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       # taz.de -- Georgische Aktivisten über Drogenpolitik: „Wir haben Aktivismus sexy gemacht“
       
       > Das White Noise Movement, eine georgische NGO, will mit Demo-Raves eine
       > liberale Drogenpolitik durchsetzen. Dahinter steht ein Konflikt, der das
       > Land spaltet.
       
   IMG Bild: Das White Noise Movement will die Entkriminalisierung des Besitzes kleiner Mengen von Drogen erreichen: Protest in Tiflis nach Protesten
       
       taz: Nach den gewaltsamen Razzien in den Clubs Bassiani und Café Gallery
       Anfang Mai kam es vor dem Parlament in Tiflis zu einer Demonstration in
       Form eines Raves mit 10.000 Beteiligten. Herr Tsiqarishvili, Herr
       Sabelashvili, mittlerweile sitzen Sie mit Vertretern des georgischen
       Innenministeriums am Verhandlungstisch. Welche Forderungen stellen Sie? 
       
       Beqa Tsiqarishvili: Einerseits wollen wir Antworten von der Regierung
       darüber, was während der Razzien passiert ist. Warum Gewalt angewandt wurde
       und wer dafür verantwortlich ist …
       
       … Bei den Razzien wurden 60 Menschen inhaftiert, dabei wurden sowohl
       Clubbesucher als auch Journalisten verletzt … 
       
       … Andererseits sehen wir in den Gesprächen eine Möglichkeit die
       Verhandlungen bezüglich der restriktiven Drogengesetzgebung wieder in
       Gang zu bringen.
       
       Wie sollte die Drogengesetzgebung Ihrer Meinung nach aussehen? 
       
       Paata Sabelashvili: Wir streben das portugiesische Modell an. Das bedeutet,
       das Geld, das bisher in die Strafverfolgung von Drogendelikten investiert
       wird, stattdessen in Entzugshilfe und Aufklärung zu stecken. Weiter wollen
       wir die Entkriminalisierung des Konsums und vom Besitz kleiner Mengen
       erreichen. Momentan bekommt man in Georgien für den Besitz jeder Droge
       unter einem Gramm eine Haftstrafe von fünf bis acht Jahren – also auch für
       Gras oder Partydrogen im Eigenbedarf. Über ein Gramm bedeutet bis zu 20
       Jahren Haft. Dazu kommt, dass für 147 Substanzen keine Definition von einer
       kleinen Menge existiert. Abgesehen davon, dass es jedem selbst überlassen
       sein sollte, womit er sich vergiftet, löst diese Gesetzgebung das
       Drogenproblem nicht, sie versteckt es nur in unseren Gefängnissen.
       
       Ein liberalerer Gesetzesentwurf liegt dem Parlament schon seit Ende letzten
       Jahres zur Abstimmung vor, woran scheiterte der Beschluss bis jetzt? 
       
       Sabelashvili: Eigentlich sind alle Parteien einverstanden, doch die
       Inkraftsetzung wird immer wieder verschoben. Ich denke, es liegt vor allem
       an der Polizei, da ihr Budget stark davon abhängt, wie viele Menschen sie
       festnehmen können. Momentan sitzt ein Drittel aller Inhaftierten in
       Zusammenhang mit Drogendelikten im Gefängnis.
       
       Tsiqarishvili: Drogen werden auch oft als Vorwand genommen, um jemanden,
       der einem politisch oder wirtschaftlich unliebsam ist, aus dem Weg zu
       schaffen. Diese Machtmittel wollen sich die Behörden nicht nehmen lassen.
       Menschen, die Drogen konsumieren, werden in Georgien total stigmatisiert.
       Sie können bestimmte Berufe nicht mehr ausüben und werden aus der
       Gesellschaft ausgeschlossen. Das Bild des „guten Polizisten“ und des „bösen
       Drogenabhängigen“ in der Gesellschaft zu unseren Gunsten zu ändern, ist
       eine der schwierigsten Aufgaben für uns.
       
       Herr Tsiqarishvili, Sie haben die strenge Gesetzeslage schon am eigenen
       Leib zu spüren bekommen. 
       
       Tsiqarishvili: Ja, das war 2012. Die Polizei hat meine Hanfpflanzen
       gefunden und damit hat sich mein ganzes Leben verändert. Ich wurde 18 Tage
       lang während der Untersuchungshaft mit 50 anderen in eine Zelle gesteckt.
       48 von ihnen waren Abhängige der Droge Krokodil, einem billigen
       Heroinersatz. Da wurde mir bewusst, dass wir ein Problem im System haben.
       Diese Menschen gehören nicht ins Gefängnis, sie hatten nicht einmal die
       2.000 GEL (circa 700 Euro, Anm. der Redaktion). um ihre Kaution zu
       hinterlegen. Man muss wirklich arm sein, wenn man nicht einmal Geld hat, um
       für seine eigene Freiheit zu bezahlen.
       
       Sabelashvili: Beqas Fall war ausschlaggebend. Denn er hat in der
       Verhandlung auf nicht schuldig plädiert und ist mit seiner Klage bis vor
       das Verfassungsgericht gezogen. Als er im Oktober 2015 wider aller
       Erwartungen gewann, hat er damit nicht nur seine Freiheit erkämpft, sondern
       einen Präzedenzfall für alle geschaffen. Und schlussendlich auch den Anstoß
       für die Bewegung gegeben, die wir heute sind.
       
       Aus dem Protestaufruf „Beqa is not a criminal“ wurde das „White Noise
       Movement“. Wie haben Sie es geschafft, so viele Menschen für Ihre Sache zu
       gewinnen? 
       
       Sabelashvili: Ich hatte schon während Beqas Fall die Idee, Versammlungen in
       den Clubs abzuhalten. In Räumen, in denen sich die Menschen wohlfühlen. Wir
       wollten die Energie der Tanzfläche in den Kampf gegen die herrschenden
       Gesetze transformieren. Das haben wir geschafft. Zum Beispiel, indem wir
       auf den Stempel beim Clubeinlass anstelle des Clubnamens „Vor dem Parlament
       19 Uhr“ geschrieben haben, um so die nächste Demonstration anzukündigen. So
       haben sich die Besucher auch noch am nächsten Morgen daran erinnert.
       Manchmal haben wir auch im Club einen Countdown bis zur nächsten
       Demonstration an die Wand projiziert.
       
       Was für Leute kommen in die Clubs? 
       
       Sabelashvili: Junge, alte, reiche und arme. Die Privilegien werden an der
       Tür abgegeben, das ist das Konzept des Clubs.
       
       Tsiqarishvili: Teilweise kommen Leute, mit denen man nie rechnen würde. Wir
       hatten schon Leute aus dem Kloster im Bassiani. Die bunte Mischung führt
       manchmal auch zu Problemen. Manchen aus der Community ist die teilweise
       aggressive Art von anderen Besuchern nicht recht. Doch anstatt sie
       auszuschließen, wollen wir ihnen lieber zeigen, wie wir hier miteinander
       umgehen. Wir wollen eine inklusive Plattform für alle Menschen sein.
       
       Hat der Aktivismus die Clubkultur verändert? 
       
       Sabelashvili: Der Clubbesuch ist zum politischen Statement geworden. Alles
       Leid der Armut, der Ungerechtigkeit, der Menschen im Gefängnis wird auf der
       Tanzfläche in positive Energie umgewandelt. Es ist wie ein
       Reinigungsprozess. Das wirkt sich am Ende sogar auf die Musik aus. Wenn ich
       den gleichen DJ in London oder Berlin höre, ist das Erlebnis nicht
       dasselbe. Die Energie der Menschen hier beeinflusst den DJ und am Ende auch
       seine Musik. Die Clubkultur hier hat nichts mit dem oberflächlichen
       Hedonismus zu tun, den man sonst bei Partys vorfindet. Bei uns bedeutet
       Club immer auch gleichzeitig politische Diskussion, Austausch und soziales
       Netzwerken.
       
       Tsiqarishvili: Wenn wir im Club ankommen, brauchen wir drei Stunden, um
       auf die Tanzfläche zu kommen, weil wir zuerst mit tausend Menschen darüber
       sprechen, was als Nächstes getan werden muss. Es ist eine perfekte
       Kombination: Der Aktivismus bekommt mehr Zulauf, weil er mehr Spaß macht,
       und das Cluberlebnis wird intensiver, weil ein höheres Ziel verfolgt wird.
       
       Sabelashvili: Wir haben Aktivismus sexy gemacht. Wenn es darum geht, sich
       als Club sozial zu engagieren und für Gleichberechtigung zu kämpfen, sind
       wir international führend.
       
       Wie engagiert ihr euch außerhalb der Clubs? 
       
       Sabelashvili:Wir versuchen beispielsweise Urintests zu verhindern. Denn
       ohne einen Test haben sie keine Beweise. Ein junger Freund von uns, gerade
       mal 17, wurde beim Kauf von Drogen im Internet erwischt. Die Polizei
       wollte, dass er einen Urintest macht und hatte seine Mutter fast überzeugt.
       Sie erzählten ihr, dass sie ihn nur abschrecken wollen, damit er keine
       Drogen mehr nimmt und dass das keine Auswirkungen auf seinen Fall habe.
       Doch damit wäre seine Anklage erst real geworden. Aber wir blieben sechs
       Stunden mit ihm auf dem Präsidium und konnten das verhindern. Sie ließen
       uns nicht mal im Korridor warten, obwohl es eiskalt draußen war. Also
       öffneten wir alle Türen unseres Autos, spielten laute Musik und tanzten
       dazu, um nicht zu erfrieren. Die Polizisten waren total überfordert mit der
       Situation und ließen uns schließlich gehen.
       
       Tsiqarishvili: So machen wir das seitdem immer. Jetzt sind sie schon
       genervt, wenn sie uns kommen sehen. White Noise steht für das Rauschen
       eines Fernsehers, der auf Stand-by geschaltet ist. Man kann es nicht sehen,
       aber es ist überall und geht einem tierisch auf die Nerven. Genau das
       Gleiche wollen wir auch erreichen.
       
       Nach der Demonstration vor dem Parlament gab es heftige
       Gegendemonstrationen von rechtsradikalen Gruppen. Manche Demonstranten
       zeigten den Hitlergruß. Wie gehen Sie damit um? 
       
       Tsiqarishvili: Das macht uns momentan am meisten Sorgen. Wir wollen die
       Gesellschaft näher zusammenbringen, doch letzte Woche haben wir gesehen,
       dass wir sie auch spalten. Die Medien schreiben über uns, dass wir die
       protestierenden Drogendealer seien, und auch in unseren Reihen gibt es
       Leute, die die Gegendemonstranten als hinterwäldlerisch und dumm
       bezeichnen. Die Gesellschaft ist zwischen einer prorussischen und eine
       proeuropäischen Denkweise gespalten. Diese zwei Weltsichten kollidieren
       oft. Doch wenn das in einem kleinen Land wie Georgien passiert, schwächt
       das die Gesellschaft. Deswegen müssen wir außerhalb dieser Grenzen und über
       sie hinaus denken. Das ist unser Ziel.
       
       28 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
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