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       # taz.de -- Strategien gegen Adipositas: Im Team gegen die Kilos kämpfen
       
       > Jeder zweite Leipziger hat Übergewicht. Die Ursachen sind vielfältig –
       > aber auch die Lösungsstrategien. Zwei konstruktive Ansätze.
       
   IMG Bild: Zu viele Kilos? Der BMI bestimmt, ab wann man als adipös gilt
       
       Leipzig taz | Lothar Scheffler ist Frühaufsteher. Jeden Tag zwischen 5 und
       6 treibt es ihn aus dem Bett. Sein Ziel: Erst mal eine Runde walken und auf
       dem Rückweg Brötchen beim Bäcker kaufen. Oft schickt er dann eine Nachricht
       an „Leipzig moppelt“. In der Selbsthilfegruppe ist er Mitglied. „Damit die
       anderen auch vom Sofa hochkommen“, erzählt er augenzwinkernd. Die anderen,
       das sind vier adipöse Leipziger, die ihr Problem gemeinsam angehen wollen.
       
       Übergewicht und starkes Übergewicht, medizinisch Adipositas genannt, können
       Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zur Folge haben. Ärzte sprechen
       von Adipositas, wenn der Body-Mass-Index (BMI) über 25 liegt.
       
       [1][Dabei ist dieser Bewertungsindex umstritten.] Denn nicht allein das
       Gewicht entscheidet über einen gesunden oder ungesunden Lebensstil. Muskeln
       wiegen mehr als Fett, wer viele Muskeln hat rutscht laut BMI schnell in die
       Kategorie „leicht übergewichtig“. Und auch die Verteilung des Fettes spielt
       eine entscheidende Rolle. Ein kleines Hüftpolster gilt als gesünder als die
       Kugel vor dem Bauch.
       
       Dennoch ist der BMI im Alltagsgebrauch die bislang beste Methode zur
       gesundheitlichen Einordnung des Körpergewichts. Denn so lässt sich
       festhalten: Mit steigendem BMI häufen sich die Probleme. Um den Index zu
       berechnen, wird das Körpergewicht in Kilogramm durch die Körpergröße in
       Metern zum Quadrat gerechnet. Aus einer Studie des Gesundheitsamtes Leipzig
       geht hervor, dass fast die Hälfte aller Leipziger übergewichtig
       beziehungsweise adipös sind, also einen BMI über 25 haben.
       
       ## Einmal wöchentlich wird gewalkt oder gejoggt
       
       Neben seinem erhöhten BMI verbindet Lothar und die anderen aber auch das
       viele Reden, Kochen und Bewegen. In der Selbsthilfegruppe treffen sie sich
       einmal im Monat, um das eigene Verhalten nachhaltig zu verändern, über
       Sorgen und Nöte zu sprechen und Erfahrungen auszutauschen. Denn: Neben
       schwerwiegenden körperlichen Problemen und Folgeerkrankungen haben an
       Adipositas Erkrankte oft mit psychischen Problemen zu kämpfen, fühlen sich
       sozial isoliert und einsam. Einmal wöchentlich wird – je nach körperlicher
       Möglichkeit – gemeinsam gewalkt oder gejoggt.
       
       Lothar ist dann oft mit Birgit unterwegs. Die beiden sind die treibende
       Kraft der Gruppe. Ab und zu geht es auch gemeinsam an den Kochtopf. Eine
       Ernährungsberaterin bringt immer wieder neue Rezepte mit: Ob Rucolasalat
       mit Birne oder Ebly-Currypfanne mit Joghurtsauce, über die Inspirationen
       freut sich auch Lothars Frau, denn der über 60-Jährige verwöhnt
       anschließend auch sie mit den neuen Rezepten. So auf seine Ernährung
       geachtet hat Lothar allerdings nicht immer – mit dramatischen Folgen.
       
       Dass Lothar Scheffler immer öfter immer weniger Luft bekam, das schob er
       aufs Alter. Immerhin war er mit Ende 50 nicht mehr der Jüngste. Auch den
       stechenden Schmerz, der manchmal ohne Vorwarnung durch seine Brust schoss,
       ignorierte er. Scheffler verbrachte viele Stunde am Tag im Auto oder am
       Schreibtisch.
       
       Durch seinen Job als Vertreter war er viel unterwegs: Seminare hier,
       Tagungen dort. Mittags ein paar Kekse im Auto, nachmittags ein Kaffee im
       Büro, dazu ein Stück Kuchen. Abends auf den Seminaren und Tagungen Alkohol,
       kaum Sport. Scheffler trug gut 50 Kilo Übergewicht mit sich herum.
       
       ## Der Körper schlägt Alarm
       
       Im Herbst 2012 dann die Wendung: Scheffler sitzt mit seinem Sohn und seiner
       Frau beim Frühstück. Schlagartig bekommt er kaum noch Luft, sein Herz
       beginnt zu rasen, in seiner Brust pocht ein unerträglicher Schmerz. Seine
       Familie zögert nicht und ruft einen Krankenwagen – obwohl Scheffler das
       nicht möchte. Im Krankenhaus stellt sich heraus: Lungenembolie. Die
       Ursachen? Zu wenig Bewegung und Übergewicht.
       
       „Als ich gehört habe, dass 70 Prozent der Embolie-Patienten wieder eine
       bekommen und davon nur 50 Prozent überleben, da hat es richtig Klick
       gemacht“, sagt Scheffler heute. Er ändert sein Leben radikal, er tritt in
       seinem Job kürzer, stellt seine Ernährung um und macht Sport. Alles, um
       Gewicht abzunehmen. In der Zeitung stößt er auf die Anzeige einer
       Motivationsgruppe für Übergewichtige. Die Gruppe nennt sich [2][„Leipzig
       moppelt“]. Scheffler zögert nicht lange und tritt ein.
       
       „Wenn ich mal nicht dabei bin, dann fehlt mir was“, sagt er. „Das sind für
       mich Freunde, die ich nur in unregelmäßigen Abständen sehe.“ Scheffler
       wünscht sich eigentlich mehr Treffen. Wenn es nach ihm ginge, würde die
       Gruppe auch theoretischer arbeiten, beispielsweise mit verschiedenen
       Motivationsstrategien.
       
       Denn der Gruppe fällt es schwer, neue Mitglieder zu halten. Es gibt den
       harten Kern, viele andere halten aber nicht durch, so wie Jenny*. Sie lebt
       irgendwo in Lausen-Grünau – wo genau, kann keiner aus der Gruppe so genau
       sagen. Jenny hat nicht viel erzählt bei den vier Treffen, an denen sie
       teilgenommen hat. Danach ist sie nicht mehr wiedergekommen.
       
       ## Übergewichtig durch strukturelle Benachteiligung
       
       „Wir können die Leute nicht zu Hause abholen, herbringen und danach wieder
       in ihrer Wohnung absetzen. Und es dauert eben. Wir haben uns das ja auch
       nicht an einem Tag draufgefuttert. Und, na ja, Abnehmen hat noch nie mit
       besonders viel Spaß zu tun gehabt.“ Birgit, Lothars Walking-Partnerin,
       zuckt mit den Schultern. „Wer die Motivation nicht selbst hat, der wird
       scheitern.“
       
       Laut einer Studie des Gesundheitsamtes ist die Prävalenz von Übergewicht
       und Adipositas in einigen Stadtgebieten Leipzigs deutlich erhöht. In
       Lausen-Grünau liegt der Anteil der von Übergewicht betroffenen Menschen bei
       73 Prozent. Hier sind sogar bereits Vorschulkinder betroffen. Genau aus
       diesem Grund hat sich „Grünau bewegt sich“, ein Projekt für kommunale
       Kindergesundheitsförderung und Adipositasprävention, gebildet.
       
       „Neben der genetischen Veranlagung gibt es eine Reihe weiterer
       Einflussfaktoren auf individueller, sozialer und umweltbezogener Ebene für
       das Entstehen von Adipositas, die durch strukturelle Benachteiligung
       begünstigt werden“, erklärt Ulrike Igel, die „Grünau bewegt sich“
       wissenschaftlich betreut. Aus diesen Gründen soll das im Januar 2015
       gestartete Projekt über einen Zeitraum von fünf Jahren vor allem
       Chancengleichheit für Kinder des Stadtteils kreieren und
       gesundheitsfördernde Strukturen aufbauen.
       
       Martina Lück ist für den praktischen Teil des Projekts zuständig. Sie ist
       das „offene Ohr“ vor Ort. Am Grünauer Projektladen „Bewegungsmelder“ in der
       Ortsteilmitte von Lausen-Grünau trifft sie sich jeden Mittwoch mit den Kids
       zum Spielen, Toben und Werken. Einzelaktionen wie Paletten-Möbel bauen oder
       Sprühkreide-Aktionen in der Fußgängerzone sind Highlights, sowohl für die
       Kleinen als auch für die große Teilnehmerin. Dabei erfährt sie, was die
       Kinder bewegt und wovon sie sich bewegen lassen.
       
       ## Nächster Halt: Sportvereine!
       
       Doch auch die Praktikerin weiß: Die Aktionen sind nur ein Tropfen auf den
       heißen Stein. Auch in Grünau sind nicht die nötigen Rahmenbedingungen für
       eine nachhaltige Arbeit vorhanden. Vor allem mangele es wie so oft an
       qualifiziertem Personal.
       
       Für die kommenden zwei Jahre hat das Team aber eine klare Vision: „Wir
       müssen an die Sportvereine ran! Wir wollen Vereine in ihrer Handlungs- und
       Aufnahmefähigkeit unterstützen. Und die dritte Schulsportstunde muss
       kommen!“ Außerdem hofft Lück auf eine Verlängerung des Projekts: „Dann
       können wir unsere entwickelten Handlungs- und Lösungsstrategien im
       Quartier etablieren, davon sind wir aktuell noch recht weit entfernt.“
       
       Zehn Kilometer westlich geht Lothar Schefflers Projekt auf jeden Fall in
       die Verlängerung. Er tippt gerade die nächste Whatsapp Nachricht an
       „Leipzig moppelt“: „War gerade mit Birgit unterwegs. Haben zwei Runden im
       Park geschafft. Nächste Woche kommt ihr auch mit!“
       
       4 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/uebergewicht-der-body-mass-index-bmi-ist-umstritten-a-1001276.html
   DIR [2] https://www.leipzig.de/news/news/aktiv-bleiben-trotz-adipositas-bei-leipzig-moppelt/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Müller
   DIR Franziska Wülle
       
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