URI: 
       # taz.de -- Essay zu Nation, Werten und Grundgesetz: Generation Weltbürger
       
       > Vor Kurzem ist Yannick Haan Deutscher geworden. Das Konzept Nation
       > bedeutet ihm dabei weniger als das Grundgesetz. Warum, schreibt er hier.
       
   IMG Bild: Es gibt so viel besseres was uns verbindet, als die Nation
       
       Herzlichen Glückwunsch, Herr Haan, Sie sind jetzt Deutscher!“, ruft mir
       eine sichtlich erfreute Sachbearbeiterin im Kreuzberger Rathaus entgegen
       und überreicht mir eine Mappe mit dem Berliner Bären drauf. Hinter mir
       liegt ein etwa einjähriger Prozess, ein mit Bestnote bestandener
       Integrationstest, bei dem ich unter anderem per Multiple-Choice-Verfahren
       gefragt wurde, wofür die Abkürzung „SPD“ steht – und vor allem unzählige
       ausgefüllte Formulare über mein bisheriges Leben.
       
       Als ich das Kreuzberger Rathaus wieder verlasse und auf mein Fahrrad
       steige, fühlt es sich komisch an. Auf der einen Seite hatte ich nie einen
       Bezug zum Thema Nationalität. [1][Die Nation] war für mich nie mehr als
       eine Information, die man in Formularen angeben muss. Nie mehr als ein
       Begriff in meinem Pass. Bei unwichtigen Formularen habe ich zum Trotz oft
       einfach „Europäer“ ausgefüllt. Ich wollte meinem wahren Gefühl Ausdruck
       verleihen. Und doch hat sich etwas in mir verändert. Ich bin jetzt
       Deutscher.
       
       Ich bin in Luxemburg aufgewachsen und mit 19 Jahren zum Studieren nach
       Deutschland gekommen. Wie so viele bin ich dann in Berlin hängen geblieben.
       Mein Entschluss, nach zehn Jahren Deutscher zu werden, war kein
       emotionaler. Es gab nicht den Wunsch tief in mir, endlich dazuzugehören.
       Ich wollte vor allem endlich das Wahlrecht in Deutschland erhalten. Für
       mich war es immer sehr frustrierend, nach unzähligen Wahlkampfständen und
       verteilten Flyern den anderen beim Wählen zuschauen zu müssen.
       
       Mit meiner ambivalenten Haltung gegenüber der eigenen Nationalität bin ich
       nicht allein. Der akademische und urbane Teil meiner Generation hat den
       Bezug zur Größe [2][„Nation“] längst verloren. Ich stamme aus einem kleinen
       Land, in dem mittlerweile 50 Prozent der Bevölkerung einen
       Migrationshintergrund besitzen. In meiner Schulkasse hatten fast alle
       unterschiedliche Muttersprachen. Die Vielfalt des Internets führt
       zusätzlich dazu, dass meine Generation kaum noch über kollektive Erlebnisse
       verfügt. Während meine Eltern samstagabends vor „Wetten, dass ..?“ saßen,
       schaue ich heute, wo und wann ich will, eine der tausend auf [3][Netflix]
       angebotenen Serien. Die persönlichen Identitäten meiner Generation sind
       daher komplexer als je zuvor.
       
       ## Warum diese Renaissance?
       
       Wenn ich mich unter meinen Freunden in Berlin umhöre, dann würde niemand
       sagen, dass er sich als Deutscher fühlt. Ich bin im Jahr 1986 geboren. Ich
       kann mich nicht mehr daran erinnern, jemals an einer innereuropäischen
       Grenze kontrolliert worden zu sein oder noch mit der Deutschen Mark bezahlt
       zu haben. Während ich mit 30 schon jeden Kontinent der Erde bereist hatte,
       haben meine Eltern Europa nie verlassen. Meine „Generation Easyjet“ ist
       wohl die erste, die das Gefühl des Weltbürgers hat. Ein lang gehegter
       Wunsch liberaler Soziologen scheint sich zu erfüllen. Zumal wir als
       Generation, obwohl uns alle Erfahrungen mit der Nation fehlen, noch einen
       starken Bezug zu den negativen Folgen des Nationalismus der Vergangenheit
       haben. Doch warum erlebt dann die Nation als Bezugsgröße bei so vielen
       Menschen eine solche Renaissance?
       
       Bis in die 1950er und 60er Jahre wurde Identität zu großen Teilen von dem
       Land geprägt, in dem der oder die Einzelne lebt. Die Nation verband den
       Einzelnen mit dem Kollektiv, als symbolisch aufgeladene Einheit. So gut die
       Nation als Identität für viele auch funktioniert haben mag, so exklusiv und
       ausgrenzend war sie. Wer nicht die richtige Hautfarbe besaß oder im
       falschen Land geboren war, der gehörte nicht dazu – und hatte auch kaum die
       Möglichkeit, sich aus eigener Kraft eine Zugehörigkeit zu erarbeiten. Ab
       Mitte des 20. Jahrhunderts lösten dann die Großorganisationen, wie die
       Volksparteien, die Kirchen oder die Gewerkschaften die Nation als
       identitätsstiftendes Merkmal ab. Man ging als Individuum in die SPD und kam
       als Genosse wieder hervor.
       
       An Weihnachten saß ich mit der Familie meiner Stiefmutter zusammen. Als es
       zu einer politischen Diskussion am Tisch kam, sagte der Vater meiner
       Stiefmutter dann auf einmal: „Durch meinen Körper fließt schwarzes Blut.“
       Er meinte damit, dass er immer bei der CDU Mitglied war und es auch immer
       bleiben würde. In den 60er Jahren war die Entscheidung für eine Partei oft
       eine Schicksalsfrage fürs Leben. In den Volksparteien gilt es bis heute
       noch als Auszeichnung, wenn man möglichst lange dabei ist. Noch immer gibt
       es bei SPD-Veranstaltungen diese merkwürdige Tradition, zu sagen, wie viele
       Jahre man bereits Mitglied der Partei ist. „Ich bin schon unter Willy
       Brandt eingetreten“, schallt es mir dann regelmäßig stolz entgegen. Vor
       allem ältere Genossen sind stolz auf diese Nadel, die ich als
       Ortsvereinsvorsitzender ihnen kurz vorher meist recht ungeschickt an der
       Kleidung anbringen musste.
       
       Doch für viele in meiner Generation sind Parteien nur noch
       Lebensabschnittsgefährten. Leider haben das nur die Parteien selber noch
       nicht verstanden. Die Strukturen, in denen ich tagtäglich politisch
       arbeiten muss, sind nicht auf ein situatives, sondern auf ein jahrelanges
       Engagement angelegt. Die Parteien verharren im Zeitalter der
       Großorganisationen und verlieren damit zunehmend die Jungen für die
       politische Arbeit. Das Durchschnittsalter der SPD-Mitglieder (mittlerweile
       stolze 59 Jahre) spricht für sich.
       
       ## „I am what I am“
       
       Doch die Zeit von Partei-Kirche-Gewerkschaft ist vorbei, heute zählen
       andere identitätsstiftende Merkmale. In einer pluralisierten Gesellschaft
       besitzen viele Deutsche einen Migrationshintergrund. Die Bewegung für
       Gleichberechtigung und für die Rechte von Homosexuellen hat dazu geführt,
       dass auch die Themen Geschlecht und Sexualität neu zu unserer Identität
       hinzugekommen sind. Als homosexueller Mann bin ich dankbar, dass die
       Generation vor mir dafür gekämpft hat, dass ich meine Identität halbwegs
       frei ausleben kann, dass ich im Sommer auf dem CSD den Smash-Hit „I am what
       I am“ von Diana Ross aus voller Kehle mitsingen kann.
       
       So glücklich ich selbst über diese neue pluralisierte Gesellschaft bin: Ein
       Teil der Gesellschaft scheint durch diese Pluralität verunsichert. Viele
       Menschen mussten in den letzten 20 Jahren ihre gesellschaftliche
       Vormachtstellung aufgeben. Die immer wiederkehrende Debatte über die
       Leitkultur, wie zuletzt von Thomas de Maizière angezettelt, ist dabei der
       so durchschaubare wie auch zum Scheitern verurteilte Versuch, die nationale
       wieder als die dominierende Kultur zu etablieren.
       
       Die Mehrheitsgesellschaft durchlebt heute Minderheitenerfahrungen. Bis vor
       20 Jahren war sie weiß, männlich und heterosexuell. Dann kam Klaus Wowereit
       und öffnete die Tür für Homosexuelle. Angela Merkel zeigte, dass auch eine
       Frau Kanzlerin werden kann. Und seit Barack Obama können auch Menschen mit
       dunkler Hautfarbe das höchste politische Amt einer globalen Supermacht
       bekleiden.
       
       Weiße, heterosexuelle Männer fühlen sich in vielen Fällen als Verlierer der
       letzten Jahrzehnte. Wo ich heute die Vorzüge einer freien und
       pluralisierten Gesellschaft ausleben kann, da gibt es einen anderen Teil
       der Gesellschaft, dem die eigene Identität entzogen wurde. Meine Befreiung
       ist eine Bedrohung für andere. Daher will ein beträchtlicher Teil der
       Gesellschaft zu der Erzählung der Nation zurückkehren. Zurück zu einer
       neuen ausgrenzenden Erzählung, die einem großen Teil der neuen Gesellschaft
       die Zugehörigkeit zur Nation erneut abspricht. Nichts anderes will die AfD.
       
       ## Bitte kein plumper linker Nationalismus
       
       Was folgt politisch aus diesen Entwicklungen? Die linken Parteien müssen
       den Begriff der Nation wieder neu besetzen. Die Lösung ist aber nicht der
       plumpe linke Nationalismus, wie ihn Sahra Wagenknecht anbietet. Ich will
       auch nicht, dass die Nation wieder zum zentralen Bezugspunkt wird bei der
       Frage, wem der Sozialstaat hilft und wem nicht, so wie es Sigmar Gabriel
       vorschlägt. Wie aber könnte eine wirklich linke Alternative zum
       Nationalismus aussehen?
       
       Vielleicht wie der sogenannte inklusive Patriotismus, den der Politologe
       Yascha Mounk vorschlägt. Gemeint ist ein Patriotismus, dessen Kraft sich
       aus der gesellschaftlichen Vielfalt speist. Er versteht sich als Kollektiv
       aus diversen, gleichberechtigten Individuen, zusammengeschweißt durch
       gemeinsame Prinzipien und gegenseitige Verpflichtungen. Ein inklusiver
       Patriotismus baut auf einer multiethnischen Nation auf und verbindet uns
       über die Ethnie und die Herkunft hinweg. Als Gesellschaft definieren wir
       uns nicht mehr über unsere Herkunft, sondern über unsere Werte. Damit
       könnten wir uns auch gleich das Geld für dieses sinnentleerte neue
       Heimatministerium sparen. Neue Patrioten bekennen sich eben nicht zur
       Nation, sondern zu den demokratischen Grundwerten, und sie verteidigen die
       Menschenrechte. Die große Welle der Flüchtlingshilfe war, so betrachtet,
       ein großer patriotischer Akt. Dieser neue Patriotismus würde die Rechte
       aller Individuen schützen, egal woher diese stammen. Er wäre eine klare
       Opposition zum Rechtspopulismus und würde den verlorenen Linken wieder die
       Möglichkeit einer neuen persönlichen Heimat und Identität bieten.
       
       Den deutschen Pass besitze ich jetzt schon seit mehr als einem Jahr.
       Trotzdem habe ich heute noch Probleme damit, zu sagen, dass ich Deutscher
       bin. Immer noch fehlt mir der Bezug zur Größe „Nation“. Doch ich habe gar
       kein Problem damit, zu sagen, dass ich stolz bin, die Werte zu teilen, die
       die deutsche Gesellschaft in den letzten 50 Jahren geprägt haben.
       
       Aktuell diskutieren viele Bundesländer über neue Feiertage. Warum machen
       wir nicht den Tag [4][des Grundgesetzes] zum neuen bundesweiten Feiertag?
       Es wäre der Anfang eines neuen, inklusiven Patriotismus, der Anfang einer
       neuen, gemeinsamen Identität für uns alle.
       
       27 May 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Essay-zu-Nation-und-Zukunft/!5503492
   DIR [2] /Kommentar-Fussball-Patriotismus/!5502023
   DIR [3] /Netflix-Verbot-in-Cannes/!5494265
   DIR [4] /Gruenen-Politikerin-Aras-ueber-Heimat/!5503484
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yannick Haan
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Grundgesetz
   DIR Demokratie
   DIR Aufklärung
   DIR Freiheit
   DIR Deutschland
   DIR Patriotismus
   DIR Lesestück Meinung und Analyse
   DIR Lesestück Meinung und Analyse
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Herfried Münkler
   DIR Heimat
   DIR Fremde
   DIR Frauen-WM 2019 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Debatte Heimat: Entdeutschung heißt Entblödung
       
       Derzeit wird zu viel Rücksicht auf rechte Wirrköpfe genommen. Buddeln wir
       am Ende den Führerbunker aus, nur um die Besorgten zu beruhigen?
       
   DIR Debatte Rhetorik der Rechten: Brabbelbrabbel HeimatNation brabbel
       
       Provozieren, relativieren, immer wieder die gleichen Begriffe platzieren:
       Der rechtsextreme Sprech ist als Grundrauschen in den Alltag eingesickert.
       
   DIR 400 Jahre Prager Fenstersturz: Die Erfindung der Vergangenheit
       
       Die Gewaltorgie des Dreißigjährigen Krieges begann vor 400 Jahren. Hat das
       2018 noch etwas mit uns zu tun? Ein Museumsbesuch mit Herfried Münkler.
       
   DIR Grünen-Politikerin Aras über Heimat: „Das Grundgesetz erwärmt das Herz“
       
       Grünen-Politikerin Muhterem Aras will den Heimatbegriff nicht den Rechten
       überlassen – und spricht über Seehofers Ministerium und Halt.
       
   DIR Essay zu Nation und Zukunft: In Globalitätsgewittern
       
       Nationen sind mediengeborene Kollektive, also nichts als Mythos. Was es
       braucht, ist eine Neuerfindung des Fremden und des Eigenen.
       
   DIR Kommentar Fußball-Patriotismus: Ein Fetzen Euphorie für Einfältige
       
       Bald ist wieder Zeit für entfesselten Patriotismus und Nationalflaggen. Zur
       WM wird die größte Gemeinschaft beschworen, die der Deutsche kennt.