der Wiedervereinigung in Betrieb?
       
       Es lässt sich etwa so verstehen, dass die Regierungen nach Albrecht, der ja
       inzwischen auch schon gestorben ist, einfach weiter machen, was ihre
       Vorgänger geplant haben, gerade, wenn dagegen so heftig protestiert wird
       und ohne sich zu fragen, ob diese Entscheidung vernünftig war. Sondern weil
       sie einst getroffen worden ist. Also aus Prinzip.
       
       Allerdings hat sich dabei gezeigt, dass Widerstand Leben ist, neues Leben:
       In jedem Dorf im Wendland kann man auch heute diese Lebendigkeit sehen und
       spüren. Ich habe noch nie so viele politisch aktive Menschen auf einem Ort
       gesehen. Menschen, die Freude an ihrer Arbeit hatten.
       
       Vor allem ist diese neue Lebendigkeit ansteckend: Ich bin hingefahren, um
       ein bisschen Spaß zu haben. Mein Freund hatte gehofft, schöne Motive fürs
       Fotografieren zu finden. Wir hatten aber beide nicht daran gedacht, dass
       wir nach dieser Tour darauf achten würden, welche Produkte wir kaufen oder
       welches Bier wir trinken, dass wir uns Tage lang danach mit der Tierhaltung
       in Deutschland beschäftigen, dass wir die Dörfer hier grundsätzlich anderes
       sehen würden.
       
       Im Zug zurück nach Hause waren wieder viele Familien dabei. Deren Kinder
       hatten diesmal einen Sticker dabei – mit dem Motto: Atomkraft? Nein danke!
       
       18 May 2018
       
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