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       # taz.de -- Debatte Stadtflucht von Charlotte Roche: Rehe stinken
       
       > Klar, wir brauchen den Rückzug als Ausgleich. Doch Menschen, die was
       > verändern wollen, ziehen in die Stadt, den idealen Ort zum Handeln.
       
   IMG Bild: Rehe haben einen Popo und machen Kaka. Wirklich!
       
       Auf dem Land werden wir gesund. Die Stadt ist schmutzig, sie macht krank
       und entfremdet uns von uns selbst. Das ist kein neuer Gedanke. Wir nannten
       das früher: Zurück zur Natur. Neu erzählt hat ihn Charlotte Roche in ihrem
       vieldiskutierten Text [1][„Verlasst die Städte“] im Magazin der
       Süddeutschen Zeitung. Ihr Artikel ist schön geschrieben und scheint vielen
       aus dem Herzen zu sprechen, zumindest wurde er sehr oft geteilt.
       
       An der schönsten Stelle erklärt Roche, dass man auf dem Land in der Nacht
       endlich die Sterne leuchten sehe. Und die fehlten uns in der Stadt, „denn
       wir denken: Wir sind der Sternenhimmel, wir leuchten mehr als die Sterne.“
       Dass diese Ruhe und das Kleinerwerden der eigenen Probleme guttut, liegt
       auf der Hand. „Narren hasten, Kluge warten, Weise gehen in den Garten“
       lautet ein altes Sprichwort. Dennoch ist der Ratschlag, das Glück auf dem
       Land zu suchen, nicht weise. Weise gehen in die Stadt.
       
       Erstens: Das Landleben wird idealisiert. Der US-Komiker Louis CK
       veranschaulicht das am Beispiel von Rehen. Als er noch Städter war, sei er
       beim Anblick eines Rehs ehrfürchtig stehengeblieben, erzählt er. Inzwischen
       wohnt er auf dem Land – und hasst Rehe. Sie stinken, sie kacken überall
       hin, sie brüllen blöde herum. So ist das eben.
       
       Vielleicht ist Charlotte Roche eine Ausnahme, aber den Frieden des
       Landlebens spüren die meisten nur im Kontrast zur Großstadt. Vielleicht
       wird sie diese Erfahrung aber auch noch machen, denn aufs Land ist sie wohl
       erst vor Kurzem geflohen. Wenn außerdem das Landleben geistig so gesund
       machen würde – warum werden AfD, Le Pen und Trump so oft von Menschen aus
       ländlichen Gegenden gewählt? Auch die NSDAP hatte auf dem Land starken
       Rückhalt. Das soll nicht die Menschen vom Land pauschal schlechtreden, aber
       große Weisheit scheint dem Landleben nicht automatisch zu entspringen.
       
       ## Öffentliches Handeln hilft gegen unsere Leiden
       
       Wahrscheinlich versteht Roche nur nicht, wie privilegiert sie ist. Als
       bekannte Autorin bekommt sie nämlich in Riesenportionen eingeschenkt, was
       andere nicht haben, wonach sie aber hungern – und was sie in den Städten
       suchen: Handeln in der Öffentlichkeit. Das sagt Hannah Arendt.
       
       Öffentliches Handeln ist das Gegenmittel zu unserem Leiden. Dieses Leiden
       besteht nämlich nicht hauptsächlich aus zu wenig Sternenhimmel, sondern
       entspringt dem Gefühl von „Entweltlichung“. Wir spüren die Welt nicht, wenn
       wir nur Rädchen im Getriebe sind, uns nur am angeblichen Lauf der Sterne
       orientieren. Wir spüren sie, indem wir gemeinsam die Dinge in die Hand
       nehmen. Wir erleben Freiheit, wenn wir zusammen die Getriebe anhalten oder
       neue in Gang setzen. Das macht glücklich. Nicht der Rückzug ins Private,
       also das gemütliche Pilzesammeln im Wald, der Blick in den Sternenhimmel
       von der Terrasse aus, um danach mit der Familie Netflix zu schauen.
       
       Hannah Arendt meint vor allem politisches Handeln und miteinander sprechen.
       Aber auch, wie wir feiern und uns kleiden und sonst wie leben, kann
       öffentliches Handeln sein. Das zeigt die Demonstration der Berliner
       Kulturszene gegen die AfD [2][am gestrigen Sonntag] in Berlin. Unter
       anderem nahmen 70 Berliner Clubs teil. Sie wehren sich dagegen, dass die
       Rechte das macht, was sie so gerne macht: anderen vorschreiben, wie sie zu
       leben und zu feiern haben.
       
       ## Der ideale Ort für öffentliches Handeln ist die Stadt
       
       Wer das Glück nur in der Ruhe sucht, im Privaten, fern von Autolärm und vom
       „Sternenlicht“ anderer Menschen, tut sich damit nichts Gutes. Das Private
       allein ist klein und leer. Es stimmt: Wir brauchen den Rückzug als
       Ausgleich. Abseits dessen ist die Stadt der Ort, in den Leute ziehen, die
       etwas verändern wollen.
       
       Sie erfinden neue Tanzstile oder setzen goldglitzernde Baseballcaps auf. In
       der Stadt finden wir Männer, die sich die Augen und Lippen schminken. Hier
       trugen die ersten Frauen Hosen und kurze Haare. Hier greifen wir ein, hier
       wurden die großen Arbeitskämpfe ausgefochten, hier blockieren wir die AfD.
       Hier sehen wir faszinierenden neuen Denkerinnen beim Denken zu oder
       streiten darum, ob die Stadt der Zukunft mit oder ohne Autos zu sein hat
       (selbstverständlich Letzteres!).
       
       Wir leben in einer aufregenden, politisierten Zeit. Hier und heute ist
       Zuschauen die schlechteste Option. In den nächsten Jahrzehnten wird viel
       machbar sein. Es ist die Zeit der Stadt. Öffentlichkeit ist das Buch, in
       das wir unsere gemeinsamen Geschichten schreiben. Zwar gibt es auch in der
       Stadt den Rückzug ins Private, und auch auf dem Land gibt es
       Öffentlichkeit. Aber der ideale Ort für öffentliches Handeln ist die Stadt.
       
       Die Möglichkeiten dazu werden uns derzeit zunehmend wegverwertet. Markt-
       und Geldideologen machen die urbane Öffentlichkeit kaputt, indem sie
       Freiräume zerstören. Orte, die nicht nur an Profit ausgerichtet sind;
       kleine Ausstellungen, Vereine, Kneipen, Klubs, Nachbarschaftstreffs. Übrig
       bleibt nur, was sich finanziell lohnt. In den Städten bleiben außerdem nur
       noch diejenigen, die gut verdienen und dafür so viel von sich investieren
       müssen, dass ihnen in der Regel keine Kraft mehr bleibt, sich zu engagieren
       oder neue Tanzstile auszuprobieren.
       
       Aber noch haben wir nicht verloren. Gegen Entweltlichung hilft es,
       zusammenzuhalten und einzugreifen. Das wäre Hannah Arendts weiser
       Ratschlag: Zieht euch nicht noch mehr zurück, sondern greift ein. Das
       hilft. Da kommt Leben in die Bude. Die Stadt ist ein riesiger, von Menschen
       und Persönlichkeiten wimmelnder Marktplatz. Das ist zwar anstrengend, aber
       schön.
       
       Es stimmt: In der Stadt sind die Lichter am Himmel weniger sichtbar. Dafür
       kann hier das Licht der Menschen aufleuchten. Geht aufs Land, wenn ihr
       gestresst seid. Bleibt dort, wenn ihr euch nicht mehr einmischen wollt,
       wenn ihr dringend Ruhe braucht. Aber erzählt nicht, dass dort alles besser
       sei. Sonst geht es euch wie vielen anderen, die zerknirscht zurückgekrochen
       kamen. Und dann schämt ihr euch.
       
       28 May 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://sz-magazin.sueddeutsche.de/charlotte-roche-jetzt-koennte-es-kurz-wehtun/verlasst-die-staedte-85686
   DIR [2] /AfD-Demo-und-Gegenprotest-in-Berlin/!5508456/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Houssam Hamade
       
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